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Länderberichte

Verordnete Stabilität.

von Jochen Kleining

Die 2. Sitzung des 11. Nationalen Volkskongresses der VR China

Vom 4. bis zum 13. März 2009 tagte in Peking der Nationale Volkskongress (NVK) der Volksrepublik China. Das chinesische Parlament mit über 3000 Abgeordneten tritt einmal im Jahr für jeweils zwei Wochen zusammen. Die diesjährige Parlamentssitzung war geprägt vom Abschwung der chinesischen Volkswirtschaft und, damit verbunden, von konjunkturpolitischen Fragestellungen.

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Das Ereignis hat einen eher zeremoniellen Charakter, die gesetzgeberische Routine wird über das Jahr hinweg vom Ständigen Ausschuss des NVK sowie den jeweiligen Fachausschüssen ausgeführt. Die diesjährige Parlamentssitzung war geprägt vom Abschwung der chinesischen Volkswirtschaft und, damit verbunden, von konjunkturpolitischen Fragestellungen. Ein bereits im November vergangenen Jahres verkündetes Konjunkturpaket in Höhe von insgesamt 4 Billionen Yuan (ca. 440 Mrd. Euro) wurde von den Delegierten bestätigt. Zusätzliche wirtschaftspolitische Stimuli sind allerdings nicht vorgesehen. Die beschlossenen Maßnahmen zielen in erster Linie auf eine Belebung der Binnennachfrage ab, hier insbesondere unter den 700 Millionen Bauern des Landes.

Traditionell wird der Konvent mit einem ausführlichen Rechenschaftsbericht des Ministerpräsidenten eröffnet, in dem dieser eine Bilanz der Arbeit des vergangenen Jahres zieht und das Programm der Regierung für das Folgejahr skizziert. An den darauf folgenden Tagen präsentieren dann die verschiedenen Ministerien, der Oberste Volksgerichtshof sowie die Generalstaatsanwaltschaft ihre Arbeitsberichte. Diese werden anschließend, ebenso wie bedeutende Gesetzes- und Reformvorhaben, im Plenum beraten.

In seinem diesjährigen Bericht stimmte Premierminister Wen Jiabao die Delegierten auf ein schwieriges Jahr ein. China stehe, so Wen, vor bislang nicht gekannten Herausforderungen. Ein Ende der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise sei bislang nicht absehbar; im Gegenteil ziehe sie immer weitere Kreise und beeinträchtige in zunehmendem Maße auch die chinesische Volkswirtschaft. Der Premier warnte vor einem weiteren Exportrückgang, auch vor dem Hintergrund weltweit drohender protektionistischer Maßnahmen. Das Jahr 2009 könne, so der Premier, das „schwierigste Jahr für Chinas wirtschaftliche Entwicklung seit Beginn des 21. Jahrhunderts“ werden. Die Regierung wolle nun mit allen Kräften den wirtschaftlichen Abschwung aufhalten. Ziel sei es dabei, ein Wirtschaftswachstum von 8 Prozent sicherzustellen. Hierfür werde man eine „proaktive Steuerpolitik“ sowie eine „moderate Geldpolitik“ verfolgen.

Wen Jiabao kündigte zwar auch Unterstützung für die Exportwirtschaft an, machte jedoch gleichzeitig deutlich, dass eine Stärkung der Binnennachfrage im Mittelpunkt der staatlichen Maßnahmen stehe. Er unterstrich in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Landwirtschaft. Diese stelle die „Grundlage der chinesischen Wirtschaft“ dar.

Hinsichtlich des chinesischen Reformprozesses zog der Premier eine kritische Bilanz. Er beklagte „institutionelle und strukturelle Probleme“, die die wirtschaftliche Entwicklung des Landes nach wie vor behindern würden, so z. B. die geringe Binnennachfrage, eine schleppende Entwicklung des Dienstleistungssektors sowie eine mangelnde Innovationsfähigkeit der chinesischen Wirtschaft. Die marktwirtschaftliche Ordnung in China sei, so Wen Jiabao, noch nicht ausreichend institutionalisiert, Dies zeige sich deutlich etwa im Bereich der Marktaufsicht oder der Rechtsdurchsetzung.

