Asset-Herausgeber

von Patrick Keller

Was Deutschland für das Bündnis tun muss

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Seit der Wiedervereinigung verfolgt Deutschland im nordatlantischen Verteidigungsbündnis ein doppeltes Interesse: Es will einerseits als verlässlicher Partner wahrgenommen werden, andererseits dafür aber so wenig Ressourcen wie möglich einsetzen. Eine durchaus smarte Herangehensweise. Denn Verlässlichkeit ist das höchste Gut einer Allianz, die auf dem Versprechen beruht, einander im Ernstfall beizustehen. Dieses Versprechen, insbesondere der Vereinigten Staaten von Amerika, ist und bleibt die Existenzgrundlage europäischer Sicherheit, wären die Europäer allein doch nicht in der Lage, sich fremder Dominanzansprüche – etwa aus Russland – zu erwehren. Und es erscheint als kluge Politik, für ein gewünschtes Ergebnis nicht mehr zu bezahlen als unbedingt nötig.

Deshalb hat Deutschland zwar mitgemacht, wenn es um Erfordernisse des Bündnisses ging – etwa als einzige kontinentaleuropäische Führungsnation bei der Truppenpräsenz im Osten der NATO und als zweitgrößter Truppensteller bis zum bitteren Ende in Afghanistan. Zugleich hat Deutschland in der NATO immer unter seiner Gewichtsklasse als größte Volkswirtschaft der Europäischen Union gespielt und seine Verteidigungsinvestitionen so niedrig gehalten, dass die von der NATO 2014 in Wales beschlossene Vorgabe, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Verteidigungsausgaben zu investieren, nie ernsthaft in Reichweite war. In Afghanistan hat sich Deutschland auf den lange Zeit nur wenig umkämpften Norden beschränkt und innerhalb des Bündnisses kaum Beiträge zur politisch-strategischen Weiterentwicklung geleistet. Die neue Bundesregierung wird dies ändern müssen. Eine Politik des minimalen Engagements bei gleichzeitig maximaler Erwartung – der Gewährleistung der eigenen Sicherheit durch andere – ist nicht länger erfolgversprechend. Das hat zwei Gründe. Zum einen hat sich die Bedrohungslage verschärft: Putins Russland sieht sich in offener Gegnerschaft zum Westen, zur NATO und zur Europäischen Union. Neben ständigen Nadelstichen – Verletzungen des NATO-Luftraums, Cyberangriffen – ist bei passender Gelegenheit auch eine militärische Offensive wie 2014 gegen die Ukraine nicht auszuschließen.

Von noch weitreichenderer Bedeutung ist das Ausgreifen Chinas, das seine ökonomische Macht in politische und militärische Macht ummünzt und begonnen hat, strategische Hebel gegenüber Europa anzusetzen. So gewinnt China nicht nur zunehmend die Kontrolle über Kritische Infrastrukturen in Europa (Häfen, digitale Netze), sondern unterhält inzwischen mehr Kampfschiffe im Mittelmeer als Frankreich.

Neben der strategischen Herausforderung durch autoritäre Großmächte bleibt Europas Sicherheitsumfeld – auch im Mittelmeerraum – durch Instabilität gekennzeichnet. Die Folgen – Terrorismus, Organisierte Kriminalität, ungesteuerte Migration – beschäftigen nicht nur die südlichen NATO-Staaten, sondern betreffen auch die Sicherheit Deutschlands und den Zusammenhalt der Europäischen Union.

 

Das Ende des „Unipolaren Moments“

 

Der zweite Grund, warum Deutschland sich stärker in der NATO engagieren muss, ist die veränderte Rolle der USA. Das kurze Zeitalter des „Unipolaren Moments“ ist vorüber, die Übermacht der USA ist nicht mehr unangefochten. Alle Prognosen sprechen dafür, dass China die USA bald an wirtschaftlicher Kraft überholen wird. Auch ist nicht mehr gewährleistet, dass die USA überall auf der Welt jederzeit aus einem militärischen Konflikt siegreich hervorgehen. Selbst wenn Amerika – wie schon so oft – allen Unkenrufen zum Trotz die führende Weltmacht bleiben sollte: Es wird dies nur um den Preis einer engeren Auslegung der nationalen Interessen erreichen. Die Stabilisierung der erodierenden Machtressourcen hat Vorrang vor internationalen Verpflichtungen. Das ist das verbindende Element der letzten drei Präsidentschaften – von „Nation-Building at Home“ (Barack Obama) über „Make America Great Again“ (Donald Trump) bis zu „Build Back Better“ (Joe Biden). Das bedeutet, gerade mit Blick auf den amerikanischen Kongress, dass die Bereitschaft weiter abnehmen wird, Verbündete zu verteidigen, die sich – etwa ausweislich ihrer Streitkräfteetats – erkennbar nicht selbst verteidigen wollen.

