Asset-Herausgeber

von Andreas Dörpinghaus

Das Politische in Zeiten der Post-Bildung

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Bildung ist in ihrem Grundverständnis politisch und öffentlich. Historisch ist diese politische Dimension von Beginn angelegt. Bereits in der Antike war die paideia, also das, was späterhin Bildung genannt wurde, nicht ohne das mit ihr verbundene Repräsentationsmodell der polis und der öffentlichen Rede zu denken. Der antike Rhetor galt als gebildet, insofern er selbst öffentlich war. Das heißt nicht nur, dass er zum politischen Grundbestand des Gemeinwesens einen wichtigen Beitrag leisten konnte, sondern dass er sich selbst als öffentlich verstand. Diese Weise, Bildung im Hinblick auf Öffentlichkeit zu verstehen, hielt sich bis in die Moderne und fand ihre Neuformulierung Ende des 18. Jahrhunderts in der Vorstellung von Mündigkeit. Und bis heute verbinden wir mit Bildung die Möglichkeit, unser Leben mündig zu führen.

Der Gedanke einer öffentlichen Bildung wurde vor allem von Immanuel Kant ausgearbeitet. Kant forderte die Bildung einer öffentlichen Denkungsart. Der Begriff der Denkungsart betraf weniger die Art und Weise des Denkens, sondern markierte eine soziale Einstellung und Haltung, einen Modus des Tuns. Öffentlich war sie, weil sie partikulare Interessen überstieg. Für Kant war ein wesentlicher Bestandteil des Politischen der sensus communis, der Sinn für das öffentlich Gemeinschaftliche. Er bezog als Denkungsart die Vielfalt anderer Perspektiven konstitutiv mit in das eigene Urteil ein. Ohnehin rekurrierte der sensus communis nicht nur auf eine vorgängige Gemeinschaft, sondern war eine Haltung, im Urteil zuallererst das Öffentliche und Gemeinschaftliche herzustellen. Aber Kant nahm eine wichtige Weichenstellung vor: Er verband mit der Öffentlichkeit nicht nur das Feld des Politischen, sondern darin den Anspruch auf Freiheit und Gleichheit.

 

Öffentlichkeit und Kritik

 

Für Hannah Arendt, die sich in Vielem Kant anschloss, war die Öffentlichkeit eine Bühne der Vielfalt. Die Vielfalt der Stimmen sah sie ganz im Sinne der antiken rhetorischen Bildung: als ein miteinander Streiten. Ansprechbar sein für den Anderen. Sichtbar machen, was sonst ungesehen bleibt. Dennoch klammerte sie, ähnlich wie Jürgen Habermas, aus, dass die Teilhabe am Gleichen ungleich ist, dass das Miteinander nicht vorausgesetzt, sondern das Problem des Politischen ist. Freiheit und Gleichheit waren im Öffentlichen stets partikular und damit doch auch das Öffentliche selbst. Es wird sehr schnell deutlich, dass die Frage nach dem Öffentlichen nur ein Teilproblem des Politischen sein kann. Kant errichtete mit seiner Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs folgerichtig eine Bühne des Politischen, indem er der Öffentlichkeit das Publikum einschrieb. Ihm schien zumindest die Differenz von Privatheit und Öffentlichkeit weitgehend deutlich. Doch interessanterweise ist ihm das Private aber gerade nicht der Raum des bloß Singulären, sondern der Raum der Unfreiheit. Hingegen ist in seiner Konzeption des öffentlichen Vernunftgebrauchs, der keinerlei Einschränkung der Freiheit erlaubt, auch die Idee der Gleichheit restituiert. Allerdings sind die Stücke, die auf der Bühne gespielt werden, sehr unterschiedlich verfasst. Am Ende dürfen auch die „Aufführungen“ keinerlei Einschränkungen und Zensuren erfahren; wenigstens wäre das die konsequente Lesart Kants eigener Idee. Anders: Das Öffentliche darf kein privilegierter Raum sein, sondern ein performativer der Gleichheit aller.

Das Besondere an der Auffassung Kants vom Öffentlichen betrifft daher sein Verhältnis zur Kritik. Das Öffentliche ist nur eine Folge der Kritik, also ohne Kritik, ohne Widerstreit nicht zu haben. Damit wird aber auch deutlich, dass es Öffentlichkeit nicht als einen reservierten, eigenen Raum gibt.