Der Premier kritisierte überdies den zu hohen Ressourcen- und Energieverbrauch des Landes, eine grassierende Umweltverschmutzung sowie die hohen Einkommensunterschiede zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung. Gerade in den Bereichen soziale Sicherheit, Bildung, Gesundheitsvorsorge, Einkommensverteilung und öffentliche Sicherheit - Gebiete, die, so der Premier, im „vitalen Interesse des Volkes“ seien - drängten eine Vielzahl von Problemen auf ihre Lösung. Wen Jiabao verwies dabei auch auf mehrere schwere Zwischenfälle im Bereich der Lebensmittel- und Arbeitsplatzsicherheit im vergangenen Jahr.

Konjunkturpolitik im Zeichen der Krise

Die Verabschiedung des Staatshaushaltes für das laufende Jahr zählt zu den wichtigsten Aufgaben des Nationalen Volkskongresses. Für das Jahr 2009 wurden die staatlichen Ausgaben mit 4,4 Billionen Yuan (ca. 470 Mrd. Euro) veranschlagt - ein Anstieg um 848,5 Mrd. Yuan (ca. 91 Mrd. Euro) oder 24 Prozent. Erkauft werden diese zusätzlichen Aufwendungen durch ein Rekorddefizit von 750 Mrd. Yuan (ca. 80,6 Mrd. Euro), 570 Mrd. (61Mrd.) mehr als im Vorjahr. Das Finanzministerium kündigte zudem an, zusätzlich Staatsanleihen im Wert von 200 Mrd. Yuan (ca. 21,5 Mrd. Euro) zu emittieren, um auf diese Weise die notorisch klammen Haushalte auf Provinzebene aufzubessern. Das Gesamtdefizit beläuft sich damit auf 950 Mrd. Yuan (ca. 102 Mrd. Euro), in etwa drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Es ist die mit Abstand höchste Neuverschuldung Chinas seit der Staatsgründung. Die Mehrausgaben sind dabei in erster Linie auf das 4 Billionen (verteilt über drei Jahre) schweres Konjunkturpaket zurückzuführen, das im November 2008 beschlossen worden war. Allerdings treiben auch schrumpfende Steuereinnahmen das öffentliche Defizit in die Höhe. Weitere Steuersenkungen und Rabattierungen für Unternehmen und Privathaushalte belasten die Staatskasse zusätzlich.

Noch während der Parlamentssitzung wurde bekannt, dass die chinesischen Exporte im Februar 2009 dramatisch eingebrochen waren. Der Rückgang fiel dabei mit 25,7 Prozent (im Vergleich zum Vorjahresmonat) wesentlich heftiger als von Analysten erwartet aus. Die Weltbank reagierte umgehend, indem sie ihre Wachstumsprognose für 2009 von 7,5 Prozent auf nunmehr 6,5 Prozent herunterstufte.

Die größte Herausforderung für die chinesische Regierung ist nun die Stabilisierung des Arbeitsmarktes. Mehr als 20 Millionen Wanderarbeiter haben in Folge der Krise bereits ihre Jobs verloren. Für das Jahr 2009 werden zudem 7 Millionen Universitätsabgänger erwartet. Offiziell lag die Erwerbslosenquote im Jahr 2008 bei 4,2 Prozent, unabhängige Schätzungen gingen allerdings von ungefähr 12 Prozent Arbeitslosen in den Städten aus (vor der Krise) – auf dem Land noch weit darüber hinaus. Für 2009 wurde nun das Ziel ausgegeben, die Arbeitslosenquote bei 4,6 Prozent zu halten. Durch das Konjunkturpaket sollen insgesamt 9 Millionen neue Jobs in den Städten geschaffen werden. Zusätzlich werden 42 Mrd. Yuan für aktive Beschäftigungsmaßnahmen zur Verfügung gestellt.

