Asset-Herausgeber

Außeralltäglich alltäglich

von Tilman Allert

Ausdrucksformen der Normalisierung und Resistenz unter diktiertem Geselligkeitsverzicht

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Maske und Abstand sind Ausdruck, aber auch immer wieder Stimulans der allerorten durch die Pandemie entstandenen normativen Konfusion. Jedes flüchtige Beisammensein im weiten Raum vorpolitischer Gemeinschaften gerät unter den strapaziösen Verdacht wechselseitiger Ansteckung. Von der Chorprobe bis zu den Treffen der Pfadfinder, des Gartenvereins, den Landfrauen oder den Zufallsgemeinschaften von Konzert­, Theater- oder Vortragspublika ist das soziale Leben davon betroffen. Was den Menschen fehlt, ist die zufriedenstellende Erfahrung eines beiläufigen sozialen Austauschs, der von nicht mehr lebt als von dem Gefühl, das eigene Normverständnis bestätigt zu sehen. Sich unter Menschen gleicher kultureller Wünsche begeben zu haben und gerade in der Interesselosigkeit von Begegnungen das Solidaritätsverständnis untereinander gestärkt zu sehen, ist lebensnotwendig für den Zusammenhalt.

Soziale Ordnungen sind auf Klatsch und Tratsch, auf undramatische Mikroinszenierungen von Zugehörigkeit angewiesen; solche, die nicht exklusiv sind, sondern die qua Anwesenheit eine Übereinkunft im Horizont eines bürgerschaftlichen Wertkonsenses zum Ausdruck bringen. Dieses Elixier des Sozialen auch nur anzudeuten geschweige denn zu initiieren, ist der Blick überfordert. Der Blick, mit Helmuth Plessner formuliert, der „begegnende Blick“, ist um die Chance gebracht, als erste Geste der Zuwendung, des Vertrauens oder der wenigstens neutralen Aufmerksamkeit wahrgenommen zu werden. Im öffentlichen Leben unter der Auflage des Maskentragens mutiert er zum Vorbehalt, zu einer Blockade, die sich in den Sekunden der Augenbegegnung zu einer Selbstblockade steigert. Das ist von niemandem gewollt, sondern ist von der gebotenen Vorsicht erzwungen, in der Handlungswirkung jedoch von Misstrauen nicht weit entfernt. Man schaut sich an, und just dieser Blick treibt auseinander. Das Sehen des Gegenübers, vormals ein möglicher Anlass, im Nachklang und während der eigenen Verrichtungen dem verstrichenen Moment nachzusinnen, gleitet über in eine wechselseitig stimulierte Misanthropie.

 

Anstrengendes Korsett des Höfischen

 

Geringfügige mimische Elemente, über die Menschen verfügen, um das Anblicken zu „normalisieren“ und im Schock der Begegnung deutlich zu machen, dass die Kommunikationsnähe keine Bedrohung darstellt, verschluckt die Maske. Das maskierte Gesicht rückt das Kommunikationsgeschehen somit in eine Starre und nimmt ihm seine Beiläufigkeit. Das Hygienearrangement zwingt das soziale Leben in das anstrengende Korsett des Höfischen und beraubt das reiche Kommunikationspotenzial des Face-­to-Face­-Kontakts um Dimensionen der Spontaneität.

Im Maskentragen deuten sich somit Prozesse einer sozialen Desintegration und einer Elastizitätseinbuße an. Sie verlangen Anstrengungen ab, die den strapaziösen hygienischen Vorbeugemaßnahmen in nichts nachstehen. Diktiertes Misstrauen erhöht den Vertrauensbedarf. Offenkundig und nicht überraschend sind zwei Handlungskontexte besonders betroffen: der öffentliche Raum und der private Nahraum, die Wege, Straßen und Plätze einerseits sowie der zuwendungsintensive Nahraum der eigenen vier Wände andererseits. Die Kommunikationspraxis in und zwischen diesen Räumen steht gegenwärtig unter einem Askese­Diktat, das in Ausmaß und Dauer ungewöhnlich ist, allerdings keinesfalls eine Erosion von Regeln des Zusammenlebens befürchten lässt. Vergleiche mit dem Leben in totalen Institutionen wie Klöstern, Gefängnissen oder psychiatrischen Einrichtungen, bis hin zum Schreckgespenst vom Überwachungsstaat, wie sie von interessierter politischer Seite dramatisierend in die öffentliche Debatte lanciert werden, sind analytisch nicht hilfreich und destruktiv für die politische Ordnung.

