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Unterzeichnung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum

von Jan Philipp Wölbern
Am 2. Mai 1992 unterzeichneten die 12 Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) einen Vertrag mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) zur Gründung des sogenannten Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR). Der EWR, dem heute Island, Norwegen und Liechtenstein angehören, bildete einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zu einer „immer engeren Union“.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden in Europa zwei große zwischenstaatliche Zusammenschlüsse: Die 1965 zur EG fusionierten Europäischen Gemeinschaften EGKS, EURATOM und EWG sowie die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA). Während die EG von Beginn an eine enge wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in supranationalen Institutionen vorsah, verstand sich die 1960 auf Initiative Großbritanniens gegründete EFTA ausschließlich als handelspolitischer Zusammenschluss und als Gegengewicht zur EG. Rasch zeigte sich, dass sich der wirtschaftliche Abstand zwischen den EG-Staaten einerseits und den EFTA-Staaten andererseits vergrößerte. Je erfolgreicher die EG auf wirtschaftlichem Gebiet war, umso größer wurde ihre Anziehungskraft auf die EFTA-Staaten. Selbst Großbritannien als EFTA-Gründungsstaat stellte bereits 1961 und erneut 1967 Beitrittsanträge, die jedoch am Veto Frankreichs scheiterten; erst 1973 wurden die Briten in die EG aufgenommen.

 


Europäische Freihandelszone (EFTA)

Die Europäische Freihandelszone ist 1960 auf Initiative Großbritanniens gegründet worden. Ihre Zielsetzung war, erstens ein Gegenpol zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu sein und zweitens als Ersatz für die Länder zu dienen, die nicht in die EWG konnten oder wollten. Die Gründungsmitglieder waren Dänemark, Großbritannien, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und die Schweiz. Island und Finnland traten 1970 bzw. 1985 bei. Die EFTA hat ihre wichtigsten Mitglieder verloren, indem diese in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)/ Europäische Gemeinschaften (EG) eingetreten sind. Der Unterschied zwischen der Freihandelszone zur Zollunion der EWG ist, dass erstere zwar die Zölle und Handelsschranken untereinander auch aufhebt, aber kein einheitliches Außenregime gegenüber Drittstaaten einführt. Ferner hat die EFTA auf eine Integration bzw. gemeinsame Agrarpolitik verzichtet.

 

In den 1980er Jahren war die Entwicklung so weit vorangeschritten, dass die EG-Staaten vor der Frage standen, wie sie auf mögliche Aufnahmeanträge der EFTA-Staaten in die EG reagieren würden. Ihrerseits mussten sich die EFTA-Staaten darüber klar werden, ob sie der EG beitreten wollten, wenn damit automatisch eine politische Zusammenarbeit und damit ein Souveränitätsverzicht einherging.

Noch vor dem Umbruch in Ostmitteleuropa unterbreitete der Präsident der Europäischen Kommission, Jaques Delors, den EFTA-Staaten im Frühjahr 1989 vor dem Europäischen Parlament ein Angebot: Statt eines Beitritts zur EG sollten die EFTA- und EG-Staaten einen völkerrechtlichen Vertrag über einen gemeinsamen „Europäischen Wirtschaftsraum (EWR)“ schließen, mit dem die EFTA-Staaten Zugang zum Europäischen Binnenmarkt und seinen vier Grundfreiheiten (freier Personen-, Waren, Kapital- und Dienstleistungsverkehr) erhalten könnten, ohne an dem politischen Integrationsprojekt teilzunehmen. Die Offerte wurde vom Parlament wohlwollend aufgenommen. Auch aus der Sicht der EFTA-Staaten war das Angebot attraktiv: Der EWR versprach denjenigen EFTA-Mitgliedern, die keinen EU-Beitritt planten, Teilhabe an ihrer wirtschaftlichen Prosperität, ohne auf politische Souveränität verzichten zu müssen. Aus der Sicht jener EFTA-Staaten, die langfristig einen EU-Beitritt anstrebten, war der EWR zwar nur eine Vorstufe, doch konnte in den Verhandlungen über den EWR bereits über Fragen verhandelt werden, die bei einem EU-Beitritt ohnehin auf der Agenda stehen würden.

Die Verhandlungen zwischen EG und EFTA-Staaten über den EWR-Vertrag begannen im Juli 1990, anderthalb Jahre nach Delors‘ Initiative und vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund, dass sich die bisher neutralen Staaten Österreich und Finnland nach dem Ende des Kalten Krieges künftig stärker an der EU orientieren wollten, während sich die Osteuropäischen Staaten unterstützt durch das PHARE-Programm („Poland and Hungary: Aid for Restructuring of the Economies“) auf einen EU-Beitritt vorbereiteten. Im Herbst 1991 schließlich lag ein rund 1000-seitiges Vertragswerk vor, das am 2. Mai 1992 im portugiesischen Porto unterzeichnet wurde. Mit dem Vertrag entstand zwischen „Lappland und Sizilien“ ein gemeinsamer Binnenmarkt mit rund 380 Millionen Menschen, über den 1991/92 knapp die Hälfte des Welthandels abgewickelt wurde. Bis heute bilden EU und EWR den größten Handelsraum der Welt.