Unterstützung für die Landbevölkerung

Eine Wiederbelebung der Wirtschaft hofft man in Peking in erster Linie durch eine Stimulierung der Binnennachfrage erreichen zu können. Der Landbevölkerung soll dabei eine Schlüsselrolle zukommen. Staatliche Zahlungen könnten hier, so das Kalkül der Zentralregierung, direkt in den Konsum geleitet und dabei gleichzeitig das Wohlstandsgefälle zwischen Stadt- und Landbevölkerung abgemildert werden. Derzeit ist die wirtschaftliche Lage der Bauern fragil. Eine schwere Winterdürre in Nordchina hat Teile der kommenden Ernte zunichte gemacht. Auch wird die Wirtschaftskrise für die Landbevölkerung immer deutlicher spürbar. In den vergangenen Jahren waren es vor allem die Rücküberweisungen der 130 Millionen Wanderarbeiter an ihre Familien gewesen, die für den durchschnittlichen Anstieg der ländlichen Einkommen um zuletzt jährlich mehr als 6 Prozent verantwortlich gewesen waren. Nun haben in Folge der Krise viele von ihnen ihre Jobs verloren. Sollten diese Verluste nicht anderweitig kompensiert werden können, drohen der Landbevölkerung in diesem Jahr empfindliche Einkommenseinbußen.

Die Regierung hat daher beschlossen, den Mindestabnahmepreis für Getreideprodukte um 13 Prozent anzuheben. Auf diese Weise sollen zusätzliche Einkommen in Höhe von 116 Mrd. Yuan generiert werden – durchschnittlich 500 Yuan für jeden ländlichen Haushalt. Finanziert wird der fixe Getreidepreis über staatliche Subventionen. Bereits im Februar 2009 hatte die Regierung zudem in ländlichen Gebieten eine Rabattaktion für den Erwerb von Haushaltsgütern gestartet. Die Zuschüsse werden für maximal acht ausgewählte Produkte gewährt: darunter Farbfernseher, Kühlschränke, Mobiltelefone, Waschmaschinen, Computer, Klimaanlagen, Warmwasserboiler und Mikrowellen. Beim Kauf eines dieser Produkte erstattet der Staat den Bauern nun 13 Prozent des Kaufpreises zurück. Das Programm ist auf vier Jahre angelegt, für das laufende Jahr stehen hierfür 15 Mrd. Yuan bereit. Insgesamt sind 716 Mrd. Yuan für die Entwicklung der ländlichen Gebiete vorgesehen, dies ist ein Plus von 120,6 Mrd. Yuan. Das Geld soll unter anderem in den Bau oder die Renovierung öffentlicher Einrichtungen auf dem Lande, in Infrastruktur sowie in die Förderung von Agrarwissenschaft und –technologie fließen.

Chinas Wirtschaft leider an einer hohen Sparquote und damit an einer mangelnden Konsumbereitschaft insbesondere der Landbevölkerung. Hierfür werden auch fehlende soziale Sicherungssysteme mitverantwortlich gemacht. Seit 1984 befinden sich entsprechende Reformprogramme im Aufbau, sie erreichen bisher aber gerade auf dem Land nur eine Minderheit der Bevölkerung. Nach Regierungsangaben verfügen zurzeit 219 Mio. Menschen über eine Renten- und 317 Mio. Menschen über eine (rudimentäre) Gesundheitsversicherung. Um die Sozial- und Krankenversicherungen weiter auszubauen, sind von der Regierung Ausgaben von insgesamt 850 Mrd. Yuan (über drei Jahre) vorgesehen. Dabei soll unter anderem auch ein Rentenversicherungssystem für die 130 Millionen Wanderarbeiter des Landes eingeführt werden. Ministerpräsident Wen Jiabao hat in seinem Rechenschaftsbericht ferner angekündigt, dass ab dem laufenden Jahr Krankenhausgeburten sowie regelmäßige prä- und postnatale Untersuchungen in ländlichen Gebieten staatlicherseits unterstützt werden sollen.