Im Horizont unserer Skizze lässt sich erschließen, was geschieht, wenn, wie gegenwärtig, die Menschen auf die Mobilitätseinschränkung mit Nonkonformität reagieren. Dazu einige wenige Grundlagen der Soziologie. Menschen handeln nach Regeln, die als selbst gesetzte verstanden werden. Handeln ist Vorteil und Nachteil zugleich, für die Akteure strapaziös und komfortabel. Die Zeiten sind vorbei, Handeln und Unterlassen eine irgendwie substanzartige Qualität zuzuschreiben. Der Mensch ist nicht dem Menschen ein Wolf, aber auch nicht jemand, der ohne Weiteres die andere Wange hinhält, wenn er auf die eine geschlagen wurde. Sozialordnungen sind fragile Gebilde, vor Zerfall und Erosion schützt sie nichts anderes als die relative Konformitätsbereitschaft der Menschen, die in ihr leben. Entsprechend wird die Fügsamkeit gegenüber Regeln bestimmt nach dem Ausmaß der Einsichtsfähigkeit, danach, ob und inwieweit sie als vernünftig begründet und von daher verpflichtend übernommen und befolgt werden, seien sie auf Dauer gestellt oder ausdrücklich transitorisch gedacht, mithin für einen begrenzten Zeitraum vorgesehen.

 

Das Virus soziologisieren

 

Je länger die Ausnahmesituation der Pandemie, desto notwendiger, das Virus zu soziologisieren, die kollektiven Zumutungen handlungslogisch zu reflektieren. Die allenthalben zu beobachtende trotzige oder lässige Distanz zu den Corona­Auflagen, bewusst oder unbewusst, wissenschaftlich begründet oder juvenil inszeniert, bis hin zur abstrus politisch begründeten Obstruktion, sind soziologisch nicht überraschend. Bei den Hotspots stößt man auf Gemeinschaften nach dem Muster der „greedy institution“, einer Kontaktstruktur mit „heißer“, hoher kommunikativer Intensität. Greedy institutions, „gefräßige Institutionen“ nach einem Begriff des amerikanischen Soziologen Lewis A. Coser, entstehen dort, wo die Grenzen zwischen privatem und nicht privatem, etwa beruflichem Leben durchbrochen sind, eine Alternativenschrumpfung mit der Folge, dass sich die Menschen in einer „total societal position“ begegnen; nicht als Rollenträger, sondern als ganze Person, allerdings auf der Grundlage freiwilliger Mitgliedschaft.

Ein erster Typus ist die gesinnungsethisch motivierte Gemeinschaft. Hierbei folgen die Mitglieder einer Deutung der Welt, für die die Maxime bestimmend ist, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen. Entscheidend für die soziale Exklusivität ist dabei die Unterstellung eines Wertbezugs, der für alle Erfahrungssituationen einen Schutz verspricht. Sozial gebündelt ist eine solche Sicht nicht selten bei Mitgliedern von bestimmten Freikirchen. Milieus sektenartig übertriebener Glaubensfestigkeit liefern Beispiele für das Sicherheitsversprechen eines geistigen Rigorismus, der eine Skepsis nährt gegenüber allem, was von den Menschen kommt. Wird die Lebensführung unter einen derartigen Ideenhorizont gestellt, erübrigt sich das Einhalten von Abstandsregeln.

