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Kultur der Mitverantwortung

von Peter Neher

Die Caritas als zivilgesellschaftliche Akteurin

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Demokratien im Dilemma: Werte und gelebte Solidarität können nicht verordnet werden; sie müssen erlebbar sein. Daher kommt Zivilgesellschaften eine besondere Bedeutung zu: Hier wird bürgerschaftliches Engagement gelebt, Solidarität geübt und Verantwortungsbewusstsein erfahrbar. Durch zivilgesellschaftliche Akteure werden nicht nur soziale Probleme zum Thema gemacht, sondern sie erproben auch neue und innovative Lösungswege. Diese Impulse bereichern die politischen Debatten und sind somit ein zentrales Element demokratischer Gesellschaften. Bürgerschaftliches Engagement stärkt den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Auch wenn die Politik auf dieses Engagement angewiesen ist, kann sie es nur bedingt fördern, etwa indem sie für geeignete und förderliche Rahmenbedingungen sorgt.

Wie wichtig es ist, zu erleben, dass man etwas verändern kann, zeigt sich bereits im frühen Kindesalter. Unter dem Titel „Demokratie in Kinderschuhen“ verfolgt der Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK), ein Fachverband des Deutschen Caritasverbandes, ein Projekt, um mehr demokratische Beteiligung in Kitas zu verwirklichen.1

Erzieherinnen und Erzieher werden unterstützt, eine Kultur des Miteinanders und Mitgestaltens zu entwickeln. Kinder sollen lernen, dass sie mitentscheiden können, wenn es etwa um die Gestaltung von Festen oder um die Tagesgestaltung geht. Sie sollen aber auch lernen, dass Vielfalt Regeln und Verfahren braucht, damit alle einbezogen werden können, unabhängig davon, wie gut sie die Sprache sprechen oder durch eine Behinderung beeinträchtigt sind.

Überall gilt: Zusammenhalt lässt sich nur voranbringen, wenn es gelingt, Teilhabemöglichkeiten für alle zu schaffen. Denn Engagement ist ein Ausdruck der selbstbestimmten Teilhabe von Menschen und einer gemeinsamen Verantwortung, das Zusammenleben zu gestalten. „Es vermehrt und erleichtert Zugänge zu sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Bereichen und kann auch Menschen in schwierigen sozialen Lagen helfen, Bezüge zum Umfeld und zur Gesellschaft aufrechtzuerhalten.“2

In der Bundesrepublik Deutschland hat sich ein subsidiäres Verständnis vom Sozialstaat entwickelt, das stark auf die Eigenverantwortung zivilgesellschaftlicher Organisationen setzt. „Zur Gewährung der notwendigen sozialen Hilfen geht der Staat ein Kooperationsverhältnis mit anderen Trägern und Institutionen ein, die aufgrund ihrer Ressourcen, ihrer Kompetenzen beziehungsweise ihrer geschichtlich gewachsenen Rolle für die Erbringung solcher Hilfen ausgewiesen sind, und räumt diesen in gewissem Sinne sogar einen Vorrang bei der Übernahme sozialer Aufgaben ein.“3

Gegenmodell zum alles regelnden Staat

Die Idee der Subsidiarität verdankt sich dem Sozialkatholizismus. In der Sozialenzyklika Quadragesimo anno entfaltete Papst Pius XI. diesen Begriff als Gegenmodell zu einem alles regelnden Staat. Das Subsidiaritätsprinzip beschreibt dabei den Vorrang kleinerer Einheiten einer Gesellschaft bei der Erbringung ihrer Rechte und Pflichten. Was eine kleinere Gemeinschaft tun und leisten kann, soll sie auch umsetzen, da es sich um ihr Recht und ihre Pflicht handelt. Die übergeordneten Ebenen bis hin zum Staat stehen ihrerseits in der Pflicht, einzugreifen, wenn es notwendig ist, um der unteren Ebene bei der Erledigung ihrer Aufgaben zu helfen.

Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege spielen eine wichtige Rolle im subsidiären Sozialstaat, da sie in großem Maße haupt- und ehrenamtliches Engagement binden. Aktuell arbeiten etwas mehr als 650.000 Menschen in den rund 25.000 Einrichtungen und Diensten, die von etwa 6.450 selbstständigen Rechtsträgern der verbandlichen Caritas getragen werden. Eine Auswertung der Zahlen zeigt, dass mehrere Hunderttausend Ehrenamtliche im Bereich der verbandlichen Caritas aktiv sind, hauptsächlich im Bereich Kinderund Jugendhilfe, in der Altenhilfe und den Migrationsdiensten.

„Drei Viertel waren weiblich, ebenfalls drei Viertel katholisch, der Ausländeranteil betrug sieben Prozent und die Hälfte der Ehrenamtlichen gehörte der Altersgruppe der 50bis 74-Jährigen an.“4 Diese Zahlen verdeutlichen nicht nur eine kirchliche Verankerung der Caritas. Sie zeigen auch, dass es gelingt, Menschen über unterschiedliche Milieus und weltanschauliche Zuordnungen hinweg für ehrenamtliches Engagement zu begeistern.

