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Im Vorfeld des Gedenkens anläßlich des 60. Jahrestages des Sieges über den Nationalsozialismus, zu dem der russische Staatspräsident Putin die Staatsoberhäupter Europas für den 9. Mai nach Moskau eingeladen hat, hat die Moskauer Führung politische und diplomatische Initiativen in Bezug auf die baltischen Länder in Gang gesetzt. Allerdings sind die Absichten und Signale der russischen Führung mehrdeutig und zum Teil widersprüchlich.
Während eines inoffiziellen Gesprächs mit dem estnischen Staatspräsidenten Rüütel Mitte Januar hat Putin die Bereitschaft der russischen Regierung signalisiert, nunmehr den Grenzvertrag zwischen beiden Ländern rechtsgültig unterschreiben zu lassen. Bisher hatte sich Moskau mit dem Hinweis auf vermeidliche Menschenrechtsverletzungen gegenüber der russischen Bevölkerungsteile geweigert, den Grenzvertrag zu unterzeichnen. Dieses Argument wurde sowohl gegenüber Estland als auch gegenüber Lettland immer wieder vorgebracht.
Der Sinneswandel bei der Frage der Grenzverträge zwischen Rußland und den baltischen Staaten Estland und Lettland kommt nicht von ungefähr. Die Europäische Union hat die Unterzeichung dieser Verträge zu einer der Voraussetzungen für weitere Fortschritte in der Frage der Visumsregelungen mit Rußland gemacht. Von der russischen Regierung wird eine visumsfreie Einreise seiner Bürger in die EU angestrebt.
Das Ergebnis des Putin- Rüütel Treffens vom Januar wird von estnischer und russischer Seite sehr unterschiedlich wiedergegeben. Während Rüütel nach dem Gespräch mit der Zusage Putins für eine rasche Unterzeichnung des Vertrages nach Tallin zurückkehrte, wurde dies vom russischen Außenministerium so nicht bestätigt. Vielmehr wurde die Vertragsunterzeichnung an eine Reihe von Vorbedingungen geknüpft und sogar insgesamt in Frage gestellt.
So ist die Moskauer Führung bestrebt, die Grenzverträge mit einer politischen Deklaration zu verbinden, in der ihre Interpretation der Geschichte festgeschrieben werden soll. Diese Interpretation zielt darauf ab, die Eingliederung der baltischen Länder in die Sowjetunion 1940 und dann nach dem Ende der nationalsozialistischen Besetzung 1944 nicht als Okkupation, sondern als freiwilligen Entschluß der damaligen Regierungen zu betrachten. Die russische Führung ist bisher nicht bereit, sich der historischen Verantwortung für begangenes Unrecht gegenüber den baltischen Ländern zu stellen.
Die Diskussion um die Teilnahme der baltischen Staatspräsidenten am 9. Mai in Moskau
Der russische Staatspräsident Putin hat für den 9. Mai zum Gedenken an den 60. Jahrestag des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland auch die drei baltischen Staatsoberhäupter nach Moskau eingeladen. In Estland. Lettland und Litauen wird die Frage, ob die Präsidenten der Einladung Folge leisten sollten, heftig diskutiert. Zunächst war geplant, daß die drei Staatspräsidenten eine abgestimmte Linie finden und gemeinsam antworten. Mittlerweile hat aber die lettische Präsidentin Vike- Freiberga ihre Entscheidung getroffen und die Einladung angenommen. Es sei nicht möglich gewesen, mit den Staatspräsidenten der Nachbarstaaten zu einem gemeinsamen Beschluß zu kommen, so begründete sie ihre Haltung gegenüber Estland und Litauen. Jeder Staat könne seine Entscheidung souverän treffen. Die Zusage zu der Feier in Moskau verband die lettische Staatpräsidentin mit einer Erklärung, in der sie unmißverständlich sowohl das Unrecht des Naziregimes als auch die Okkupation der baltischen Staaten durch die Sowjetunion erwähnt. In ihrer Erklärung heißt es u.a. „Als Präsidentin eines Landes, das lange Zeit besonders unter der sowjetischen Herrschaft gelitten hat, fühle ich mich verpflichtet, die Welt darauf hinzuweisen, daß dieser, die Menschlichkeit am bisher stärksten mißachtende Konflikt (2. Weltkrieg) sich nicht so produziert hätte, wenn die beiden totalitären Systeme, das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion, nicht im Geheimen die Aufteilung der Gebiete in Osteuropa untereinander vereinbart hätten.“
Die Präsidenten von Estland und Litauen haben geäußert, daß sie die Entscheidung der lettischen Präsidentin respektieren, sich selbst aber noch nicht festlegen wollen, ob sie teilnehmen werden oder nicht.
In allen drei Ländern gibt es über die Frage der Beteiligung der baltischen Staatsoberhäupter sehr unterschiedliche Ansichten. Als Hauptargument gegen eine Präsenz der baltischen Staatsoberhäupter wird ins Feld geführt, mit der Feier über den Sieg gegenüber dem Nationalsozialismus und zum Ende des 2. Weltkrieges werde die Geschichte der Okkupation der Baltischen Länder und die Unrechtstaten des Sowjetregimes in den Hintergrund gedrängt. Moskau werde das Ende des Zweiten Weltkrieges als Sieg gegen den Faschismus und Beginn des Friedens in Europa feiern. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Unrecht des Sowjetregimes gegenüber den Baltischen Staaten werde dadurch unmöglich gemacht.
In der Tat gibt es Anzeichen für die These, daß die Moskauer Führung das Datum des 9. Mai nutzen möchte, um dem russischen Volk mit der Erinnerung an den „großen vaterländischen Krieg“ und den Sieg über den Nationalsozialismus wieder stärkeres Selbstbewußtsein zu geben. Dazu paßt, daß Stalin-Denkmäler wieder im Straßenbild zu sehen sind. Eine Auseinandersetzung mit dem Hitler-Stalin Pakt, den Verschleppungen unschuldiger Opfer nach Sibirien und die Einsetzung von Marionettenregierungen in den besetzten Ländern Osteuropas durch Stalin passen nicht in dieses Bild.
Die Befürworter einer Beteiligung der baltischen Staatoberhäupter an den Mai –Gedenktagen geben zu Bedenken, daß eine Teilnahme größere Chancen für eine Einflußnahme bei der Diskussion über die Geschichte und die Zukunft Europas bieten und deswegen die bessere Entscheidung sei. Die lettische Präsidentin hat angekündigt, sie werde sich in Moskau klar zur Okkupationfrage äußern und ihren Einfluß in dieser Hinsicht geltend machen. Sie hat bereits damit begonnen, im Vorfeld des Gedenktages durch Gespräche mit einflußreichen europäischen Politikern auf diese historische Dimension aufmerksam zu machen. Ihre Aktivitäten werden seitens des russischen Außenministeriums scharf kritisiert.
Die Erinnerung an das Ende der Nationalsozialistischen Diktatur am 9. Mai 2005 in Moskau kann zu einem großen Datum für eine gemeinsame Europäische Zukunft werden, wenn die politischen Führer die Kraft aufbringen, sich nicht nur an den Sieg über den Nationalsozialismus zu erinnern sondern sich auch zu den Unrechtstaten und Verbrechen bekennen, die darüber hinaus im vergangen Jahrhundert begangen wurden. Auch Rußland müßte hierzu einen Beitrag leisten. Dies wäre dann auch eine tragfähige Grundlage für die noch immer belasteten baltisch- russischen Beziehungen.