Sie ist performativ, muss also in einem Prozess hergestellt werden. Dieser Prozess setzt etwas in Bewegung, was vordem unbeweglich ist. Jacques Rancière hat diesen Prozess der Kritik als Unterbrechung der sozialen Ordnung ausgewiesen. Für ihn beginnt das Politische mit der Errichtung einer Bühne, auf der soziale Praxen der Ungleichheit und Unfreiheit sichtbar werden. Entscheidend ist eine neue „Aufteilung des Sinnlichen“ (Jacques Rancière), also eine Verschiebung sozialer Räume und Zeiten. Das Politische wendet sich so gegen Politik als selbstverständliche Ordnung des Gemeinwesens. Der sensus communis wäre dann nicht mehr der Sinn für das Gemeinsame, sondern für das Ausgeschlossene. In dieser Hinsicht mag Kant ihn als erweiterte Denkungsart bezeichnen. Ein solches politisches Subjekt, das soziale Praxen umdeutet, das das Politische intendiert, Räume und Zeiten verschiebt, sich einem identifizierenden Denken entzieht, ist ohne Bildung nicht zu haben. Sie schafft Distanz in Räumen und Verzögerungen in Zeiten, um die Spielräume des Politischen zu öffnen, die der Möglichkeitssinn zu gestalten vermag. Der sensus communis ist visionär und ein Möglichkeitssinn.

 

Bildung als kritisches Ethos

 

Von seiner Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen, ist für Kant der Kern von Bildung als Mündigkeit. Mündigkeit heißt stets, sich selbst zu regieren, und darin ist Bildung eine Arbeit an Freiheit und Gleichheit. Umgekehrt wäre das Ziel, wie es Michel Foucault formuliert, nicht dermaßen regiert zu werden. Daher ist bis heute Bildung das wichtigste Fundament für demokratische Strukturen, die das Politische mit Freiheit und Gleichheit assoziieren. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, wenn der öffentliche Gebrauch der Vernunft nur hieße, in der Öffentlichkeit (die es dann nur partikular gibt) das Wort zu ergreifen. Mitnichten. Sich selbst zu regieren, zielt auf eine wie auch immer freiheitliche Lebensführung ab, die sich nicht blind anpasst und den unbefragten Normen folgt. Sich selbst zu regieren, kann nicht von der politischen Teilhabe getrennt werden. Bildung ist die wichtigste Voraussetzung für die Teilhabe an einer Gemeinschaft, die um diese Teilhabe selbst streitet, für ein politisches Subjekt, das diese Teilhabe auf die Bühne des Politischen bringt. Mit anderen Worten: Die Öffentlichkeit entsteht erst in der Frage, wer „wir“ eigentlich sind, wer dazugehört und wen wir ausschließen, was derzeit „unsere“ Normen und Regeln sind und ob es auch wirklich die Normen sind, die „wir“ haben sollten.

Kant gibt eine Art Gebrauchsanweisung für diesen sogenannten Vernunftgebrauch: „Sich seiner eigenen Vernunft bedienen“, so erläutert Kant, „will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es thunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen“ (Kant 1964, S. 283). Bildung ist keine soziale Praxis einer unbefragten Verbindung von Gesolltem und Handeln, sondern ein intervenierendes Denken. Bei allem und angesichts der Regel, die „man annehmen soll“, sollte man sich fragen, ob man sie für vernünftig hält, das heißt teilen kann. Aber ein Handeln nach der Vorstellung der Regel ist keine Deutung der bloßen Regel. Es ist mehr: Es ist eine (Um-)Deutung der gemeinsamen Praxis, das heißt dessen, als was „wir“ uns verstehen wollen. Wie immer Unterbrechungen der selbstverständlichen Ordnung auch aussehen: Eine Umdeutung der sozialen Praxis im Sinne eines maßstablosen Urteilens (Hannah Arendt) geht ihnen als Sichtbarkeitspraxis voraus.

