Asset-Herausgeber

Veranstaltungsberichte

Wieviel Heimat verträgt Europa?

von Stephanie von Thunen

V. Fachtagung der Konrad-Adenauer-Stiftung

Heimat und Europa – zwei Begriffe, die nicht unbedingt zusammengehören. Wieviel Heimat vertragen Europa und seine Literatur(en)? Kann eine europäische Literatur auch eine Literatur der Heimat sein? Wie lesen und sehen wir Heimat in Europa? Inwiefern vermitteln Literatur und Film eine europäische Heimat-Idee? Inwiefern kann es in der modernen Welt noch eine Heimat in Europa geben? Über diese Fragen diskutierten vom 4. bis 6. Oktober sechzig Geisteswissenschaftler der Germanistik aus 20 europäischen Ländern, auf der 5. Fachtagung der Reihe „Deutsche Sprache und Literatur in Europa“ in Berlin.

Asset-Herausgeber

Die Fragen setzen ein Verständnis von dem voraus, was ‚Heimat‘ ist und heute, im „Europa der 27“, überhaupt sein kann. Nach dem nationalsozialistischen Missbrauch kam die Beschäftigung mit dem Begriff und Konzept von Heimat zwangsläufig in Ideologieverdacht. Doch ist Heimat, zumal im europäischen Kontext, kein Ort mehr, der sich zuerst über den Ausschluss des Fremden bestimmt. Vielmehr geht es darum, das Fremde ins Eigene zu integrieren und sich ihm gegenüber zu öffnen. Heimatvorstellungen unterliegen aber nicht nur einem stetigen historischen Wandel. Sie müssen sich am Beginn des 21. Jahrhunderts sowohl zu einem politisch und kulturell grenzoffenen Europa als auch zum Globalen, das keine festen Raum hat, verhalten. Die Heimat als territoriales und lokal begrenztes Konzept weitet sich metaphorisch aus und wird für die Literatur- und Mediengeschichte Gesamteuropas relevant. Vieles von dem, was wir heute unter Heimat und Europa verstehen, spiegelte sich in den Vorträgen und Diskussionsbeiträgen der Konferenzteilnehmer wider, die neben der politisch-kulturellen Dimension gerade die literarisch-ästhetische Semantik der Heimat Europa zum Gegenstand hatten.

Wie Prof. Dr. Michael Braun (Leiter des Referats Literatur der KAS) in seiner Einführung deutlich machte, sind das subjektive Gefühl und die Vorstellung von Heimat insbesondere in Deutschland eng verknüpft mit der Erfahrung des Verlusts, mit dem Exil und der Emigration, der Erinnerung und der Sehnsucht. Im freien, mobilen Europa von heute lässt sich eine politische Heimat durch Integration neu erschaffen; Europa ist aber auch ein Erlebnis- und Erzählraum, ein Raum der Imagination, der Menschen und deren Literatur wie auch deren Heimatsprachen miteinander verbindet. Ist es also die Kultur, die neben der Politik Europa zusammenhält? Welche Chancen und Risiken bietet sie für eine Heimat in Europa und ein Europa als Heimat?

Heimat, Sprache, Exil

Wolfgang Braungart (Bielefeld) bezog sich in seinem Impulsreferat auf das lyrische Werk Friedrich Hölderlins und betonte die dichterische Leistung, aus den Beheimatungsversuchen des Subjekts – zwischen dem Bezug auf Konkretes und auf große kulturelle Räume – etwas Neues entstehen zu lassen. Es sei notwendig, nicht nur das politische, sondern gerade auch die kulturelle Dimension der Ausgangsfrage der Tagung zu berücksichtigen. Lebenswelt und Heimat implizierten zwar verschiedene Semantiken von Zugehörigkeit, ihr Fundus aber sei das Ästhetische. Die soziologische Betrachtung von Heimat und Zugehörigkeit in Europa – die später durch den abschließenden Vortrag Joanna Pfaff-Czarneckas (Bielefeld) anschaulich gezeigt wurde – sei zu einseitig und alleinig keineswegs ausreichend. Frank Finlay (Leeds) referierte über die Romane des Schweizers Christian Kracht und konzentrierte sich bei seiner Interpretation auf die Identitätssuche des literarischen Subjekts in der modernen Welt, auf dessen Aneignung und Ablehnung von Heimat. Am Beispiel der Rezensionen zu Krachts umstrittenen Roman „Imperium“ machte Finlay deutlich, dass die humoristische Annäherung an das Thema Heimat sogar als unangemessen wahrgenommen wird und – möglicherweise vorschnell – unter Ideologieverdacht gerät.

