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Länderberichte

Die Gesellschaft ordnen im Zeitalter der Transformation und der Globalisierung

Christoph Böhr

Text des Vortrags von Christoph Böhr auf dem Zukunftsforum in Cadenabbia vom 14. bis 17. März 2009

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Christoph Böhr

Die Gesellschaft ordnen im Zeitalter der Transformation und der Globalisierung

Eine Vorbemerkung sei mir gestattet: Wir reden im Zusammenhang der Aufgaben, denen sich die Politik in Bulgarien verpflichtet weiß, nahezu ausnahmslos über Herausforderungen, die sich seit der Überwindung der europäischen Spaltung im Jahr 1989 in allen europäischen Ländern stellen. Natürlich gibt es in Frankreich, Spanien, Polen, Bulgarien, Italien, Belgien und Deutschland jeweils eigene, nur dieses jeweilige Land betreffende politische Aufgaben. Das wird niemand leugnen wollen. Aber die allermeisten dieser Aufgaben stellen sich uns Europäern doch gemeinsam. Wir alle sind heute Teil einer Schicksalsgemeinschaft - der europäischen Schicksalsgemeinschaft -, und wir alle sind auf der Suche nach dem Weg, von dem wir hoffen können, daß er uns im vereinigten Europa der Lösung unserer Aufgaben näher bringt.

Was bedeutet es, Teil der europäischen Schicksalsgemeinschaft zu sein? Ich meine damit, daß wir alle - jeder für sich - schon heute und noch mehr in Zukunft nur dann Gewicht und Stimme in der Welt haben, wenn wir gemeinsam, als Europäer, auftreten. Das ist nicht immer einfach. Aber wenn wir uns nicht dazu entschließen, nach außen unsere Gemeinsamkeit zu beweisen, wird niemand in der Welt auf Europa blicken. Warum aber sollten wir wollen, daß andere - Amerika und Russland, China und Indien - auf Europa blicken? Meine Antwort auf diese Frage lautet: Weil wir der Welt etwas anzubieten haben, das einmalig ist: ein Verständnis nämlich vom Wert und der Würde des Menschen, wie sie im europäischen Kulturkreis über drei Jahrtausende gewachsen ist und sich zu einem Menschenbild entfaltet hat, das in die ganze Welt ausstrahlt. In diesem Menschenbild erkenne ich unsere gemeinsame europäische Identität, die uns - bei aller sonstigen Vielfalt der Sprachen, Traditionen, historischen und kulturellen Prägungen - als Europäer zusammenführt und verbindet.

Antoniy Galabov hat - sehr zutreffend - darauf hingewiesen, daß sich der Rhythmus der Veränderungen in unseren Gesellschaften beschleunigt. Das ist aus meiner Sicht eine nachvollziehbare Beschreibung einer Schwierigkeit, die uns allen zu schaffen macht. Noch nie war die Geschwindigkeit, mit der sich die Verhältnisse ändern, so hoch, wie wir das heute erleben. Hier zeigt sich eine Folge der Transformation und der Globalisierung. Beide Prozesse hängen ja sehr eng zusammen. Die Transformation hat die Globalisierung beschleunigt, wie sie seinerzeit schon Ergebnis auch der Globalisierung war. Immer mehr Menschen kommen aus dem Tritt, ihnen geht die Luft aus, sie fühlen sich überrollt, ja bedroht von den Unsicherheiten und Veränderungen, die ihren Alltag bestimmen und diesen Alltag zunehmend weniger berechenbar machen.

Was bedeutet diese Entwicklung für die Gestaltung unserer Gesellschaftsordnungen? Wie können wir uns das vorstellen: unsere Gesellschaften zu gestalten angesichts der tagtäglichen Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung? Ist das überhaupt möglich, Ordnungen zu stiften, wenn man nicht weiß, was morgen sein wird? Und nach welchen Maßstäben wollen wir das tun? Fordert nicht der schnelle soziale (und ökonomische) Wandel den Verzicht auf stabile Strukturen?