Weitere soziale Herausforderungen

Ein drängendes Problem in den Städten stellt gegenwärtig der Mangel an erschwinglichem Wohnraum für Geringverdiener dar. In Folge des Wirtschaftsbooms sind in vielen Metropolen die Immobilienpreise in die Höhe geschnellt. Wohnungen im näheren Stadtbezirk sind für viele Menschen der unteren Einkommensschichten unerschwinglich geworden. Überdies haben in den vergangenen Jahren private Investoren in der Hoffnung auf hohe Renditen an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei vor allem Wohnungen im oberen Preissegment gebaut. Viele dieser Apartments stehen leer, während für untere Einkommensschichten ein adäquater Markt kaum existent ist. Premierminister Wen Jiabao hat jetzt zugesichert, dass innerhalb der kommenden drei Jahre die Wohnungsprobleme von 7,5 Millionen Familien mit niedrigen Einkommen sowie von 2,4 Millionen Menschen, die in provisorischen Siedlungen leben, behoben werden sollen. Für den sozialen Wohnungsbau werden in diesem Jahr insgesamt 48 Mrd. Yuan bereitgestellt. Gleichzeitig hofft die Regierung, auf diese Weise den kriselnden Immobiliensektor wiederbeleben zu können. Dieser war in den vergangenen Jahren eine der zentralen Stützen des chinesischen Wirtschaftswachstums gewesen.

Bei ungewöhnlich hitzigen Debatten trat die allgemeine Unzufriedenheit über das öffentliche Bildungswesen deutlich zutage. Im Jahr 2000 hatte die Regierung beschlossen, die Investitionen im Bildungssektor auf 4 Prozent des BIP zu erhöhen. Abgeordnete der Politischen Konsultativkonferenz kritisierten nun scharf, dass man von der Erfüllung dieses Ziel nach wie vor weit entfernt sei. Der Vorsitzende des Beratergremiums, Jia Qingling verwies darauf, dass von den in der Konsultativkonferenz eingereichten Reformvorschlägen die Mehrzahl sich auf Verbesserungen im Bildungssektor beziehe und hier offensichtlich ein erhöhter Handlungsbedarf bestehe. Seit 1999 ist der chinesische Universitätssektor gleichsam explodiert: die Zahl der Studenten stieg von 1,6 Millionen auf 6 Millionen, die Zahl der Lehrkräfte von 400.000 auf 1,2 Millionen. Viele von ihnen verfügen über keine adäquate Ausbildung. Zudem sind die chinesischen Universitäten mit geschätzten 450 Mrd. Yuan hoch verschuldet. Viele behelfen sich mit einer Erhöhung der Studiengebühren, was die Universitätsausbildung für viele Familien unerschwinglich macht.

Mit Spannung war von den Delegierten der Rechenschaftsbericht des Obersten Volksgerichtshofes sowie der Generalstaatsanwaltschaft erwartet worden. In den vergangenen Jahren hatten die Mitglieder des NVK beide Berichte mit sehr viel Kritik bedacht. Allgemein lässt sich eine große Unzufriedenheit mit dem Rechtssystem der Volksrepublik konstatieren, was einerseits in systemischen Defiziten wie der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz, aber auch in der mangelhaften Ausbildung der Richter begründet ist. Vor allem die weitverbreitete Korruption im Land gilt weithin als eine der Kernursachen für soziale Unruhen in der Bevölkerung. Im vergangenen Jahr sorgte eine Serie von Skandalen, in die auch hochrangige Funktionäre verwickelt waren, für besonderes Aufsehen. Entsprechend führten die Vertreter von Gerichtshof und Staatsanwaltschaft in ihren diesjährigen Rechenschaftsberichten aus, dass die Bekämpfung der Korruption die gegenwärtig wichtigste Aufgabe der Justizorgane darstelle. Im vergangenen Jahr seien aufgrund von Korruptionsvorwürfen insgesamt 4.960 Funktionäre (oberhalb der Bezirksebene) verurteilt worden, darunter auch 700 Gerichtsbeamte.

Stabilität als Priorität

Mit der Furcht vor sozialen Verwerfungen wächst innerhalb der Führung auch die Sorge um die Stabilität des Landes. Dies wurde auch auf der diesjährigen Sitzung des Nationalen Volkskongresses deutlich. „Stabilität“ war einer der zentralen Begriffe in der Regierungserklärung des Premierministers. Im vergangenen Jahr kam es in China zu einer ganzen Reihe von (lokal begrenzten) Unruhen, darunter Proteste entlassener Wanderarbeiter sowie Streiks unter Taxifahrern in gleich mehreren Städten des Landes. Wen Jiabao hat nun angekündigt, dass die Regierung künftig schneller auf Unzufriedenheit in bestimmten Bevölkerungsgruppen reagieren wolle, um so genannten „Massenvorfällen“ (der KP-Terminus für Demonstrationen, illegale Streiks und andere Protestformen) besser vorbeugen zu können. Der Premier ermahnte die Funktionäre im Land, die Bedürfnisse der Bevölkerung im Auge zu behalten. "Je mehr Schwierigkeiten wir entgegensehen“, so Wen Jiabao, „desto größere Beachtung müssen wir dem Wohlergehen des Volkes und der Förderung sozialer Harmonie und Stabilität schenken.“