Ein zweiter Typus sind heroisch motivierte Situationsdeutungsgemeinschaften. Sie gründen sich vor dem Hintergrund kollektiver Enttäuschungserfahrungen. Um dies auf die deutsche Situation beziehen zu können, muss man etwas weiter ausholen. Unter Diktaturen leben die Menschen in Kontaktstrukturen, die durch Misstrauen bestimmt sind, und zwar wechselseitig. Misstrauen ist in Diktaturen die Strategie der staatlichen Organe gegenüber der Bevölkerung, begründet Bespitzelung und lädt ein zu Denunziation. Misstrauen filtert das Verständnis der Gegenwart und begünstigt eine Schrumpfung spontaner Geselligkeit. Die Infektionsverbreitung während der ersten Phase der Pandemie in den Ländern der ehemaligen DDR verweist auf den hier angedeuteten historischen Hintergrund. Daran, dass die Alltagskultur praktisch nicht existierte, Sozialkontakte somit auf ein Minimum beschränkt waren, war man jahrelang gewöhnt. Geselligkeitsdistanz verschwindet nicht von heute auf morgen, wenn etwa die politischen Bedingungen andere sind. Just die Tatsache, scheinbar von der Pandemie verschont geblieben zu sein, beschwor nun kehrseitig den kollektiven Unmut über die von der Regierung diktierten Abstandsregeln herauf. Die Erinnerung an die Zeiten der Zwangskonformität legte sich auf die Wahrnehmung der pandemiebedingten Maßnahmen. Kein Wunder, dass unter der hier nur grob skizzierten besonderen Perspektivierung durch ein historisches Trauma viele Menschen sich zu einer Art nachträglichem Ungehorsam zusammenfanden; eine Geste, der sich auch und gerade die Generation angeschlossen hatte, die die DDR und deren Lebenseinschränkungen nur noch aus Erzählungen kennt.

 

Sozialer Status und hohe Inzidenz

 

Nonkonformität entsteht schließlich als dritter Typus im Milieu der Zugewanderten, typologisch formuliert: aus Anatolien oder Syrien. Die Erfahrung einer umfassenden Solidaritätsstütze durch das eigene erweiterte Familien- und Verwandtschaftsgefüge, wie sie für viele Menschen mit Migrationshintergrund charakteristisch ist, nährt die Suggestion, man habe es bei dem, was im öffentlichen Raum geschieht, mit etwas Fremdem zu tun, allenfalls mit einer Bedrohung, gegen die der Schutzschirm des familialen Partikularismus Halt verspricht. Bewusst als einziger Kosmos minimaler Lebensorientierung aufgesucht oder unbewusst und wie selbstverständlich in Anspruch genommen, trifft man sich exklusiv in einer naiven Kontaktintensität, die für die Beteiligten auch dadurch an Überzeugungskraft gewinnt, dass die Wohn- und Lebensverhältnisse in den meisten Fällen ohne Alternative sind. Die unwürdigen Zustände der durch Subunternehmen ins Land geholten osteuropäischen Leiharbeiter mögen beseitigt sein, aber wie viele „Tönnies“ gibt es in diesem Land? Der soziale Hintergrund der hohen Inzidenzwerte ist somit leicht zu benennen. Niemanden sollte überraschen, wenn sich das Infektionsgeschehen nicht nur an Orten wie Alten- und Pflegeheimen verdichtet, an exemplarischen greedy institutions. Es kovariiert, wie an den vorausgehenden typologisch unterschiedenen Konstellationen gezeigt wurde, mit dem sozialen Status, ist somit keineswegs diffus oder dauerhaft rätselhaft.

Allerdings stellt sich die Frage, welche politischen Schlussfolgerungen zu ziehen wären. Hier wird die Situation unüberwindbar kompliziert. Schnell gerät man in das nicht auflösbare Dilemma eines modernen Verfassungsstaates, der aus einem prinzipiellen Schutz der Persönlichkeitsrechte seine politische Identität bezieht und von daher bei Versuchen der Effektivierung von Sozialkontrollen schnell an seine Grenzen stößt. Weder institutionell noch normativ lässt sich vermutlich die entstandene Konfusion in den Griff bekommen.