Ich bin ganz anderer Meinung. Denn ich beobachte, daß Menschen gerade in Zeiten großer Unsicherheit nach verläßlichen Ordnungen Ausschau halten. Was sonst könnte ihrem Leben ein Mindestmaß an Berechenbarkeit verleihen? Zunächst jedoch ist nüchtern festzuhalten, daß die Globalisierung - die ja keine neue Entwicklung ist, wenngleich sich die Geschwindigkeit dieser Entwicklung in den vergangenen zwanzig Jahren in zuvor kaum vorstellbarer Weise erhöht hat - die Bedingungen der politischen Gestaltung grundlegend verändert hat. Denn eine - wenngleich längst nicht die einzige - Folge der Globalisierung besteht darin, daß immer mehr und immer stärkere Einflüsse von aussen auf unsere Gesellschaften einwirken - und damit auch die Politik in unseren Ländern prägen. Die Finanzkrise, die wir derzeit erleben, zeigt das beispielhaft. Sie wurde weder in einem europäischen Land verursacht, noch kann sie mit den uns verfügbaren nationalen und europäischen Mitteln gelöst werden. Das war vor ein paar Jahrhunderten anders. Als die Spekulationsblase, die aufgrund einer völlig wirklichkeitsfremden Überbewertung von Tulpenzwiebeln in den Niederlanden entstanden war, schließlich platze, verloren viele Menschen große Vermögen. Aber die europäischen Nachbarn der Niederländer konnten gleichwohl gelassen bleiben. Sie waren nicht betroffen, als mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Niederlande damals in bitterste Armut fiel. Heute geht der Sturm der Finanzkrise über uns alle hinweg. In einer Welt der offenen Grenzen und Märkte hat der Begriff der Schicksalsgemeinschaft eine neue Bedeutung gewonnen.

Was heißt das für die Bedingungen politischer Gestaltungsmöglichkeiten in unseren Ländern?

Zunächst - das ist meine erste Schlußfolgerung - ergibt sich in dieser Lage ein Zwang zur Kooperation. Ich spreche hier bewußt davon, daß wir zur Kooperation gezwungen sind. Das hinzunehmen, fällt vielen Politikern schwer, die immer noch meinen, man könne auf sich gestellt die Aufgaben in die Hand nehmen. Mit diesem Zwang zur Kooperation geht einher - zweitens - ein Zwang zur Koordination. Regeln - nicht nur für die Finanzwelt - haben nur dann Gewicht und Wirkung, wenn sie verbindlich sind für alle, die sich in einem Geflecht der Zusammenarbeit befinden. Regeln des Marktes, des Zusammenlebens der Menschen, der Geltung des Rechts, kurz: alle Regeln, ohne die eine friedliche Übereinkunft zwischen Menschen und Völkern nicht zu finden ist, haben nur dann eine Wirkung, wenn sie auf allseitiger Anerkennung beruhen. Das meine ich, wenn hier von einem Zwang zur Koordination die Rede ist. Ich will keine Bürokratisierung und keinen Zentralismus, aber ohne ein Geflecht wechselseitig anerkannter Regeln läßt sich kein Staat und keine Europäische Union machen. In vielen Bereichen - ich nenne noch einmal die Wirtschaftsordnung - sind wir von solchen Übereinkünften über wechselseitig geltende Regeln noch weit entfernt. Diese Regeln müssen nach meiner Überzeugung im übrigen allgemeiner Natur sein, da sie die nationale Politik weder ersetzen sollen noch ersetzen dürfen. Sie bilden eine Art Rahmenwerk für das, was dann in der Zuständigkeit nationaler Kompetenz zu entscheiden ist.

