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Über die Unentbehrlichkeit der Allgemeinbildung

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Wie heißt der höchste Berg der Welt, und wo liegt er? Was sind Viren? Wann begann und wann endete der Erste Weltkrieg? Was ist eine Regierungskoalition? Welche Aufgaben erfüllt das Bundesverfassungsgericht? Wie entsteht Kohlendioxid, und inwiefern schädigt es das Klima? Was ist ein Adverb? Wer war Marie Curie? Wer war Rembrandt? Und was besagt der Satz des Pythagoras? Was sind, was eint und was trennt die abrahamitischen Religionen?

Was versteht man unter einer Coda, was unter einer Raute und was unter Renaissance? Wer Fragen wie diese richtig und selbstständig – ich meine: ohne den behelfsweisen Rückgriff auf digitale Informationsplattformen – zu beantworten weiß, verfügt erkennbar über das, was wir mit einem von Patina überzogenen und nichtsdestoweniger dauerhaft orientierungswichtigen Wort Allgemeinbildung nennen.

Die Frage, was Allgemeinbildung sei, gehört übrigens selbst zu den Fragen, die zutreffend und selbstständig beantworten zu können eine Sache der Allgemeinbildung ist. Bildungsexperten mögen die fällige Antwort mit analytischen und historischen Differenzierungen versehen, allerdings fällt das Wesentliche in den gemeinsprachlichen Vorhof ihrer Expertise, in dem hinreichend bedeutungsstabil gilt, dass der evaluativ gehaltvolle Prädikator Allgemeinbildung auf den Bestand jener Kenntnisse und Fähigkeiten referiert, an denen in respektablem Umfang teilzuhaben ohne Weiteres wünschenswert und ganz unabhängig von ihrer etwaigen Legitimation durch die Zweckanforderungen spezialisierter Tätigkeiten und Berufe für jedermann von Vorteil ist.

 

„Mama, was ist ein Adverb?“

 

Was ich meine, lässt sich an schlichten Daseinsvollzügen illustrieren. Man denke etwa an das Lesen oder Hören von Nachrichten, die man ja überhaupt nur dann versteht, wenn man versteht, worüber denn berichtet wird, wenn, sagen wir, über eine Unfallserie am Mount Everest, CO2-Emissionsgrenzen, Spannungen innerhalb der deutschen Regierungskoalition, die Eröffnung einer Rembrandt-Ausstellung oder ein gerichtsextern kontroverses Urteil des Bundesverfassungsgerichts berichtet wird. Oder man denke an allfällige Situationen wie die der elterlichen Hausaufgabenbetreuung („Mama, was ist ein Adverb?“) oder auch an etwas derart Intimes wie das Hören von Musik („Leise beginnt die Coda …“). In diesen und zahllosen anderen Kontexten ist Allgemeinbildung unentbehrlich, um überhaupt Informationen aufnehmen und verarbeiten, Erfahrungen artikulieren und soziale Interaktionen sprachlich und sachlich bestehen zu können.

Allgemeinbildung hebt und stabilisiert das Niveau unserer Teilnahme an Prozessen der Kommunikation, vom Tischgespräch bis zur Bürgerschaftsdebatte; sie fördert unsere Orientierungsfähigkeit in Handlungszusammenhängen, die nicht zu alternativlosen Routinen abgeschliffen sind, sondern mit neuen und jeweils besonderen Wahrnehmungs-, Abwägungs- und Entscheidungsaufgaben einhergehen; sie steigert die Rationalität unserer Urteile und Entschlüsse, sei es bei der Entscheidung für oder gegen ein Elektroauto oder bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag.

Nicht weniger eindrucksvoll zeigt sich die Unentbehrlichkeit von Allgemeinbildung in Gestalt ihrer Sockelfunktion für die Wissenschaften. Alle szientifischen – seien es geisteswissenschaftliche, seien es naturwissenschaftliche – Leistungen leben vom mühelosen und just deswegen auch nur ausnahmsweise thematischen Einsatz jener infradisziplinären Kenntnisse und Fähigkeiten, deren Inbegriff der Begriff der Allgemeinbildung ist – übrigens nicht in völliger Synonymie mit dem Begriff des Allgemeinwissens, dem die personale, auf den Prozess des Sich-Bildens und den Zustand des Gebildetseins gleichermaßen abhebende Bedeutungskomponente fehlt.

