Asset-Herausgeber

von Karen Horn

Machteliten und Moral

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„Oben“ ist relativ. Aber „da oben“, das ist soziologisch immer weit weg von einem selbst. „Die da oben“, das sind üblicherweise einflussreiche Personen, gegen die sich in der Gesellschaft Unmut regt. „Die da oben“ haben Macht, aber keinen Wert. Moralisch gelten sie als verkommen. Die „Spitzen der Gesellschaft“ stellen sie in verbreiteter Wahrnehmung allenfalls insofern dar, als sie einer faktischen „Funktionselite“ angehören: als hohe Funktionsträger in Wirtschaft, Politik und anderen Sphären der Gesellschaft. Als kleine Gruppe mit Einfluss formiert sich damit auch eine „Machtelite“, wie sie der amerikanische Soziologe Charles Wright Mills (1916–1962) nannte, eine Art herrschende Klasse, die zum Rest der Bevölkerung in Opposition steht. Sie entspricht nicht immer wirklich einer Leistungselite. Erst recht nicht taugt sie zur moralischen Elite, zu „säkularen Heiligen“, zur „Nobilitas naturalis“, wie sie sich der deutsche Ökonom Wilhelm Röpke (1899–1966) erträumte, „als solche bereitwillig und mit der ihr zukommenden Achtung anerkannt“. Nein, Eliten sind eher böse. Wie uns Populisten verschiedener Couleur eintrichtern, verraten sie uns, verschwören sich gegen die Allgemeinheit. Oder?

Tatsächlich mangelt es kaum an Beobachtungen, die sich für derlei Agitationen nutzen lassen, zum Beispiel in der Wirtschaft, die schon lange ein gängiger Gegenstand der Elitenkritik ist. Stopfen sich Top-Unternehmer und Manager nicht die Taschen voll, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Gespür für Anstand, ohne Grundsätze? Ist es nicht Beleg genug hierfür, wenn es sich schon die Führung eines deutschen Weltkonzerns wie Volkswagen nicht verkneifen kann, Dieselautos so zu manipulieren, dass sich gesetzliche Grenzwerte umgehen lassen, was am Ende auch die Käufer schädigt? Wenn die Steuervermeidung durch Unternehmen international derart gang und gäbe ist, dass sich die G20­-Staaten und inzwischen mehr als 130 weitere Länder aus Sorge um ihre Einnahmen und um die Steuergerechtigkeit bemüßigt sehen, eine allgemeine Mindeststeuer vorzuschreiben? Was ist mit Wirecard? Mit den Cum-ex-Geschäften der Hamburger Bank Warburg, bei denen der voraussichtlich künftige Bundeskanzler Olaf Scholz eine zweifelhafte Rolle spielte? Wenn der Inhaber eines Nahrungsmittelkonzerns, der Subventionen angenommen hat, seinen Produktionsstandort steuer- und arbeitskostenminimierend ins Ausland verlagert und dies nur lakonisch mit den Worten entschuldigt: „Was legal ist, ist auch legitim“? Und wenn Manager westlicher Firmen die Augen davor verschließen, dass sie sich zum Handlanger eines totalitären Regimes machen, weil sie meinen, auf den chinesischen Markt keinesfalls verzichten zu können? So wie der Autohersteller Daimler, der für eine Werbung mit einem Zitat des Dalai Lama hochnotpeinlich Abbitte tat? Uns allen fielen noch mehr Beispiele ein.

 

Abgründe, wohin man schaut…

 