Grundsätzliche Systemreformen standen indes auch dieses Mal nicht auf der Agenda des NVK. In Krisenzeiten, in denen der Erhaltung von Stabilität oberste Priorität eingeräumt wird, dürfte Peking auch kaum zu demokratischen Experimenten neigen.

In diesem Jahr stehen eine Reihe politisch sensibler Jahrestage an. Unter anderem jährt sich am 4. Juni zum 20. Mal die Niederschlagung der Studentenbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Andere Ereignisse sind die Flucht des Dalai Lama aus China (28.3.1959), die Unterdrückung der religiösen Falun Gong Bewegung (20.7.1999) sowie die Gründung der VR China (1.10.1949). Die Partei- und Staatsführung befürchtet daher in- und ausländischer Protestaktio nen mit potentiell destabilisierender Wirkung.

Im Dezember vergangenen Jahres hatten chinesische Intellektuelle und Reformaktivisten die so genannten „Charta 08“ verfasst, in der größere Meinungsfreiheit sowie freie Wahlen angemahnt wurden. Der prominente Dissident Liu Xiaobo, einer der Erstunterzeichner des Dokuments, wurde daraufhin verhaftet. Andere Unterzeichner beklagen eine seitdem verschärfte Überwachung durch die chinesischen Sicherheitsbehörden. Bislang wurde die Charta von mehr als 8000 Personen unterzeichnet.

Ungewöhnlich deutlich wies in diesem Jahr der Vorsitzende des Nationalen Volkskongresses, Wu Bangguo, Forderungen nach einer Demokratisierung des Landes im Sinne westlicher Modelle zurück. Die Volksrepublik werde, so der Parlamentspräsident, niemals ein Mehrparteiensystem und Gewaltenteilung nach westlichem Vorbild einführen. Er ermahnte die Abgeordneten, eine „korrekte politische Orientierung“ beizubehalten und die „essentiellen Unterschiede“ zwischen dem chinesischen System der Volkskongresse und dem westlichen Parlamentarismus zu betonen.

In die Zeit der Tagung des Nationalen Volkskongresses fiel auch der 50. Jahrestag des tibetischen Aufstandes gegen die chinesische Herrschaft. In einer aus diesem Anlass gehaltenen Rede kritisierte der Dalai Lama die chinesische Führung scharf. Peking habe, so der Führer der tibetischen Exilregierung, seine Heimat „zur Hölle auf Erden“ gemacht. Auf der Parlamentssitzung wurde diese Kritik entschieden zurückgewiesen und stattdessen die Entwicklungserfolge in der Region hervorgehoben. Die Regierung sicherte eine grundsätzliche Bereitschaft zu weiteren Verhandlungen mit Vertretern des Dalai Lama zu, eine Veränderung der chinesischen Position bleibt gleichwohl nicht erkennbar. Im vergangenen Jahr war die Pekinger Führung während der Sitzung des NVK von den schwersten Unruhen in Tibet seit 20 Jahren überrascht worden. In diesem Jahr wurde mit Hilfe eines massiven Aufgebots von Militär- und Polizeieinheiten sichergestellt, dass die Tagung ohne vergleichbare Störungen ablief. Gleichwohl kam es trotz der massiven Sicherheitspräsenz erneut zu vereinzelten Protesten.