Allgemeinwissen lässt sich in Büchern und auf Internetseiten thesaurieren, Allgemeinbildung hingegen verwirklicht sich in Personen, die ihrerseits nicht passive Behälter, sondern aktive Nutzer und mit Urteilskraft, dem Sinn für Zusammenhänge, Unterschiede und Relevanzen, begabte „Vernetzer“ des Allgemeinwissens sind, das ihnen als Ertrag formellen oder informellen Lernens in dieser oder jener Hinsicht zu Gebote steht.

Nicht zuletzt am warnenden und mahnenden Gebrauch des Allgemeinbildungsprädikats zeigt sich, worauf es in lebensweltlicher und a fortiori in wissenschaftskultureller Hinsicht ankommt: „Aber das gehört doch zur Allgemeinbildung!“ sagen wir, wenn wir einen Vorgang kafkaesk, eine Politikermentalität manchesterkapitalistisch oder eine Batterie oxidiert nennen und damit anstelle von Zustimmung, Zweifel oder Widerspruch semantisch überfordertes Nichtverstehen auslösen. „Aber das gehört doch zur Allgemeinbildung!“ sagen wir auch, wenn Studierende historisch-philologischer Fächer uns noch in Hauptseminaren dadurch verblüffen, dass sie mit dem Wort Hostie oder dem Namen Pontius Pilatus nichts anzufangen wissen. Dass literaturwissenschaftliche Institute sich vermehrt zu Crashkursen wie „Die Bibel für Germanisten“ veranlasst sehen, signalisiert eben nicht nur einen unvorteilhaften Hiat zwischen vergleichsweise elementaren Erfordernissen des Lehr- und Forschungsbetriebes eines Universitätsfachs und den unter dem Schleier der Erfolgsrhetorik tatsächlich erreichten Resultaten des mit der Vermittlung der „allgemeinen Hochschulreife“ betrauten Zweigs unseres Bildungssystems; die Installierung solch nachholender Propädeutika ist vielmehr ein Beispiel für den in allen Disziplinen vorausgesetzten Bedingungszusammenhang von Allgemeinbildung und Wissenschaftspartizipation.

 

„Alte“ und „neue“ Bildung

 

Allgemeinbildung ist überdies ihrerseits in einem anspruchsvollen Sinn wissenssensitiv und seit mindestens 250 Jahren ja auch zu großen Teilen Resultat der edukativ kontrollierten Weitergabe von Wissenschaftsresultaten. Wäre es anders, repräsentierte ihr Begriff ein weihevolles Unding. „Alles, was man wissen muss“ – so oder ähnlich sind denn auch die auflagenstarken Kompendien untertitelt, die Felder und Inhalte der Allgemeinbildung für Erwachsene oder Jugendliche im deutschsprachigen Raum übersichtlich machen. Das reklamehafte Versprechen des Pronomens „alles“ ist dabei selbstverständlich nicht beim Wort zu nehmen und wird in besonneneren Formulierungen wie „Das muss man wissen“ zu Recht vermieden. Denn selbstverständlich lässt sich all das, was man in modernen Gesellschaften mit Fug und Recht unter die Gegenstände und Kompetenzen der Allgemeinbildung rechnet – längst nicht mehr nur die „alte Bildung“ aus humanistischer, überhaupt literarisch-philosophisch-künstlerischer Tradition, sondern ebenso die „neue Bildung“ der Naturwissenschaften, der Technik, des Ingenieurwesens, der Industrie –, nicht auf 500 und auch nicht auf 800 bebilderten Seiten zwischen zwei Buchdeckel pressen.

 

Weckung von Wissenspassionen

 

