Asset-Herausgeber

von Thomas Petersen

Das zwiespältige Verhältnis zum Fortschritt

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Anfang des vergangenen Jahres führte das Institut für Demoskopie Allensbach eine Repräsentativumfrage in Hessen durch, in der unter anderem die Innovationsfreude der Bevölkerung untersucht wurde. Darin wurde unter anderem die Frage gestellt: „Computer, Internet und andere Technologien spielen heute ja eine immer größere Rolle. Glauben Sie, dass die Digitalisierung das Leben für die Menschen immer einfacher oder immer schwieriger macht?“ 42 Prozent der Befragten antworteten daraufhin, ihrer Ansicht nach mache die Digitalisierung das Leben einfacher, 28 Prozent widersprachen. An anderer Stelle im gleichen Fragebogen wurde die Frage gestellt: „Glauben Sie, dass die Digitalisierung mehr Sicherheit oder mehr Risiko mit sich bringt?“ Gerade zwölf Prozent antworteten hierauf, die Digitalisierung bringe mehr Sicherheit, fast zwei Drittel (62 Prozent) meinten dagegen, sie bringe mehr Risiko mit sich.

Diese beiden Umfrageergebnisse veranschaulichen, wie sehr die Deutschen beim Thema Innovation hin­ und hergerissen sind. Einerseits ist der Bevölkerung durchaus bewusst, dass der Wohlstand Deutschlands auf der Wettbewerbs­ und Erneuerungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beruht, andererseits sind viele technische Entwicklungen für die meisten Menschen unverständlich und werden nicht selten als unheimlich und eher als Gefahr denn als Chance angesehen, zumal das Bedürfnis der Bürger nach Veränderung generell gering ist. So stimmten in Hessen 57 Prozent der Aussage zu: „Alles in allem geht es Hessen doch gut. Es wäre daher das Beste, wenn sich nicht viel ändern würde.“ In einem solchen Klima haben es diejenigen, die Innovationen fordern, schwer.

Hinzu kommt ein Zeitgeistelement: In den letzten Jahrzehnten haben die Befragten in den Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach immer wieder ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber dem technischen Fortschritt zu Protokoll gegeben, aber selten war die Stimmung so fortschrittsskeptisch wie heute. Erkennbar wird dies beispielsweise an den Antworten auf die seit 1967 wiederholt bei bundesweiten Umfragen gestellte Frage: „Glauben Sie an den Fortschritt, ich meine, dass die Menschheit einer immer besseren Zukunft entgegengeht, oder glauben Sie das nicht?“ 1967 sagten 56 Prozent, dass sie an den Fortschritt glaubten, fünf Jahre später waren es sogar noch vier Prozent mehr. Danach aber änderten sich die Antworten drastisch: Bereits 1977 war der Anteil derer, die diese Antwort gaben, auf 39 Prozent gesunken, in den frühen 1980er­Jahren sank der Wert auf ein Drittel der Bevölkerung. 1983 sagte eine relative Mehrheit von 47 Prozent, sie glaube nicht an den Fortschritt. Nach der Jahrtausendwende nahm der Fortschrittsoptimismus wieder etwas zu. Die jüngste Umfrage vom April 2019 zeigt aber eine erneute Trendwende: Nun sagten gerade noch 32 Prozent der Deutschen, sie glaubten an den Fortschritt (siehe Grafik Seite 46).

 

Fortschritt nur ohne Risiko?

Offensichtlich hemmt die Angst um die Sicherheit die Innovationsfreude der Bürger: In einer ebenfalls im April 2019 gestellten Frage überreichten die Interviewer ein Bildblatt, auf dem zwei Personen als Schattenriss dargestellt wurden. Jeder Figur war, wie in einem Comic, eine Sprechblase zugeordnet. Die eine sagte: „Meiner Meinung nach müssen wir bereit sein, bestimmte Risiken bei der Erprobung von wissenschaftlichen Entwicklungen in Kauf zu nehmen. Risiken sind nie ganz auszuschließen.“ Die Gegenposition lautete: „Wenn es auch nur ein geringes Risiko für den Menschen gibt, dann sollte man auf wissenschaftlichen Fortschritt lieber verzichten.“ Die Befragten wurden gebeten, anzugeben, welcher der beiden Ansichten sie eher zustimmten. 46 Prozent entschieden sich daraufhin für die erste Aussage, aber nicht viel weniger, nämlich 39 Prozent, meinten, wenn mit wissenschaftlichem Fort­ schritt auch nur ein geringes Risiko verbunden sei, sollte man besser auf ihn verzichten; eine Haltung, die, wenn man sie beim Wort nähme, jeglichen Fortschritt unmöglich machen würde.

Solche Ergebnisse erfüllen das Klischee vom grüblerischen, fortschrittsfeindlichen Deutschen, der in allem erst einmal das Negative sieht, doch die Deutschen stehen mit ihrer zurückhaltenden Einstellung zum Fort­ schritt nicht allein. Einen Hinweis hierauf bieten die Ergebnisse des World Values Survey, einer großen multinationalen Umfrage, mit der regelmäßig die Werteorientierung der Bürger in zahlreichen Ländern weltweit ermittelt wird. In der Befragungswelle der Jahre 2010 bis 2014 wurde auch erfragt, wie viele Bürger der Aussage zustimmen, dass Wissenschaft und Technik der nächsten Generation mehr Möglichkeiten eröffneten. Die Grafik auf Seite 48 zeigt einen Ausschnitt der Ergebnisse. Der Anteil derjenigen, die dieser Aussage „voll und ganz“ zustimmten, war in Deutschland mit 25 Prozent noch größer als in den Vereinigten Staaten und auch in Hongkong und Japan; dies allerdings zu einem Zeitpunkt, als sich die Deutschen auch in den Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach noch etwas zukunftsoptimistischer zeigten als heute. Weit entfernt sind die Antworten in den alten Industrienationen aber in jedem Fall von denen in aufstrebenden Ländern wie Polen oder Mexiko, wo wesentlich mehr Befragte in Wissenschaft und Technik eine Chance für die kommende Generation sahen. Man glaubt einen gewissen Sättigungseffekt in den reichen Ländern zu erkennen: Wer mit seinen Lebensbedingungen zufrieden ist, hat keinen Grund mehr, Risiken einzugehen, um die Lage zu ändern.