Umweltschutz und Klimapolitik

Mehrere Delegierte äußerten die Sorge, dass sich die aktuelle Wirtschaftskrise negativ auf den Klima- und Umweltschutz auswirken könne. Wenn der Wiederbelebung der Wirtschaft absolute Priorität eingeräumt werde, so die Befürchtung, bestehe die Gefahr, dass dringend benötigte Anstrengungen im Umweltbereich zu kurz kommen könnten. Premierminister Wen Jiabao suchte in seinem Rechenschaftsbericht entsprechende Sorgen zu zerstreuen. China werde sich auch weiterhin bemühen, so der Regierungschef, die Energieeffizienz zu erhöhen, Emissionen zu reduzieren und die Umwelt zu schützen. Er kündigte Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffizienz in drei Schlüsselbereichen (Industrie, Transport und Bauwesen) an. Entsprechende Technologien sollen bspw. bei Kraftwerken, Warmwasserboilern, Fahrzeugen, Klimaanlagen und Beleuchtung verstärkt zur Anwendung gelangen. Der Premier gab darüber hinaus eine Reihe von umweltpolitischen Maßnahmen bekannt, darunter Projekte zur Förderung sauberer Energie sowie zur Abfallvermeidung. Zudem soll ein Monitoring-System zur Energieeinsparung und Emissionskontrolle eingeführt werden. Wen Jiabao ermahnte insbesondere die staatseigenen Betriebe und Behörden, bei der Energieeinsparung und der Emissionsreduktion eine Vorbildfunktion zu übernehmen.

Seit 2006 hat die Volksrepublik den Energieverbrauch pro 1000 Yuan des BIP um 10,8 Prozent gesenkt. Damit ist Peking noch weit von dem selbst gesteckten Ziel entfernt, bis 2010 20 Prozent weniger Energie (pro 1000 Yuan des BIP) zu verbrauchen. Experten gehen mittlerweile nicht mehr davon aus, dass diese Zielmarke noch zu erreichen ist. Auf dem diesjährigen NVK wurde ferner das Projekt eines so genannten „Grünen BIP“ endgültig ad Acta gelegt. Das Programm sah vor, die langfristigen Kosten der Umweltverschmutzung in die Bilanz des BIP mit einzuberechnen. Bei seiner Einführung vor fünf Jahren war es von Umweltschutzorganisationen als das Symbol einer umweltpolitischen Kehrtwende der chinesischen Regierung gefeiert worden. In 2007 verhinderte allerdings die Regierung die weitere Veröffentlichung der Daten, nachdem bekannt worden war, dass in manchen Provinzen das Wirtschaftswachstum durch die Kosten der Umweltschäden nahezu aufgehoben werden würde.

Außenpolitik / Taiwan

Ein deutliches Signal wurde in diesem Jahr in Richtung Taiwan gesendet. Peking möchte den im Vorjahr eingeschlagenen Entspannungskurs fortsetzen. Das chinesische Festland werde, so kündigte Premierminister Wen an, die wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit intensivieren, damit beide Seiten der Taiwanstraße gemeinsam der gegenwärtigen Wirtschaftskrise begegnen könnten. Nach dem Willen der Führung soll die Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen beschleunigt und die Unterzeichnung eines umfassenden Abkommens über wirtschaftliche Zusammenarbeit vorangetrieben werden.

Die Wirtschaftskrise hat die exportorientierte taiwanesische Wirtschaft hart getroffen. Die meisten der auf dem chinesischen Festland tätigen, taiwanesischen Unternehmen produzieren in erster Linie für den Export, viele sind gegenwärtig in ihrer Existenz bedroht. Peking will nun Regionen auf dem Festland, in denen besonders viele taiwanesische Unternehmen angesiedelt sind, gezielt fördern. Hinsichtlich der umstrittenen Frage der Teilnahme Taiwans an Aktivitäten internationaler Organisationen kündigte Premierminister Wen Jiabao an, dass Peking hier zu „fairen und vernünftigen Arrangements“ bereit sei. Er nannte zudem Gespräche über politische und militärische Themen als denkbar und erwähnte auch die Möglichkeit eines Friedensabkommens zwischen beiden Seiten.

Während der Tagung des Nationalen Volkskongresses ereignete sich südlich der chinesischen Insel Hainan ein militärischer Zwischenfall zwischen chinesischen und US-amerikanischen Seestreitkräften. Nach Pekinger Angaben war das amerikanische Überwachungsschiff USNS Impeccable in chinesisches Hoheitsgebiet eingedrungen. Die USA bestritten dies und verwiesen darauf, die „Impeccable“ sei von einer Gruppe chinesischer Schiffe bedrängt worden. Es war der schwerste Zwischenfall seit 2001, als ein US-amerikanisches Spionageflugzeug mit einem chinesischen Kampfjet kollidiert war. Wenige Tage nach dem Vorfall traf der chinesische Außenminister zu einem Staatsbesuch in Washington ein. Hier machten jedoch beide Seiten deutlich, dass die angestrebte Verbesserung der bilateralen Beziehungen durch diesen Zwischenfall nicht weiter beeinträchtigt werde.