Eine gediegene, Umsicht und sachgemäße Verknüpfungen herstellende, krasse Lücken und Einseitigkeiten vermeidende Auswahl lässt sich gleichwohl treffen, und ganz gleich, ob man den Boom von Büchern, deren englischsprachige Äquivalente Überschriften wie The Knowledge Book: Everything You Need to Know to Get by in the 21st Century tragen, als Krisensymptom, als Kompensationsphänomen oder – gelassener – als den Reflex eines nach wie vor weit verbreiteten, jedenfalls weckbaren Interesses an solider Allgemeinbildung interpretieren will: Expertenstolze Herablassung ist qualitätsvollen Handreichungen gegenüber ebenso unangebracht wie das relativistische Schulterzucken derjenigen, die Versuche zur sachliterarischen Modellierung eines Kanons der Allgemeinbildung für anmaßend oder überflüssig und entsprechende Selektionen, die sich mit dem Mut, das Wichtigste auszuzeichnen, an den historischen und kulturellen, nicht zuletzt den wissens- und wissenschaftskulturellen Grundlagen unserer Lebensform orientieren, allesamt für unbrauchbar halten. Das Gegenteil ist wahr: Wer kompetent gemachte Überblickswerke nicht nur kauft und zwischen Tweets durchblättert, vielmehr aufmerksam liest, sie gar im alten Sinn des Wortes „studiert“, wird unter den darin summarisch präsentierten Beständen von der Mythologie und den Weltreligionen über Philosophie und Literatur, Kunst und Musik bis zur überreichen Welt der MINT-Fächer – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – zumal als junger Mensch vieles entdecken, das dazu angetan ist, seine schon andernorts, im Elternhaus nämlich und alsdann in neun bis dreizehn Jahren regulären Schulbesuchs erworbene Allgemeinbildung aufzufrischen, zu erweitern und in der einen oder anderen Richtung auch zu vertiefen – womöglich mit dem schönen Effekt der Weckung lebenslang währender Wissens- und sogar Wissenschaftspassionen.

Was solchen Aufstieg allzu oft hemmt, ist bekannt: Passivierungen durch ungenügende Förderungs- und Anforderungsmilieus; bildungspolitische Trends und Diskursatmosphären, die die orientierende Kraft des Begriffs der Allgemeinbildung kleinreden oder verkümmern lassen; am meisten freilich die aufmerksamkeitszersplitternden und konzentrationsverhindernden Effekte eines unter die Räder mediengesellschaftlicher Hochrüstung geratenen Alltags. Umso mehr bleibt es unsere gesellschaftspolitische Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass der Abstand zwischen denjenigen, deren Allgemeinbildung nach bewährten Parametern ordentlich, ja gut genannt werden darf, und der großen, zu großen Anzahl derer, deren Allgemeinbildung rudimentär bleibt und im Falle der Eskamotierung selbst des die Sache bezeichnenden und empfehlenden Wortes aus dem ihnen erreichbaren Selbstverständigungsvokabular Züge der Depravation annimmt, nicht zum unüberwindlichen Abstand zwischen Kasten wird.

Allgemeinbildungsprofile variieren freilich nicht nur auf bedenkliche Weise vertikal, sie variieren selbstverständlich auch horizontal, zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Nationalkulturen zum Beispiel. Einem Chilenen etwa würde man es billigerweise nicht als Allgemeinbildungsmanko anrechnen, wenn er über die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts allenfalls vermutungsweise Auskunft zu geben vermöchte, einer Deutschen hingen schon; und ersichtlich gälte das Umgekehrte für Kenntnismängel, die das Volk der Mapuche, die Schlacht von Maipú oder den Salpeterkrieg beträfen.

Daran zu erinnern, heißt natürlich nicht, in Abrede zu stellen, dass es zwischen chilenischer cultura general und deutscher Allgemeinbildung eine große Schnittmenge gibt und dass diese Schnittmenge, das sozusagen weltgesellschaftlich Allgemeine der Allgemeinbildung, in allen möglichen Formen des Kontakts zwischen Chilenen und Deutschen positiv zum Tragen kommt. Was demgegenüber im Ausgang von den Vorgaben nationaler oder regionaler, auch „weltregionaler“ Geschichte und Kultur partikular bleibt, ist gleichwohl keine nachrangige Randzone innerhalb der jeweiligen Konkretionen von Allgemeinbildung. Es ist im Gegenteil das, was die Angehörigen unterschiedlicher Überlieferungs- und Traditionsgemeinschaften zu interessanten anderen macht, im Austausch mit denen sich der unvermeidliche Beisatz an Provinzialität in der je eigenen Allgemeinbildung bemerken und in aufgeschlossen lernbereiten Gesprächen auch ein Stück weit korrigieren lässt.

 

Carsten Dutt, geboren 1965 in Calw, Literaturwissenschaftler und Philosoph, Präsident der Hans-Georg Gadamer-Gesellschaft für hermeneutische Philosophie, geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift „Archiv für Begriffsgeschichte“, Lehrbeauftragter am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg.

 

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