Die Akzeptanz wissenschaftlichen Fortschritts wird in Deutschland dadurch erheblich erschwert, dass den meisten Bürgern wesentliche Kategorien des wissenschaftlichen Denkens unzugänglich sind. Die Allensbacher Umfragen haben wiederholt gezeigt, dass es vielen Menschen offenbar schwerfällt, die abstrakten Proportionen der Statistik zu erfassen, mit der Folge, dass Lebensrisiken und auch Risiken, die mit wissenschaftlichem Fortschritt verbunden sind, oft sehr verzerrt wahrgenommen werden. Auch können die Bürger zwar durchaus die Tragweite neuer technischer und wissenschaftlicher Entwicklungen erfassen, sie können sie jedoch kaum verstehen. Im Frühjahr 2019 sagten 79 Prozent der vom Institut für Demoskopie Allensbach Befragten, es sei wichtig, dass Deutschland bei der Digitalisierung zu den führenden Ländern gehört. Doch auf die Frage, ob sie denn eine klare Vorstellung davon hätten, was Digitalisierung eigentlich bedeute, mussten die meisten passen.

In einer solchen Situation der Unsicherheit entsteht Raum für irrationale Reaktionen, die sich gut mit dem Ergebnis eines Emotionstests illustrieren lassen, der in eine Repräsentativumfrage vom April 2019 integriert war: Die Interviewer sagten hierbei zunächst: „Ich möchte Ihnen jetzt einen Vorfall erzählen, der sich neulich bei einer Podiumsdiskussion über die Entwicklung der sogenannten Künstlichen Intelligenz ereignet hat. Einige Experten sprachen über den Stand der Forschung in diesem Bereich sowie über die gegenwärtigen und zukünftigen Einsatzmöglichkeiten dieser modernen Computersysteme. Plötzlich springt ein Zuhörer auf und ruft etwas in den Saal.“ Nun wurde ein Bildblatt überreicht, das eine Figur zeigt, die zwischen anderen Personen, die sitzen, steht, heftig gestikuliert und sagt: „Was interessieren mich Zahlen und Statistiken in diesem Zusammenhang. Wie kann man überhaupt so kalt über ein Thema reden, bei dem es darum geht, dass Maschinen immer stärker unser Leben kontrollieren?“ Nachdem die Befragten diesen Text gelesen hatten, wurden sie gefragt: „Würden Sie sagen, er hat ganz recht oder nicht recht?“ Eine klare relative Mehrheit von 48 Prozent der Befragten antwortete auf die Frage, der Zwischenrufer habe recht. Lediglich 27 Prozent widersprachen. Die Zustimmung zu der offensichtlich irrationalen Haltung zog sich dabei durch alle Bevölkerungsgruppen.

 

Innovationskraft in alternden Gesellschaften

So ist es letztlich ein vages Gefühl der Unsicherheit, das viele Deutsche skeptisch auf den technischen Fortschritt schauen lässt und bei ihnen reflexhaft den Wunsch auslöst, dieser Entwicklung zu entgehen, wenn auch den meisten bewusst ist, dass ihr Wunsch unerfüllbar ist. Eine ebenfalls im April 2019 gestellte Frage lautete: „Jemand sagte neulich: ‚Mir sind viele dieser technischen Neuerungen unheimlich. Wir wissen nicht, was da noch alles auf uns zu­ kommt und ob wir das noch alles beherrschen können.‘ Empfinden Sie das auch so, oder halten Sie das für übertrieben?“ 51 Prozent der Befragten sagten, sie empfänden das auch so, nur 36 Prozent hielten die Aussage für übertrieben. Am wichtigsten ist bei dieser Frage der Vergleich zwischen den Alters­gruppen: Nur jeder vierte Unter­-30­-Jährige stimmte dieser Aussage zu, bei den 60­-Jährigen und älteren Befragten dagegen, der mit Abstand größten und rasch wachsenden Altersgruppe in Deutschland, waren es 75 Prozent (siehe Grafik oben). Dieses Ergebnis ist nicht überraschend, doch es illustriert deutlich, warum es gerade in alternden Wohlstandsgesellschaften so schwer ist, die Innovationskraft zu bewahren. Die Allensbacher Umfragen haben in den letzten Jahren immer wieder deutlich gezeigt, dass Menschen umso weniger wagemutig und umso mehr auf Sicherheit und Bewahrung des Bestehenden bedacht sind, je älter sie werden. Ein Volk aber, das sich am wissenschaftlichen und technischen Fortschritt nur widerwillig beteiligt, weil es in ihm nicht in erster Linie eine Chance, sondern eine Gefahr für die Sicherheit sieht, gefährdet seine Zukunft.

 

Thomas Petersen, geboren 1968 in Hamburg, Kommunikationswissenschaftler und Meinungsforscher, Projektleiter beim Institut für Demoskopie Allensbach (IfD).

 

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