Am Rande der Parlamentssitzung wurde auch bekannt, dass die militärischen Konsultationen zwischen China und Japan wiederaufgenommen werden sollen. Diese waren in 2006 von chinesischer Seite ausgesetzt worden, um damit gegen die wiederholten Besuche des damaligen japanischen Ministerpräsidenten Koizumi im umstrittenen Yasukuni-Schrein zu protestieren. In dem Schrein wird der in Kriegen gefallenen japanischen Soldaten gedacht, einschließlich verschiedener japanischer Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkrieges.

Fazit

Die diesjährige Sitzung des Nationalen Volkskongresses stand im Zeichen des globalen Wirtschaftsabschwungs. Anders als es die krisenhafte Grundstimmung vermuten ließe, verlief jedoch das politische Großereignis im Wesentlichen unaufgeregt. Dies liegt zum einen in der Natur des chinesischen politischen Systems begründet, zum andern aber auch darin, dass die wesentlichen Weichenstellungen in dieser Krise bereits früher stattgefunden haben. Entscheidend waren vor allem das 4 Billionen schwere Konjunkturpaket vom November vergangenen Jahres sowie das 24-Punkte-Programm zur Entwicklung der Landwirtschaft, welches das Zentralkomitee im Februar vorgestellt hatte. Im Vorfeld der Parlamentssitzung machten zwar Spekulationen über ergänzende Konjunkturprogramme die Runde, die unter anderem auch die Frankfurter Börse kurzfristig beflügelt hatten. Diese Hoffnungen haben sich jedoch nicht bewahrheitet. Der gegenwärtige wirtschaftliche Abschwung ist in der 30-jährigen Geschichte des chinesischen Reform- und Öffnungsprozesses ohne Beispiel. Auch wenn sich die Zeichen dafür mehren, dass das Konjunkturprogramm Wirkung zeigt, so ist dennoch eine substantielle Wiederbelebung der chinesischen Wirtschaft noch nicht in Sicht. Peking hat deshalb deutlich gemacht, dass bei einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage weitere Schritte zur Wiederbelebung der Konjunktur folgen könnten.

Viele der Maßnahmen, die China bislang ergriffen hat, unterscheiden sich kaum von entsprechenden Programmen in Europa oder den USA. Alles, was derzeit zum konjunkturpolitischen „Common Sense“ der Weltwirtschaftskrise gehört, ist auch in China zu finden: Steuersenkungen, massive Erhöhung der öffentlichen Ausgaben einschließlich einer Rekordverschuldung, ferner die staatliche Förderung von Unternehmenskrediten, eine antiprotektionistische Rhetorik sowie Forderungen nach verbesserten Regularien für den internationalen Finanzmarkt.

Es sind im Wesentlichen drei Aspekte, welche die Hauptunterschiede zwischen China und den westlichen Industrienationen ausmachen:

Erstens ist es in China gelungen, die Staatsverschuldung in Maßen zu halten. Dies liegt vor allem daran, dass der noch relativ abgeschottete chinesische Bankensektor nur wenig von der Krise betroffen ist und die Stopfung von Milliardenlöchern in den Bilanzen der Geldinstitute durch Steuergelder nicht nötig war.

Zweitens ist China in weiten Teilen nach wie vor ein Entwicklungsland. Die chinesische Wirtschaft ist stark agrarisch geprägt, entsprechend haben hier konjunkturpolitische Maßnahmen einen anderen Fokus als in industrialisierten Ländern. Zwar sind die bloßen Wachstumsraten Chinas selbst in der Krise noch beeindruckend, doch darf dabei das Entwicklungsniveau nicht außer Acht gelassen werden: Ein durchschnittliches Jahreseinkommen auf dem Land beläuft sich in China auf durchschnittlich 4.100 Yuan (ca. 420 Euro). Und selbst in den Städten hält sich die Kaufkraft und damit die Möglichkeiten zum Binnenkonsum bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 13.800 Yuan in engen Grenzen.