Ein „da oben“ gibt es allerdings nicht nur in der Wirtschaft, sondern naturgemäß auch in der Politik. Und auch hier, bei den sogenannten Volksvertretern, lassen sich immer wieder Verhaltensweisen beobachten, die nicht gerade für moralische Lauterkeit sprechen, sondern vielmehr eine Geringschätzung der Bürger und ihrer berechtigten Interessen erkennen lassen. Da ist zum Beispiel die Bigotterie des früheren österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz, der sich zwar als Law-and-Order­-Mann in Szene setzte, gegen den aber jetzt der Vorwurf im Raum steht, er habe seinen steilen Aufstieg kräftig damit befördert, dass er mit Steuergeldern die öffentliche Meinung manipulieren ließ. Man denke auch an den ehemaligen deutschen Bundestagsabgeordneten Georg Nüßlein, gegen den die Behörden wegen des Verdachts ermitteln, für die Vermittlung von Corona-Schutzmasken Provisionen im sechsstelligen Bereich kassiert zu haben. Oder an die Pandora Papers, die dokumentieren, dass auch Politiker aus verschiedenen Ländern jene Briefkastenfirmen besitzen, die sich bestens zur Geldwäsche und zur Steuervermeidung nutzen lassen – zum Beispiel der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski und der inzwischen abgewählte tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš. Und was soll man vom schweizerischen Finanzminister Ueli Maurer halten, der offen mit Impfgegnern sympathisiert und die Corona-Politik der eigenen Regierung hintertreibt? Ein besonders spezielles Exemplar war natürlich der Unternehmer Donald Trump, der gegen die Washingtoner Machteliten zu Felde zog, indem er sich in genau dieselbe emporhisste und zu einem der wohl am weitesten von moralischer Elite entfernten Präsidenten wurde, den die Vereinigten Staaten je hatten. Auch diese Liste ließe sich verlängern.

 

Zu groß geratene Egos

 

Wirtschaft, Politik – leider ist es damit noch lange nicht getan. Auch in anderen Sparten des gesellschaftlichen Lebens tun sich immer wieder einmal Abgründe der sogenannten Eliten auf. Nicht zuletzt aus den Medien hört man Bedenkliches: Gerade erst wurde der skrupellos aggressive Boulevardjournalist Julian Reichelt, der schon seit Jahren gehörig dazu beitrug, das gesellschaftliche Klima in Deutschland zu vergiften, aus seiner Elitenposition als mächtiger Bild-Chefredakteur geschasst – wohlgemerkt wegen hausinterner Liebschaften und seines damit verbundenen Machtmissbrauchs. Und wer erinnert sich nicht an den begnadeten, viel bewunderten Starreporter Claas Relotius, der sich schließlich bloß als einfallsreicher Fälscher entpuppte – ein Medienskandal, der das einflussreiche Nachrichtenmagazin Der Spiegel vor drei Jahren ebenso erschütterte wie das Vertrauen seiner Leserschaft? Auch in diesen Fällen sind die individuellen Egos offenbar um einiges zu groß geraten, und das zum Schaden der Allgemeinheit. Dass sich im Hintergrund solcher Geschehnisse noch nicht einmal wirklich eine Verschwörung finsterer Kräfte erkennen lässt, macht die ganze Sache vielleicht sogar noch unheimlicher.

„Da oben“ finden sich also in der Tat jede Menge Verfehlungen und Missstände. Sind es mit der Zeit mehr geworden, war also früher alles besser, klaffte die Schere zwischen Funktionselite und moralischer Elite damals weniger stark auseinander? Schwer zu sagen. Unsere Wahrnehmung ist da nicht verlässlich: Im Ablauf der Zeit verliert sich die intensive emotionale Betroffenheit; die Erinnerung an Vergangenes ist oftmals wesentlich milder als der spontane Zorn über Gegenwärtiges. Aber vermutlich wissen wir heute mehr, erfahren wir mehr.

Wichtiger ist vielleicht aber auch etwas anderes: die Antwort auf die große Systemfrage. Kann man mit den vielen akut Empörten über die Verfehlungen und Skandale, in die Mitglieder der sogenannten Elite verwickelt sind, tatsächlich sinnvoll folgern, dass nicht nur Einzelne, sondern auch die Eliten als Ganzes moralisch verkommen sind und der Allgemeinheit mehr schaden als dienen? Und mehr noch: Ist das dann gleich auch schon, wie es oft heißt, ein Zeichen für die Dysfunktionalität eines ganzen Systems? Ist eine Wirtschaftsordnung, die es zumindest vorübergehend möglich macht, dass ein Automobilhersteller auf breiter Front betrügt, nicht zutiefst bankrott? Ist also die Marktwirtschaft überhaupt noch lebensfähig? Und ist nicht etwas Grundlegendes falsch an einem politischen System, das beispielsweise einen Sebastian Kurz nach oben spült? Hat die Demokratie abgewirtschaftet, ist sie überhaupt noch zu retten? Sind Medien, in denen es möglich ist, angebliche Wahrheiten zu erfinden, überhaupt nützlich?