Nicht zuletzt haben die Bilder aus Afghanistan nach dem überstürzten Abzug der westlichen Truppen in der deutschen Öffentlichkeit ein neues Bewusstsein geschaffen, wie sehr wir internationale Entwicklungen mitgestalten können – zum Guten wie zum Schlechten. Wozu das führt, ist noch nicht entschieden. Aber klar ist: Das Scheitern in Afghanistan ist auch das Scheitern einer Politik des Laufenlassens, des halbgaren Auch-dabeiSeins. Es genügt eben nicht, jahrelang Präsenz zu zeigen, nur um im Bündnis nicht isoliert zu sein, aber für die Wirksamkeit des gemeinsamen Ansatzes kaum Interesse aufzubringen. Verlangt wird mehr Entschiedenheit, mehr – auch intellektuelle – Sorgfalt. Gerade mit Blick auf europäische Lösungen kommt es auf Deutschland an, weil sich viele Partner an uns orientieren, sich erst von uns im besten Sinne anstiften lassen. Das erfordert von der nächsten Bundesregierung mehr Investitionen in die gemeinsame Sicherheit – nicht nur von Geld, sondern von politischer Kreativität, Führungsbereitschaft, Risikoübernahme.

Derzeit läuft in der NATO der Prozess zur Erstellung eines Strategischen Konzepts, das 2022 beim Gipfeltreffen in Madrid in Kraft treten soll. Es ist die erste Überarbeitung dieses grundlegenden Dokuments seit 2010; dementsprechend gibt es großen Gestaltungsbedarf. Auch gilt es, darauf zu achten, das Strategische Konzept der NATO mit dem Strategischen Kompass der Europäischen Union abzustimmen – einem vergleichbaren Dokument, das parallel und zum ersten Mal erstellt wird. Für die neue Bundesregierung wird es nicht zu spät sein, in diese Prozesse einzugreifen. Vor allem aber wird sie die dort gefassten grundsätzlichen Vorgaben mit Leben füllen und umsetzen müssen.

 

Agenda der deutschen NATO-Politik

 

Was bedeutet das für die deutsche NATO-Politik? Vier Aspekte sind von herausragender Bedeutung:

Erstens müssen die Beschlüsse zur verbesserten Abschreckung und Verteidigung umgesetzt werden. Manche Stimmen in Deutschland erwecken den Eindruck, mit der rotierenden militärischen Präsenz in den baltischen Staaten und Polen sei den Vereinbarungen der Gipfel von Wales (2014) und Warschau (2016) Genüge getan. Aber diese Truppen haben eine vornehmlich politische Funktion: Sie signalisieren Russland, dass sich alle Verbündeten der Verteidigung der Ostgrenze verpflichtet fühlen. Im Falle eines Angriffs reichen diese Truppen jedoch nicht aus; zur Verteidigung der Ostgrenze der NATO braucht es verlegefähige Kräfte, die schnell aus dem NATO-Gebiet dort eingesetzt werden können.

Hierbei steht besonders Deutschland in der Pflicht, da es sich vielen kleineren europäischen Staaten als „Rahmennation“ angeboten hat. Das heißt, dass Deutschland sich bereit erklärt hat, bestimmte Truppenteile zur Verfügung zu stellen, die mit Masse den Kern gemeinsamer Verteidigungsfähigkeit in der NATO bilden. Um diesen Kern herum können Streitkräfte kleinerer Verbündeter ebenso wichtige Spezialfähigkeiten angliedern. Wenn dies wie bei einem Puzzle gut untereinander abgestimmt ist, kann Europa einen Großteil seiner Verteidigung selbst leisten – und vermeidet Verschwendung und Doppelungen. Das funktioniert allerdings nur, wenn jeder seinen zugesicherten Teil beiträgt. Dazu muss die Bundeswehr, wie Verteidigungsplaner vorrechnen, zusätzliche acht bis zehn einsatzfähige Brigaden aufstellen, ausrüsten und ausbilden. Da bleibt noch viel zu tun, aber nur wenig Zeit.

Zweitens kann die Sicherheit Europas, solange es nuklear bewaffnete Staaten gibt, nicht allein durch konventionelle Streitkräfte gewährleistet werden. Deswegen haben die Staatsund Regierungschefs der NATO-Staaten bekräftigt, dass die NATO auch eine „nukleare Allianz“ bleibe, solange „Global Zero“ – das Ziel einer Welt ohne Nuklearwaffen – nicht Wirklichkeit wird. Deutschland ist über die Nukleare Teilhabe eng in diesen Teil der Bündnisstrategie eingebunden. Das ist nicht nur verteidigungsstrategisch wichtig, sondern auch bündnispolitisch: In der Teilhabe manifestieren sich Beistandsgarantie, wechselseitige Loyalität und die Bereitschaft, notwendige Risiken gemeinsam zu tragen. Würde Deutschland aus der Teilhabe ausscheren, hätte dies weitreichende Folgen für die nukleare Abschreckung der NATO und das Ansehen Deutschlands als verlässlicher Verbündeter. So ist es höchste Zeit, die veralteten deutschen Tornado-Flugzeuge zu ersetzen, damit Deutschland seinen Teil des Arrangements aufrechterhalten kann. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat dazu einen pragmatischen Vorschlag unterbreitet.