Drittens fällt der wirtschaftliche Abschwung in eine für China kritische Phase der Transformation. Das Land soll und kann nicht länger die billige Werkbank der Welt sein. Nach dem Willen der Pekinger Führung soll die chinesische Wirtschaft zu einer wissens- und technologiebasierten Ökonomie werden – mit entsprechenden Löhnen und einer sozialen Absicherung für die Beschäftigten. Eng damit verbunden sind die Bemühungen, das Wirtschaftwachstum in nachhaltige und umweltverträgliche Bahnen zu lenken.

Die Volksrepublik hat in der Krise mehrere Herausforderungen anzunehmen und Ziele zu erreichen. Trotz Abschwung und Transformation der Wirtschaft müssen die unterbeschäftigte Landbevölkerung, die Wanderarbeiter sowie die Universitätsabsolventen in Lohn und Brot gebracht werden. China bereits jetzt zum Gewinner dieser globalen Wirtschafts- und Finanzkrise auszurufen, scheint verfrüht. Es wird sich zeigen müssen, ob der Strukturwandel Chinas auch unter krisenhaften Vorzeichen ohne größere soziale Verwerfungen vonstatten gehen kann.

Manche Beobachter sehen die Gefahr, dass bei einer Fokussierung auf die soziale Stabilität im Land gesellschaftspolitische Aspekte des Reformprozesses zu kurz kommen. Dies betrifft Maßnahmen im Umweltschutz, aber auch politische Reformen – insbesondere im Rechtssystem. Dass sich gerade in diesen Bereichen in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich etwas bewegt hat, dürfte einen nicht unerheblichen Beitrag zur Akzeptanz des politischen Systems und damit zur Stabilität des chinesischen Reform- und Öffnungsprozesses geleistet haben. Um die sich weiter emanzipierende städtische Bevölkerung dauerhaft an sich zu binden, sollte deshalb die Kommunistische Partei ihre in der Vergangenheit so erfolgreiche Politik der kleinen Reformschritte gerade auch in den gesellschaftspolitischen Bereichen nicht vernachlässigen.

Annex: Der Nationale Volkskongress

Einmal im Jahr versammeln sich die rund 3.000 Delegierten des Nationalen Volkskongresses für fast zwei Wochen in der Großen Halle des Volkes in Peking.

Die Delegierten des NVK werden nach einem indirekten Verfahren von den Volkskongressen auf den unteren Ebenen bestimmt. Sorgfältig nach Proporzkriterien ausgewählt, sollen sie sämtliche Schichten der Gesellschaft repräsentieren und auf diese Weise der Herrschaft der Kommunistischen Partei die nötige Legitimation verleihen. Auf eine "repräsentative" Mischung wird dabei besonders großen Wert gelegt.

Von westlichen Beobachtern wird dem NVK häufig vorgeworfen, eine machtlose Institution zu sein, die lediglich dem Zweck diene, Entscheidungen der Parteiführung abzunicken. Tatsächlich laufen die jährlichen Vollversammlungen des Parlamentes in der Regel ohne größere Kontroversen ab. Dennoch ist der NVK im politischen System der VR China eine entscheidende Größe. Seine Macht übt er im Wesentlichen durch seinen einmal im Monat zusammen treffenden Ständigen Ausschuss sowie durch neun spezialisierte Fachausschüsse aus. Der Ständige Ausschuss und die Fachausschüsse haben in den vergangenen Jahren wiederholt Minister zur Rechenschaft gezwungen, oder Gesetze zurückgewiesen, wenn sie den Anforderungen nicht genügten. Die meisten Gesetze der VR China werden von Spezialisten in den Ministerien in Zusammenarbeit mit dem mächtigen Ausschuss für Rechtsangelegenheiten des NVK erarbeitet. In diesem Jahr stehen im ständigen Ausschuss eine Reihe wichtiger Gesetzesvorhaben zur Beratung an, unter anderem ein Gesetz zur Sozialen Sicherung sowie zur Sozialfürsorge.

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