Bildung, was immer sie auch sein mag, sperrt sich der Anpassungslogik. Ihre Möglichkeit, ein politisches Subjekt zu sein, wurzelt in einer kritischen Denkungsart. Gewendet: Bildung widerstrebt in allem der Ausrichtung auf Prozesse der bloßen Anpassung. Sie stand stets für das nicht angepasste, für das reflexive und kritische Verhalten zu einer gemeinsamen und zugleich geteilten Welt. Es geht mit ihr doch am Ende darum, nicht auf jeden Reiz und Impuls zu reagieren, sich Normen unbefragt zu unterwerfen, Ordnungen einzupassen, also insgesamt der Logik der Anpassung zu folgen. Ihre Denkungsart ist ein kritisches Ethos, nicht dermaßen regiert zu werden.

 

Nicht Mündigkeit, nur Kontrolle

 

Gegenwärtig verschärft sich die Lage. Es ist nun weniger die Frage, ob Öffentlichkeit verschwindet oder nicht, sondern ob Bildung als dieses kritische Ethos, das die Bühne des Politischen errichtet, noch zum Selbstverständnis unserer Selbstdeutung gehört, ob wir dieses kritische Ethos noch vernehmen, ob wir ansprechbar sind für Kritik. Daher muss die Frage erlaubt sein, was gegenwärtig Bildung noch sei? Gegenwärtig leben wir in einem Zeitalter der Post-Bildung, also in einer Zeit, in der die Rede von Bildung nicht mehr verstanden werden kann. Theodor W. Adorno hatte diesen Prozess sehr früh gesehen und erklärte in seiner Theorie der Halbbildung aus dem Jahre 1959, dass Bildung nur noch Halbbildung sei. Dieser Befund ist ohne Zweifel bis heute gültig. Heute wird Halbbildung vermittelt. Doch während der Halbgebildete immerhin noch um Bildung und damit um seine Unzulänglichkeit wusste (was bei ihm mit Aggressivität verbunden war), kennt Post-Bildung nicht mehr das Unzulängliche. Bildung verliert so jede konstitutiv politische, kritisch-widerständige Dimension und wird stattdessen gegenteilig zum polizeilichen Kontrollinstrument. Nicht Mündigkeit wird intendiert, nur noch Kontrolle. Öffentlichkeit gibt es daher in der Post-Bildung nicht mehr, ebenso wenig das Politische. Es gibt kein Gemeinsames, nur noch die Summe der Singularitäten. Es gibt nur noch Gezähltes, die Bevölkerung. Es gibt keine Bürgerinnen und Bürger, nur Nutzerinnen und Nutzer.

Die Währung der Post-Bildung sind nur noch Kompetenzen. Sie folgen der Anpassungslogik bis ins Letzte. Der Effekt war und ist bis heute ein inzwischen gänzlich unpolitisches Bildungssystem, das strukturell und konzeptionell Anpassungsverhalten als Verhüllung des „blinden Gehorsams“ befördert, zur Unmündigkeit erzieht und nützliche Kompetenzen als grundständige „Volksbildung“ vermittelt. Das Öffentliche als Praxis der Freiheit, als politischer way of life weicht dem öffentlich Privaten; öffentlich, weil es darin kontrolliert werden kann, öffentlich, weil es darin die Sehnsucht nach Sozialität ausdrückt, öffentlich, weil es Politisches suggeriert und Ökonomisches schafft. Vermeintliche Bildungsziele sind die permanente Anpassung an vorgegebene Ordnungsmuster und die Ausbildung von Kompetenzen für solche Anpassungsleistungen. Kompetenzen werden trainiert, und es ist dann nur eine Frage der Zeit, wann sie erworben werden. Es geht nicht darum, den Begriff der Kompetenz zu diskreditieren, er liefert einfach nur kein gutes Modell für das, was wir Bildung nennen.