Drittens zwingt der Prozess der Globalisierung zur Identitätsbildung und Identitätspflege. In einer Welt der offenen Grenzen sind unsere Gesellschaften immer mehr und immer nachhaltiger fremden Einflüssen ausgesetzt. Diese Einflüsse, die von aussen kommen und in unsere Gesellschaften einbrechen, können nicht abgewehrt werden. Sie sind der Preis der Freiheit in einer Welt ohne Mauer und Stacheldraht. Aber diese äusseren Einflüsse dürfen auch nicht zu einer Überfremdung unserer Gesellschaften führen. Genau das fürchten viele und haben deshalb Angst - nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch in unseren europäischen Gesellschaften. Fast überall in Europa sind in den letzten Jahren kleinere oder größere Parteien entstanden, die diese Angst schüren und für ihre Zwecke mißbrauchen. Gleichwohl: Es gibt diese Angst. Gerade deshalb sind Identitätsbildung und Identitätspflege so wichtig: das beginnt bei der eigenen Sprache und endet bei der Vergewisserung der eigenen Geschichte: beides eine Aufgabe nicht nur der Schul- und der Bildungspolitik.

Schließlich - und viertens - zwingt der Prozess der Globalisierung zur Stringenz in der politischen Strategie. Was ist damit gemeint? Ich fürchte, daß die nationale Gestaltungskraft der Politik in allen Ländern völlig schwindet, wenn die Politik nicht eine klarere Definition ihrer Ziele vornimmt und für eine größere Konsistenz in der Wahl ihrer Mittel sorgt. In allen europäischen Ländern beobachte ich eine zunehmend Neigung, die eigenen politischen Ziele mehr über die Ablehnung der Ziele des politischen Gegners zu bestimmen denn über die eigene Vorstellung einer geglückten Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Hat die Politik überhaupt noch den Ehrgeiz, eine gesellschaftliche Ordnung zu bauen - und, damit zusammenhängend, ihre jeweilige Vorstellung vom Aufbau einer gesellschaftlichen Ordnung zu begründen? Belassen wir es nicht allzu oft dabei, Besserungen zu versprechen, den Gegner zu verteufeln und denen nachzugeben, die am lautesten öffentlich ihre Forderungen geltend machen? Stringenz und Konsistenz in der Politik sind so nicht zu erreichen. Wenn mächtige gesellschaftliche Gruppen über die Politik herrschen oder der politische Gegner entscheidet, was man selbst - in Abgrenzung zu seinen Gegenspielern - vorschlägt, verschenkt die Politik freiwillig auch noch den Rest des ihr verbleibenden, ohnehin geringen Gestaltungsspielraums, der im Zeitalter der Globalisierung ja nicht größer, sondern kleiner geworden ist.

Als Beispiel für das, was ich meine, wähle ich einen Sachverhalt aus der Politik meines Landes: Seit vielen Jahren werden in Deutschland Einkünfte aus Kapitalvermögen steuerlich privilegiert, die Einkünfte aus Arbeitseinkommen hingegen vergleichsweise diskriminiert. Die Politik hat das so gewollt und so entschieden - bis heute. Gleichzeit vergießt die Politik zahlreiche Krokodilstränen über eine seit Jahren stetig steigende Arbeitslosigkeit, die ja aber doch gerade auch die Folge dieser politisch gewollten Steuerstruktur ist. Eine Politik, die sich mit Stringenz und Konsistenz dem Ziel verpflichtet weiß, Wohlstand und Arbeit für alle zu wollen, sieht anders aus. Hier gibt es nationale Gestaltungsspielräume, die man nutzen könnte - wenn die Politik sich denn Klarheit verschaffen würde über das, was sie wirklich erreichen will.