Drittens sollte Deutschland darauf hinwirken, dass die machtpolitische Herausforderung durch China in den Strategieerklärungen der NATO (und der Europäischen Union) auch in ihrer militärischen Dimension anerkannt wird. Es ist inzwischen offenkundig, dass China im Indopazifik eine eigene militärische Einflusssphäre zu errichten trachtet. Das ist nicht nur für gleichgesinnte NATO-Partnerstaaten wie Australien, Japan und Südkorea inakzeptabel, sondern eine Bedrohung für die liberale internationale Ordnung. Gerade für einen Handelsstaat wie Deutschland, der auf offene Seewege und die Verlässlichkeit internationalen Rechts angewiesen ist, werden unmittelbar nationale Interessen berührt.

Zudem strahlt der militärische Aufstieg Chinas auf die Hauptaufgabe der NATO aus: die Sicherheit in Europa. Denn China bindet zunehmend amerikanische Ressourcen, die dann womöglich in Europa fehlen. Sollte China zum Beispiel den militärischen Konflikt mit den USA um Taiwan suchen, fehlten amerikanische Truppen – oder zumindest der Fokus amerikanischer Entscheidungsträger – an der NATO-Ostflanke. Die Herausforderung Chinas verstärkt also noch die Dringlichkeit des ersten Aspekts, der verbesserten Verteidigungsfähigkeit der Europäer.

Allerdings sollte sich Deutschland davor hüten, einer klaren Arbeitsteilung – Europäer sichern Europa, Amerikaner den Indopazifik – das Wort zu reden. Denn zum einen funktioniert die Verteidigung Europas ohne die USA nicht. Und zum anderen ist China nicht nur eine Herausforderung für die USA, sondern für den Westen insgesamt. Wir dürfen die USA damit nicht allein lassen, zumal in der Breite und Tiefe der westlichen Partnerschaften ein wesentlicher Vorteil gegenüber China liegt. Natürlich wird der Fokus Deutschlands aus praktischen Gründen immer im europäischen Raum liegen. Aber eine kleine, durchhaltefähige, multinationale NATO-Präsenz im Indopazifik wäre mehr als ein willkommenes politisches Signal. Mit der zeitweiligen Entsendung der Fregatte „Bayern“ hat die Bundeswehr einen Anfang gemacht.

 

Illusorisches Krisenmanagement?

 

Viertens braucht es eine neue Balance zwischen den drei Kernaufgaben des Bündnisses. Das Strategische Konzept von 2010 erklärte Landesund Bündnisverteidigung, Krisenmanagement (Auslandseinsätze) und kooperative Sicherheit (Partnerschaften) zu gleichberechtigten Kernaufgaben. Es ist sinnvoll, der Landesund Bündnisverteidigung den Status des Primus inter Pares zuzuweisen, den sie de facto seit 2014 wieder genießt. Zugleich ist es jedoch wichtig, die anderen Kernaufgaben beizubehalten und ernst zu nehmen. Zwar mag es, gerade nach dem Debakel in Afghanistan, Stimmen geben, die das Krisenmanagement als illusorisch abtun. Unter den Bedingungen der Globalisierung kann Sicherheit jedoch nicht nur über die Verteidigung von Grenzen organisiert werden, sondern muss in gut begründeten und zielorientierten Fällen auch durch Machtprojektion geschaffen werden.

Auch wenn dafür gegenwärtig der politische Appetit fehlt: Die Notwendigkeit militärischer Missionen ergibt sich erfahrungsgemäß plötzlich, unerwartet – und unabweisbar. (Und das ist noch ganz abgesehen von dem politischen Argument, dass die südlichen NATO-Staaten einer Verengung der Kernaufgaben auf Abschreckung und Verteidigung – lies: die Ostflanke – nicht zustimmen werden.)

Dies sind nur die wichtigsten Anforderungen, die sich für eine neue Bundesregierung mit Blick auf die aktuellen Weichenstellungen der NATO ergeben. Weitere Themen – von der Cybersicherheit über den Klimawandel bis hin zur verbesserten Resilienz – ließen sich leicht hinzufügen. Allen gemeinsam ist, dass sie nur gemeistert werden können, wenn Deutschland zu einem neuen Blick auf seine Rolle im Bündnis findet. Allzu oft schwingt im deutschen Gespräch über die NATO die Haltung mit, es handele sich um ein „amerikanisches“ Bündnis, in dem die schwachen Europäer tun, was sie eben müssen. Ironischerweise ist in Amerika die Ansicht verbreitet, die NATO sei ein „europäisches“ Bündnis, das von den USA stets lästige Zugeständnisse erfordere. Die Wahrheit ist: Diese NATO ist das Bündnis aller ihrer Mitglieder. Sie ist – auch – unsere NATO. Was sie leisten wird, hängt mehr denn je davon ab, was wir ihr zu geben bereit sind.

 

Dieser Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.

 

Patrick Keller, geboren 1978 in Bonn, promovierter Politikwissenschaftler, Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin, zuvor Chefredenschreiber der Bundesverteidigungsministerinnen Ursula von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbauer, 2008 bis 2018 Koordinator Außen- und Sicherheitspolitik bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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