 

Der Mensch wird einsam mit sich

 

Das Zeitalter der Post-Bildung ist nicht nur geprägt durch die konsequente Abschaffung von Bildung durch ihre lückenlose Kontrolle und Verwaltung. In ihrem Verschwinden kann sie ersetzt werden, eben durch Kompetenzen, neuerdings durch „digitale“ Bildung oder sämtlich durch Prozesse der sich flexibel anpassenden Selbstverbesserung (Lebenslanges Lernen). Dieser Ersatz von Bildung durch „Fakes“ ist ohne Reibung, weil deren Unzulänglichkeit nur vor dem Hintergrund eines Bildungsverständnisses möglich wäre. Dieses Verständnis wäre gekennzeichnet durch Prozesse der Distanzierung und der Verzögerung, durch Verschiebungen des Sinnlichen, schlichtweg durch eine andere, reflexive Sicht auf die Dinge. In der Orientierung an Bildung gibt es ein tertium datur, Zwischenräume und -zeiten sowie Möglichkeiten. Wilhelm von Humboldt hat daher die Bildung mit der Metapher der Wechselwirkung beschrieben, und zwar von Ich und Welt (vgl. Dörpinghaus 2020). Für ihn war die Voraussetzung von Bildungsprozessen, dass es eine Welt außerhalb von uns gibt, die verstanden werden will. Jede blinde Anpassung hingegen widerspricht diesem Bildungsbegriff, der in der reflexiven, distanzierenden Erfahrung wurzelt. Technologische Reproduktionsverfahren von Wirklichkeit, wie etwa die Digitalisierung, kennzeichnen die Post-Bildung. Sie schließen das Außerordentliche, das Zwischen, das Fremde und Andere aus. Es gibt mit ihnen keine Erfahrungen mehr, keine Wahrnehmung, die zu entdecken wüsste, was ihr nicht schon feilgeboten würde. Das Reagieren erübrigt das Antworten. Ihre Nutzer passen sich per definitionem der Wirklichkeit an.

Vor allem aber muss Bildung im Zeitalter der Post-Bildung eine zweifache Kritik als Widerstand gegen die Anpassung erfassen. Zum einen steht sie der Anpassung des Menschen an seine Welt gegenüber. Das bequeme, vorgefertigte Leben verführt zur Nutzung. Aber die Anpassung der Welt an den Menschen bedarf ebenfalls der Kritik. Zunehmend schaffen Algorithmen angepasste Welten, die kein Außerordentliches kennen, das eine Wechselwirkung von Ich und Welt als Bildungsprozess überhaupt erst erlaubte. Öffentlichkeit wäre undenkbar, da jede Form einer gemeinsam-geteilten Welt unterlaufen würde. Es bedürfte einer kritischen Reflexion auf die digitalen Praktiken der Macht, die nur außerhalb des Digitalen möglich sind. Durch Leibhaftiges. Durch eine Wirklichkeitserfahrung aus erster Hand. Der Mensch wird einsam mit sich. Und er kann sich nicht mehr irren. Bildung findet nicht einmal mehr den Boden vor, auf dem sie einst gedieh.

So warnte Giambattista Vico: Allein recht zu haben, heißt entweder Gott zu sein oder ein Narr. Diese Alternativen prägen derzeit das politische Arrangement der Zeit der Post-Bildung. Demokratische Strukturen sind ohne Bildung nicht von Dauer, weil sie allein nur ihre Folge sind. Insofern ist Post-Bildung auch die Diagnose eines bedrohlichen Rückfalls in totalitäre Gesellschaftsformen, in Formen von Ausschlüssen, Diskriminierungen und Gewalt. Zugleich stellt sich mit ihr die Frage der (nicht virtuellen) Kritik radikal. Kritik kann die gemeinsame Welt, das gemeinsame Miteinandersprechen, geschweige denn eine konsensuale Vernunft, auf die sich Arendt noch beziehen konnte, nicht mehr voraussetzen; vielmehr wird die Welt in dem Anspruch des Gemeinsamen und die Gemeinschaft im Anspruch des Gleichen zum unauflöslichen Problem des Politischen: eine Aufmerksamkeit auf das Andere der Vernunft, auf die Sehnsucht nach dem Anderen. Kritik schafft eine Öffentlichkeit, die sich selbst aufrichtig zerstört. Darin wird das Politische ästhetisch. Zur Bühne des Anderen.

 

Andreas Dörpinghaus, geboren 1967 in Kirchhellen, Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Bildungswissenschaft, Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

 

Literatur

Dörpinghaus, Andreas: „Mich bilden“, in: Pädagogische Korrespondenz, Heft 61/2020, S. 73–87.

Kant, Immanuel: „Was heißt: sich im Denken orientieren?“, in: Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 3, Frankfurt am Main 1964, S. 266–283.

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