 

Allesamt Versager?

 

Gemach, gemach. Erstens sind die Angehörigen der Funktionseliten ja nicht allesamt verkommene Versager, die die Allgemeinheit schädigen. Im Gegenteil: Dass bei uns die Wirtschaft in der Coronakrise so robust und resilient ist, wie wir es erlebt haben, und dass die Politik in der Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen in den großen Linien letztlich viel richtig gemacht hat, sollte das Gezeter der Elitenkritiker schon einmal dämpfen. Das in der Summe gute Bild wäre ohne ein letztlich nicht ganz untaugliches Personal der Funktionselite nicht zustande gekommen. Im Übrigen sind durch die Pandemie auch neue Persönlichkeiten ganz nach „da oben“ in die öffentlich wahrgenommene Spitze der Gesellschaft aufgestiegen, auch und gerade außerhalb der Politik. Für sie sollte der Terminus der Elite ohne nörglerische Nebengeräusche Anwendung finden: für Wissenschaftler und Unternehmer wie die BioNTech-Gründer und Corona-Impfstoffpioniere Uğur Şahin und Özlem Türeci. Ihr Verdienst für die Allgemeinheit ist immens, und dass sie dabei inzwischen gut verdienen, ist … ebendies: wohlverdient.

Zweitens sind wir mit Marktwirtschaft und Demokratie bisher ausgesprochen gut gefahren, und es gibt keinen diesen Systemen inhärenten Grund, warum sich das in Zukunft ändern sollte. Natürlich sind die freiheitlichen, rechtsstaatlichen Marktwirtschaften und Demokratien des Westens dabei nicht davor gefeit, dass Menschen ihre Möglichkeiten missbrauchen, und sie können auch nicht immer Schaden für die Allgemeinheit verhindern. Aber ihre geschichtlich gewachsenen Institutionen sind sehr wohl gerade darauf ausgerichtet, dass sie auch dann noch funktionieren, wenn die einzelnen Akteure nicht unmittelbar das hehre Gemeinwohl vor Augen haben, sondern ihre eigenen, mitunter ausgesprochen egoistischen Interessen verfolgen. Das ist nicht aus Zynismus geboren, sondern aus Lebensklugheit. Es ist das Ergebnis jahrhundertelangen Nachdenkens auf dem Feld der politischen Philosophie. Der Mensch ist nicht per se, nicht nur und auch nicht immer böse, nicht einmal die Angehörigen einer Funktionselite. Aber wir sind alle fehlbar. Die Gesellschaftsordnung muss das so oder so aushalten.

 

Notwendige Kritik

 

Zudem fallen Eigeninteresse und Gemeinwohl nicht immer ganz von selbst in eins; dafür müssen schon die gesellschaftlichen Institutionen sorgen. Sie müssen Grenzen ziehen und effiziente Sanktionen vorsehen, damit dem moralischen Sollen des Einzelnen auch ein Können entspricht. Und siehe da, diese Mechanismen funktionieren doch immer noch ganz gut: Die Dieselmotor-Manipulationen von Volkswagen und anderen Automobilherstellern sind ans Licht gekommen, es gab Gerichtsurteile, und der auch finanziell wirksame Reputationsschaden für die Unternehmen ist immens. Die Wirecard-Betrügereien sind ebenso aufgeflogen wie die Cum-ex­-Geschäfte. Sebastian Kurz musste inzwischen als österreichischer Bundeskanzler zurücktreten, und der tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš wurde abgewählt. Und auch Julian Reichelt ist weg. Verfehlungen bleiben also nicht systematisch im Verborgenen, die institutionellen Sanktionsmechanismen greifen grundsätzlich, die gesellschaftlichen Selbstheilungskräfte wirken: nicht immer, aber doch immerhin tendenziell und offensichtlich sogar meistens. Das ist wesentlich besser, als man woanders hoffen kann. Es ist dies, wenn man so will, die „List“ der liberalen, rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Demokratie.