Der EWR-Vertrag dehnte die vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarktes den freien Personen-, Waren, Kapital- und Dienstleistungsverkehr einschließlich seiner Wettbewerbs- und Beihilferegeln auf die EFTA-Staaten aus. Allerdings war die EU-Agrarpolitik explizit davon ausgenommen. Ferner schrieb der Vertrag in den meisten Bereichen, darunter den vier Grundfreiheiten, im Umweltschutz sowie der Anerkennung von Diplomen und Wettbewerbsregeln, Übergangsfristen von einigen Jahren vor. Auch übernahmen die EFTA-Staaten nicht die Außenzölle der EU, sodass der angestrebte Binnenmarkt in diesem Punkt unvollständig blieb und es sich eher um eine Art „verbesserte Freihandelszone“ handelte. Nachgerade typisch für die Art und Weise der Kompromissfindung in der EU waren einige mühsam ausgehandelte Sondervereinbarungen: So hatte Spanien darauf gedrängt, dass seine Fischer künftig einige tausend Tonnen Fisch vor der Küste Norwegens fangen dürften, im Gegenzug öffnete die EG ihren Markt für Fischereiprodukte aus Norwegen. Als eine Art „Eintrittsgeld“ zum Binnenmarkt erklärten sich die vergleichsweise reichen EFTA-Länder bereit, in einen Fonds für die ärmeren und strukturschwachen südlichen EG-Mitgliedstaaten einzuzahlen. Zudem wurden in einem bilateralen Vertrag mit Österreich und der Schweiz Fragen des EU-Gütertransits durch die Alpenländer geregelt. Die Schweiz verpflichtete sich darin zum Bau des Lötschberg- und des Gotthard-Basistunnels, die 2007 bzw. 2016 eröffnet wurden. Als Gremium, das die Übernahme künftiger EU-Gesetze und Verordnungen durch die EWR-Mitgliedstaaten koordinieren sollte, wurde ein zweimal im Jahr tagender EWR-Ministerrat geschaffen. An der Beschlussfassung der EU-Organe selbst war dieser aber nicht beteiligt.

Der EWR wurde in der Presse teils mit abschätzigen Etikettierungen wie „Europäischer Warteraum“ oder „Totgeburt“ versehen, die Methode des unnachgiebigen Verhandelns selbst um kleinste Details als „Kontroversen um Kabeljau, Kohäsionsfonds und Verkehr“ (Handelsblatt) verspottet. Die Kritik war insofern berechtigt, als dass die Regierungen aller EFTA-Staaten außer Island und Liechtenstein bei Unterzeichnung des EWR-Vertrages bereits einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU gestellt hatten oder dies planten und der EWR-Vertrag damit für sie tatsächlich nur der erste Schritt auf dem Weg in die EU war. Nach entsprechenden Volksabstimmungen traten Schweden, Finnland und Österreich zuerst dem EWR, 1995 schließlich der EU bei. Für die anderen EFTA-Staaten galt dies jedoch nicht: Island und Liechtenstein ratifizierten den EWR-Vertrag wie geplant, stellten jedoch keinen Antrag auf EU-Mitgliedschaft. Die Norweger stimmten zwar für den EWR-Vertrag, der weitergehende Antrag auf EU-Mitgliedschaft fiel wenig später in einem Referendum erneut durch, nachdem die Norweger bereits 1962, 1967 und 1970 dagegen gestimmt hatten. Die Schweizer votierten im Herbst 1992 sogar gegen die Ratifizierung des EWR-Vertrages, womit sich die Frage des EU-Beitritts erübrigte. Durch das Schweizer „Nein“ zum EWR wurden Nachverhandlungen und erneute Abstimmungen notwendig, sodass der EWR-Vertrag schließlich zum 1. Januar 1994 in Kraft treten konnte.

Insgesamt ebnete der EWR-Vertrag den Weg für die EU-Erweiterungsrunden der neunziger Jahre, die Erweiterung um die Osteuropäischen Staaten im folgenden Jahrzehnt sowie den EU-Beitritt Kroatiens im Jahr 2013. Heute besteht der EWR noch aus Island, Norwegen und Liechtenstein. Die historische Bedeutung des Modells „EWR“ liegt darin, eine Möglichkeit aufgezeigt zu haben, zu welchen Bedingungen die Teilnahme am EU-Binnenmarkt ohne Einbindung in die politischen Strukturen möglich ist. Diese Frage ist mit Blick auf die Modalitäten des „Brexit“ wieder von aktueller Bedeutung.

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Essay
Avij-own work/gemeinfrei
29. Dezember 2021
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