In der Politik hängt alles davon ab, welcher Zielbestimmung sie folgt. Heute ist es üblich geworden, die Frage nach den Zielen offen zu lassen. Dann aber dauert es nicht lange, bis die Politik zu taumeln beginnt - sprich: keiner Linie mehr folgt und jede Klarheit vermissen läßt. Schwierige Koaltionskonstruktionen und die damit notwendigerweise verbundenen Kompromisse tun dann ein übriges, um die Konturen zu verwischen, so daß am Ende niemand mehr zu sagen vermag, welchen Kurs diese oder jene Partei eigentlich einschlagen will. Parteien werden auf diese Weise austauschbar - und verlieren nicht nur an Zustimmung, sondern auch an Bedeutung.

Jede Ordnung einer Gesellschaft ist Mittel zum Zweck. Was ist der Zweck und das Ziel einer gesellschaftlichen Ordnung? Diese Frage zu beantworten, ist die Aufgabe von politischen Parteien, die schon aus diesem Grund unverzichtbar sind. Meine Antwort auf diese Frage - die Antwort eines Mitglieds der Familie der Christlichen Demokratie - lautet: politische Freiheit und soziale Sicherheit in einen unlösbaren Ordnungszusammenhang zu bringen. Liberale sehen beide Ziele - die Sicherung von Freiheit und die Gewährleistung von Sicherheit - durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt. Sozialisten meinen, beide Ziele seien ein- und dasselbe, also deckungsgleich. Christliche Demokraten suchen die Balance. Freiheit und Sicherheit sind zwei - gelegentlich in einem Spannungsverhältnis stehende - Grundbedürfnisse des Menschen. Sie in ein Gleichgewicht zu bringen, ist nach Überzeugung christlicher Demokraten die vorrangige Aufgabe einer gesellschaftlichen Ordnung.

Was ist der Maßstab, nach dem dieses Gleichgewicht zu bestimmen ist, um es dann im Regelwerk einer Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu verankern? Der Maßstab ist immer - für Liberale und Sozialisten wie für uns - ein Menschenbild. Die Anthropologie geht jeder Politik voraus. Liberale und Sozialisten hängen einem anderen Menschenbild an als wir christliche Demokraten. Unser Menschenbild - das christliche Menschenbild - sieht den Menschen bestimmt durch seine unveräußerliche, unantastbare Würde. Dieses Menschenbild ist für mich zugleich der Kern unserer europäischen Identität. Von ihm leitet sich alles ab, was wir politisch wollen, und an ihm muß alles Maß nehmen, was wir politisch uns vornehmen. Seine Gestalt findet dieses christliche europäische Menschenbild in der Idee des Rechtsstaates: der Herrschaft der Gesetze und der Gleichheit aller vor dem Recht.

Die Herrschaft des Rechts ist die Voraussetzung aller Freiheit und Bedingung jeder Sicherheit. Es gibt nur die Freiheit unter dem Gesetz. Und nur das Gesetz gibt dem Menschen Sicherheit. Es macht unser Leben berechenbar auch in Zeiten eines beschleunigten Wandels. Und es sichert die Freiheit vor den Übergriffen derjenigen, die stärker und mächtiger sind. Wenn wir dieses Bekenntnis, das zugleich eine vernünftige Einsicht ist, ernst nehmen, geht von Europa eine Botschaft aus, die nicht nur in unseren eigenen Gesellschaften, sondern auf der ganzen Welt offene Ohren findet.

Im übrigen findet sich in diesem Bekenntnis der Kern des bürgerlichen Konsenses, den aufzukündigen kein Parteienstreit rechtfertigen kann. Zerstrittenheit ist eine Erbkrankheit der Bürgerlichen. Die Zeiten sind aber heute so, daß dann, wenn die bürgerlichen Parteien streiten, dem Populismus Tür und Tor geöffnet wird. Wenn wir das zulassen, verraten wir unsere Verantwortung. Die besteht nämlich nicht darin, in der Familie zu streiten, sondern die gewaltigen Herausforderungen der Transformation und der Globalisierung anzunehmen und zu gestalten - gemäß den Überzeugungen, die wir christliche Demokraten im Blick auf den Bau einer gerechten gesellschaftlichen Ordnung vertreten.

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