Diesen Korrektiven ist auch zu verdanken, dass das Vertrauen der deutschen Bevölkerung weder gegenüber den Institutionen noch gegenüber unserer Gesellschaftsordnung gar dermaßen zerrüttet ist, wie es uns Populisten von rechts wie links weismachen wollen. Die Wirtschaft genießt immerhin laut einer repräsentativen Umfrage großes oder sehr großes Vertrauen bei 49 Prozent der Bevölkerung, die Bundesregierung sogar bei 61 Prozent und das Parlament bei 57 Prozent, die Presse (Tageszeitungen) bei 58 Prozent.1 Auch das Systemvertrauen ist solide: Immerhin 54 Prozent der Menschen haben eine gute Meinung vom deutschen Wirtschaftssystem, wie eine repräsentative Allensbach-Umfrage gezeigt hat.2 Und die EU-Kommission hat festgestellt, dass 72 Prozent der Deutschen mit der „Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert, alles in allem“ sehr oder wenigstens ziemlich zufrieden sind.3

Die eingebauten Korrektive unserer Gesellschaftsordnung sind essenziell für deren Akzeptanz und für den Fortbestand von Freiheit und Wohlstand. Sie spielen aber auch eine entscheidende Rolle dafür, dass es der Gesellschaft gelingen kann, sich moralisch ihrer selbst zu vergewissern. Mit jeder Verfehlung der Funktionselite, die ans Licht der Öffentlichkeit gerät, in jeder kollektiven Aufwallung von Empörung verhandeln wir gemeinsam unsere Werte, suchen nach möglichen Überschneidungen und notwendigen Abgrenzungen, versichern uns eines moralischen Grundkonsenses. „Die da oben“ stehen allzeit unter der Beobachtung der Allgemeinheit, und das ist gut so. Man mag deren Aufwallungen mitunter wohlfeil finden, zumal sie oft schnell verebben und ohne Folgen bleiben. Es ist trotzdem gut und wichtig, dass es sie gibt. Sie sind ein Zeichen dafür, dass wir Ansprüche erheben gegenüber denjenigen Personen, die es in Spitzenpositionen geschafft haben, die also über Einfluss und Macht verfügen – Ansprüche an ihre Leistung ebenso wie Ansprüche an ihre Moral. In den allzu romantischen Traum von einer „Nobilitas naturalis“ sollten wir aber nicht wieder zurückfallen: Er ist schlicht eine Überforderung.

 

Karen Horn, lehrt ökonomische Ideengeschichte  und Wirtschaftsjournalismus an der Universität Erfurt. Außerdem ist sie Chefredakteurin der Fachzeitschrift „Perspektiven der Wirtschaftspolitik“, Geschäftsführerin der Herbert Giersch Stiftung, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft sowie Co-Vorsitzende des akademischen Netz-werks für Ordnungsökonomik und Sozial-philosophie („NOUS“). Sie lebt in Zürich.

 

1 Statista Research Department: Umfrage zum Vertrauen in die Institutionen in Deutschland 2020, 14.10.2021, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/814334/umfrage/vertrauen-in-die-institutionen-in-deutschland/ [letzter Zugriff: 21.10.2021].
2 Institut für Demoskopie Allensbach: Soziale Marktwirtschaft – Bewährungsprobe in der Krise, 29.03.2021, www.insm.de/fileadmin/insm-dms/text/publikationen/Allensbach_Umfrage_2021/12031_Soziale_Marktwirtschaft_Studienbericht_29032021_1_.pdf [letzter Zugriff: 21.10.2021].
​​​​​​​3 Statista Research Department: Umfrage in Deutschland zur Zufriedenheit mit der Demokratie 2021, 13.10.2021, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/153854/umfrage/zufriedenheit­mit­der­demokratie­in­deutschland/ [letzter Zugriff: 21.10.2021].

 

 

 

 

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