Die literaturwissenschaftlichen Vorträge wurden ergänzt durch einen filmischen Beitrag, „Das weiße Band“ von Michael Haneke, einen „Heimatfilm im Modus des Anti-Heimatfilms“ (Braun). In seiner Einführung verstand Oliver Jahraus (München) den Film als eine Allegorie auf die historischen Ereignisse von Sarajewo, auf die in der Gesellschaft angelegten Wurzeln von Erstem Weltkrieg und Faschismus. Nur vordergründig gehe es um die heimatzerstörenden Begebenheiten innerhalb der Dorfgemeinschaft.

Heimat Europa als Erzählraum in Literatur und Film

Neben der Literatur spielte der Film eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung mit einer europäisch gedachten Heimat als Raum der Imagination. Peter Hanenberg (Lissabon) stellte am Beispiel weltweit gelesener Autoren wie Günter Grass und Uwe Johnson die These auf, dass insbesondere die Literatur der Ort sei, an dem Europaerfahrungen gestaltet werden könnten, in der Herkunft wie Zukunft zu vermitteln seien und in der Europa und Heimat nicht in Widerspruch zueinander stünden. Die Geschichte Europas sei eine Literaturgeschichte, in der sich konkrete Heimaterfahrungen und abstrakte Europavorstellungen vereinten, ohne auf eine unverbindliche Transkulturalität hinauszulaufen. Diskutiert wurde, ob nicht die Beschränkung auf den nationalen Raum abnehmen müsse und inwieweit neben der Betrachtung des europäischen Erfahrungsraums auch der Weltbezug der Literatur stärker betrachtet werden sollte.

Den metaphorischen Ausdruck von Heimat und die spezifisch nationalen Bedingungen für literarische Heimatvorstellungen hob Bogdan Mirtschev (Sofia) hervor. Heimat als literarisches Konstrukt sei sowohl als konkrete Erfahrung wie auch als Idee möglich; das Gefühl von Zugehörigkeit gehe oft einher mit Nostalgie oder Sehnsucht; zentral sei die Verwendung symbolisch aufgeladener Motive (z.B. von Bergen oder Wäldern), ebenso wie das Thema der Heimkehr. In ihrem Vortrag über Lars von Triers filmisches Europaprojekt „Europäische Visionen“ bekräftigte auch Anthonya Visser (Leiden) die Bedeutung des Ästhetischen für die Konstitution von Heimatbildern in Europa; dabei bezog sie sich hauptsächlich auf ihre Interpretation des für Deutschland eingereichten Kurzfilms Fatih Akins. Die Annäherung des Regisseurs an Heimat sei eine spielerisch-ironische Zukunftsvision eines auch durch deutsche Geschichte geprägten Europas.

Region, Integration, Religion

Welche produktive Kraft von Verlusterfahrungen, Exil und Emigration ausgehen kann, zeigte Ioana Crǎciun-Fischer (Bukarest) in ihrem Beitrag. Transkulturelle Gegenwartsliteratur stellte sie am Beispiel der Romane Aglaya Veteranyis vor. Diese Autorin begreife ihre nicht-deutsche Muttersprache als Chance, sich in den deutschen Literaturbetrieb zu integrieren. Sie nutze ihre Herkunft als Quelle und artikuliere sprachliche Korrespondenzen des Rumänischen und Deutschen. Dass die poetische Aussagekraft der Texte dadurch zunehmen kann, wurde angesprochen und zugleich auf mögliche Verständnisschwierigkeiten des deutschen Lesepublikum hingewiesen, dem sich die (kulturelle) Funktion derlei sprachlicher Bilder nicht unmittelbar erschließt.