Seit den 1990er-Jahren hat die Sozialpolitik Raum für privat-gewerbliche Anbieter geschaffen. Sie setzt bewusst auf Markt und Wettbewerb, um sozialpolitische Ziele zu erreichen. Mit der stärkeren Marktorientierung ist die betriebswirtschaftliche Steuerung bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen auch für die Caritas deutlich verstärkt worden. Die Caritas als Verband gemeinnütziger Organisationen zeichnet sich unter diesen Vorzeichen mehr denn je durch eine Rollenvielfalt aus, die nicht nur zu Spannungen führt, sondern auch eine Chance darstellt. So ist sie in mehrfacher Hinsicht tätig, „als Teil der Kirche und als Wohlfahrtsverband ebenso wie als Unternehmen und Unternehmensverbund, als Trägerin von Einrichtungen und Diensten ebenso wie als Anwältin von Nutzer(inne)n/Klient(inn)en, von zivilgesellschaftlichen und Gemeinwohlinteressen und als Plattform und Verbund zivilgesellschaftlich engagierter Bürgerinnen und Bürger“.5

Gerade digitale Möglichkeiten erleichtern es Menschen, sich unabhängig von klassischen Großorganisationen für ihre Belange einzusetzen. Dies stellt eine Herausforderung für Wohlfahrtsverbände dar, deren Rolle sich im Kontext der Willensbildung verändert. „Will die verbandliche Caritas ernst machen mit dem Anspruch als Solidaritätsstifterin und zivilgesellschaftliche Akteurin, muss sie bereit sein, solche selbst organisierten Strukturen als Gesprächs- und Kooperationspartner zu akzeptieren und zu fördern.“6

Christlicher Wertehorizont

Spontane Initiativen bieten gerade dann Entwicklungsperspektiven für die verbandliche Caritas, wenn es gelingt, ehrenamtliches Engagement mit professionellen Strukturen in Verbindung zu bringen. Dies zeigt beispielsweise das ökumenisch-kirchliche Engagement in Osnabrück-Lüstringen.7 Ausgehend von der Unterstützung benachteiligter Kinder und deren Familien im Rahmen der Kirchengemeinden, hat sich ein Netzwerk mit unterschiedlichen Partnern und über siebzig ehrenamtlich Engagierten entwickelt. Begonnen hat dieses Engagement mit einer Hausaufgabenbetreuung für benachteiligte Kinder des Stadtteils. Durch dieses Engagement hat sich bei vielen Engagierten der Blick für den Sozialraum ihres Viertels verändert. Nach und nach kamen weitere Projektbausteine hinzu. So entstand unter anderem das Beratungsangebot „Hilfen im Alter“, das auf das Älterwerden der Stadtteilbewohner reagieren sollte, ohne dass es zunächst durch öffentliche Mittel finanziert gewesen wäre.

2017 wurde eine Beratungsstelle eröffnet, die Hilfen für Seniorinnen und Senioren bündelt: „Wohnraumberatung der Stadt; Sozialberatung mit dem Schwerpunkt Senior/innen der Caritas, Budget- und Schuldnerberatung der Diakonie; Pflegeberatung; Lenkung zu den richtigen Ansprechpartner/innen.“ Die Vielfalt der Kooperationspartner beeindruckt: Neben den Kirchengemeinden sind Arbeitsbereiche der Stadt, die Verbände von Diakonie und Caritas sowie weitere Sozialverbände eingebunden. Dieses Beispiel belegt die Innovationskraft spontaner Initiativen. Es zeigt jedoch auch, dass ehrenamtliches Engagement dann an Grenzen stoßen kann, wenn es um Verstetigung und Finanzierung von Projekten geht.

Wohlfahrtsverbände können zu Begegnungsorten einer vielfältigen Gesellschaft werden, wo Werte erlebbar sind. Dadurch leisten sie einen wichtigen Beitrag für unsere Gesellschaft. Dies gilt auch dann, wenn sie sich in politischen Debatten einmischen und auf Problemlagen hinweisen. Denn unsere Demokratie lebt von einer starken Zivilgesellschaft, die für die Grundprinzipien und Werte der Demokratie eintritt. Dem kommt unser sozialstaatliches Verständnis der Subsidiarität entgegen. Die verbandliche Caritas ist ein konfessioneller Wohlfahrtsverband, der sich einem christlichen Wertehorizont verbunden weiß. Aus diesem Grund sieht er seine Aufgabe darin, über trennende Kategorien hinweg zu verbinden. Durch die Verbindung haupt- und ehrenamtlichen Engagements stärkt er nicht nur die Teilhabe der Menschen. Er stellt auch deren Bedarfe in den Mittelpunkt.

1 Vgl. www.ktk-bundesverband.de/unserangebotunserearbeit/projekt-demokratie-inkinderschuhen/das-projekt/das-projekt
[Zugriff am 05.04.2019].

2 Deutscher Caritasverband: „Eckpunkte zum bürgerschaftlichen Engagement im Verständnis der Caritas. Für eine Kultur der Mitverantwortung“,
Fulda, den 15. Oktober 2014, in: neue caritas spezial (2017) 2, 9 (DCV, Eckpunkte).

3 Herbert Haslinger: Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit der Kirche, Paderborn/Stuttgart 2009, S. 122.

4 Martin Becker u. a.: „Ehrenamt – damit der Funke überspringt“, in: neue caritas 120 (2019) 3, 11.

5 DCV, Eckpunkte, S. 8.

6 Ebd., S. 10.

7 Vgl. Petra Potz: „Osnabrück-Lüstringen. Kirchliches Engagement im sorgenden Stadtteil“, in: Karin Vorhoff, Doris Beneke (Hrsg.): Kirche findet
​​​​​​​ Stadt. Zusammenleben im Quartier – Entwicklungspartnerschaften für lebenswerte Quartiere. Leitfaden, Deutscher Caritasverband, Diakonie
​​​​​​​ Deutschland, Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung, Berlin 2018, S. 27–29.

Peter Neher, geboren 1955 in Pfronten (Allgäu), promovierter Theologe, seit 2003 Präsident des Deutschen Caritasverbandes.

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