 

Anomische Vorgänge

 

Die Möglichkeiten, die Kontaktintensität zu minimieren, scheinen außerordentlich begrenzt. Der neidische Blick auf die Staaten des asiatischen Kulturraums und die dort geltenden und von der Bevölkerung gewohnheitsmäßig akzeptierten Sozialkontrollen ist nachvollziehbar; allerdings steht die kollektive Erfahrung der europäischen Völker dagegen, die sich weigern, sich erneut beziehungsweise im Grenzfall mit noch gravierenderen Belastungen auf eine Zwangskonformität einzustellen. Auch die hier typologisch identifizierten Kontaktmuster lassen sich nicht unmittelbar in Strategien der Eingrenzung übersetzen. Beschränken wir uns auf drei Möglichkeiten: Zum Ersten die Solidaritätsappelle – sie erschöpfen sich schnell in einer Gesellschaft, die holistische normative Traditionen der Gemeinschaftsbildung entschlossen von sich weist. Die deutsche Bevölkerung sieht sich weder als ein Volk noch als eine Klasse, zwei gemeinschaftsstiftende Ideen, die nichts als Unheil angerichtet haben. Bleibt somit der Bezug auf die Ethik der Nächstenliebe sowie auf den Universalismus eines allgemeinen Respekts vor der Dignität der Person, unabhängig von Geschlecht, Alter und sozialer Herkunft.

Zum Zweiten Sanktionsverschärfung – sie politisch durchzusetzen und die Polizei entsprechend zu beauftragen, wäre an das Rechtfertigungsprinzip des demokratischen Verfassungsstaates gebunden und geriete zwangsläufig in die Strittigkeit politischer Meinungsbildung und somit in den scharfen und notwendigen Streit zwischen Regierung und Opposition. Schließlich zum Dritten die soziale Isolierung – clusterartige Absperrung oder Eingrenzung einzelner Regionen oder Bevölkerungsgruppen nach der Logik von Grenzschließungen sind mit der Austauschlogik von Marktbeziehungen und der damit einhergehenden räumlichen Mobilität unverträglich. Das zeigt sogar die Entwicklung in den vielfach bewunderten Staaten Asiens.

Zweifelsohne sieht sich das Land vor dem Hintergrund wachsender Ungeduld, vor dem Hintergrund von sozialen Kontaktgewohnheiten, die kaum zu durchbrechen sind, mit anomischen Vorgängen konfrontiert, ohne dass diese das Stadium einer Panik erreicht hätten. Insgesamt gesehen ist gegenwärtig das Vertrauen in die Institutionen in Gefahr. Dass diese ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen, wäre die Schlüsselerfahrung, über die die Frage nach der politischen Loyalität künftig beantwortet werden wird. Schließlich werden alle Maßnahmen auf die Gestaltungseffizienz der politischen Eliten hochgerechnet. Insofern ist trotz der Zumutungen des Abstandsdiktats nicht die Alltagskommunikation, sondern die institutionalisierte Krankenversorgung, vom Gesundheitsamt bis zur Intensivstation, bedroht.

 

Unvereinbare Suggesitivität

 

Was darüber hinaus und zusätzlich zur just eingeleiteten Impfung zu tun wäre, ist schwer zu beantworten. Die Pandemie trifft alle, doch längst nicht alle gleichermaßen. In Anerkenntnis des „Muddling­Through“, des „Sich-Durchwurschtelns“, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln, den Opportunitäten der Situation zu genügen, ohne eingeschlagene Wege vorschnell wieder zu verlassen, Abstimmung mit den Staaten im Kooperationsnetzwerk der Europäischen Union, sind schwache Mittel, jedoch vermutlich die einzig realistisch handhabbaren. Der Traum, den manche statistischen Hochrechnungen aufdrängen, mal eben, wenn auch nur vorübergehend, die Kontaktrigidität nach asiatischem Muster, mit Quarantäne­Containern für die Bevölkerung ganzer Regionen, zu übernehmen, hat eine verblüffende Suggestivität, ist hingegen mit den Erfahrungen aus dem historischen Schicksal der europäischen Völker unvereinbar.

 

Tilman Allert, geboren 1947 in Lübbecke, Seniorprofessur für Soziologie und Sozialpsychologie mit dem Schwerpunkt Bildungssoziologie, Goethe-Universität Frankfurt  am Main.

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