Nils Rottschäfer (Bielefeld) hob mit seinem Vortrag zu Arnold Stadler einen der wichtigen deutschen Gegenwartsautoren hervor und stellte die Verbindung von religiösem und ästhetischem Diskurs in dessen Werk heraus. Heimat und Heimatlosigkeit seien die Grundlage allen Handelns der sprachgehemmten Figuren, die sich nach einem Ort der Geborgenheit sehnten: Dem Subjekt könne das Gefühl von Heimat nur in wenigen Momenten zuteil werden, und zwar besonders in der Sphäre des Religiösen.

Ergänzt wurde die anschließende Diskussion über sogenannte „Heimatschriftsteller“ durch eine Lesung von Andreas Maier. Maier selbst hat derlei Zuschreibungen bereits in der Vergangenheit immer wieder ironisch in Frage gestellt und wurde von Michael Braun treffend als „Autor ironischer Heimatkunde par excellence“ vorgestellt, dessen Heimatromane verkappte Erinnerungsromane seien. Diesen Eindruck bekräftigte die eindrucksvolle Lesung des Autors aus dem Roman „Das Zimmer“ ebenso wie das nachfolgende Gespräch mit Roman Luckscheiter (DAAD), in dem Maier sein Schreiben als polemisches Spiel mit dem Begriff Heimat und fremden Heimatkonzepten bezeichnete.

Heimat und Zugehörigkeiten in Europa

In ihrem Abschlussvortrag differenzierte und problematisierte Joanna Pfaff-Czarnecka die Vielfalt europäischer Anbindungen und Zugehörigkeiten in der Moderne aus sozialanthropologischer Sicht. Vier Nachwuchswissenschaftler verschiedener europäischer Universitäten wurden im Anschluss von Barbara Naumann (Zürich) zu ihrer persönlichen Sicht auf Heimat in Europa und zu den Perspektiven von Europa als Heimat befragt. Dabei spielte vor allem die sprachliche und kulturelle Verortung der Befragten eine Rolle.

Die Heimat ist ein „Nichtort“ (Bernhard Schlink: Heimat als Utopie, 2000), der immer wieder neu ausgehandelt und individuell erschlossen werden muss. Chancen und Herausforderungen, wie etwa verschiedene europäische Heimatsprachen, müssen als solche akzeptiert und produktiv genutzt werden. Verabschiedete wurden die Teilnehmer mit dem Hinweis darauf, dass Selbstreflexivität notwendig sei, um das richtige Verhältnis von Heimat und Europa zu finden; dafür bedürfe es der medialen, insbesondere der filmischen Bearbeitung. Die zentralen Fragen bleiben aber weiterhin: Wieviel Heimat, d.h. wieviel Regionalität und Individualität, kann Europa sich leisten? Wieviel Bereitschaft, sich in Europa beheimaten zu wollen, muss Europa erwarten, damit Europa als politische und kulturelle Idee überhaupt gelingen kann? Und inwiefern kann Europa selbst in der globalen Perspektive Heimat werden?

Der geplante Schwerpunkt der VI. Fachtagung der Konrad-Adenauer-Stiftung im nächsten Jahr wird auf dem Thema „Bürger – europäische Bürgergesellschaft“ liegen.

Asset-Herausgeber

Kontakt

Prof. Dr. Michael Braun

Prof. Dr

Referent Literatur

michael.braun@kas.de +49 30 26996-2544

comment-portlet

Asset-Herausgeber

Asset-Herausgeber