Asset-Herausgeber

Von Industrie- zu digitalen Champions

von Karl-Heinz Streibich

Ein Weckruf für eine Strategie der Europäischen Union

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Wir stehen vor einer neuen Stufe der Digitalisierung. Die Verbreitung Künstlicher Intelligenz (KI) und der Übergang der gesamten Wirtschaft in eine Plattformökonomie verstärken sich gegenseitig. Deutschland und die Europäische Union (EU) können diese Entwicklung nach europäischen Wertemaßstäben gestalten – mit einer gemeinsamen Strategie, die auf (Selbst­)Vertrauen gründet.

Gesellschaften sind dann innovativ, wenn Menschen dem technologischen Wandel informiert, selbstbewusst und aufgeschlossen gegenüberstehen. Drei von vier Europäern glauben, dass die Digitalisierung der Wirtschaft nutzt. Jedoch nur jeder zweite Deutsche (54 Prozent) nimmt an, dass die Digitalisierung auch der Gesellschaft nutzt. Eine große Mehrheit befürchtet Arbeitsplatzverluste – in Deutschland sind es 75 Prozent. Dieses gemischte Bild zeichnet das Technikradar von acatech und Körber Stiftung.

Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sie ist eine Voraussetzung. Die gesellschaftliche Entwicklung Europas und die damit verbundene Verbesserung unseres Lebensstandards sind fundamental technologisch geprägt. Die Bevölkerung Europas hat sich seit 1850 verdreifacht und gleichzeitig Hunger und Krankheiten besiegt. Heute müssen wir unsere Umwelt jedoch wieder ins Gleichgewicht bringen – bei wachsender Weltbevölkerung, verbunden mit dem Wunsch eines jeden Einzelnen nach Wohlstand und persönlicher Entfaltung.

Vernetzung untereinander, Digitalisierung und KI sind dazu der technologische Schlüssel. Sie ermöglichen es, Wertschöpfungsketten zu einer ressourcenschonenden Circular Economy („Kreislaufwirtschaft“) zu schließen, und bringen intelligentes Verhalten in erneuerbare, vernetzte Energiesysteme. Sie ermöglichen eine vernetzte Mobilität, die Menschen und Güter effizienter und umweltfreundlicher ans Ziel bringt.

Die Beispiele lassen sich fortführen; wichtig ist: Die Verbindung von gesellschaftlichem, ökonomischem und ökologischem Fortschritt hängt von der Bereitschaft der Menschen ab, sich für technologischen Fortschritt zu engagieren und zu partizipieren. Diese Bereitschaft entsteht, wenn die Menschen den Nutzen, eine objektive Abwägung von Chancen und Risiken sowie einen Beitrag zur eigenen Selbstbestimmung wahrnehmen und schließlich: wenn sie den Wandel auch emotional annehmen. Auf diesen Bedingungen gründet das (Selbst-­)Vertrauen, mit dem wir Digitalisierung nach unseren Wertemaßstäben gestalten. Offenheit, Kooperation und Souveränität gehören zu einem solchen Ansatz.

Über immer mächtigere Internetplattformen kaufen wir ein und ordern individuelle Pakete von Dienstleistungen und Produkten, etwa Reisen über mehrere Verkehrsträger hinweg. Internetplattformen sind 24 Stunden am Tag und von je­ dem Ort aus verfügbar. Sie wachsen mit gegen Null tendierenden Grenzkosten pro Benutzer.

 

„The winner takes it all“

Plattformunternehmen entstehen in Nischen, doch nach einigen Jahren wachsen sie exponentiell. Der Pionier ist praktisch nicht mehr einholbar. Wer kennt denn noch die Nummer zwei oder drei unter den sozialen Netzwerken, globalen Warenhäusern oder Suchmaschinenanbietern? Das Prinzip: „The winner takes it all.“

Während Internetplattformen im Endkundengeschäft (B2C, Business­to­Consumer, Kommunikations- und Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen und Privatpersonen) wachsen, beginnt schon die nächste Phase: die Erweiterung der Plattformökonomie auf den industriellen Bereich (B2B, Business­-to­-Business, Kommunikations­ und Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen). Digitalunter­ nehmen versuchen also, in den industriellen Bereich vorzudringen, während Industrieunternehmen ihrerseits digitale Plattformen aufbauen wollen und müssen. Meine Überzeugung: Unsere heutigen Industriechampions müssen die neuen digitalen Champions werden – oder sie versinken in der Bedeutungslosigkeit.

Es wird oft beklagt, dass Deutschland und Europa rückständig in der Digitalisierung seien. Sicher, in den USA haben sich die heute führenden B2C­Plattformen entwickelt, China und Indien stehen bereit. Allerdings haben wir gute Chancen, die nächste Generation globaler digitaler industrieller Champions zu schaffen. Es ist einfacher, aus einer starken Industrie heraus digitale Plattformen und Betriebssysteme der Wirtschaft von morgen aufzubauen, als umgekehrt von digitalen Plattformunternehmen ausgehend die Industrie – mit all ihren Strukturen und all ihrem Know­how – nachzuvollziehen.

 

KI und Plattformökonomie

Künstliche Intelligenz ermöglicht digitalen Plattformen, Daten intelligenter zu nutzen. Umgekehrt aggregieren digitale Plattformen Unmengen an Daten, anhand derer KI lernt. Beide, KI und Plattformökonomie, verstärken sich gegenseitig. Daher muss erstens KI-Forschung auf Basis unseres tiefen industriellen Domänenwissens unser Fokus sein. Zweitens müssen wir in der Nutzung von Daten unabhängig werden. Wir sollten sie nicht unkontrolliert anderen überlassen, indem wir uns selbst durch allzu enge Grenzen blockieren. Dieses Paradox führt aktuell dazu, dass andere mit unseren Daten Dinge tun, auf die wir praktisch keinen Einfluss mehr haben.

Die große Chance ist: Wir haben die industriellen Daten – wenn auch noch je­ der nur für sich. Aber wir haben sie; und wir haben das industrielle Know­how. Beides fehlt den B2C­-Plattformen von heute. Diesen Vorteil nutzen wir, indem wir gemeinsame, europäische Datenräume schaffen. Dort können wir Daten gemeinsam und vorwettbewerblich nutzen – nach europäischen Rechts­ und Wertemaßstäben. Wir erreichen ein „Common­Level­ Playing­Field“ gegenüber Wirtschaftsräumen, die größer und in der Datennutzung laxer reguliert sind.

Drittens brauchen wir Netzwerke der Kooperation. In der Plattformökonomie sind Trusted Network Communities („vertrauenswürdige Netzwerkgemeinschaften“) stärker als jede noch so große Firma. Wir haben bereits gute Beispiele – etwa für die Industrie 4.0 das Netzwerk Adamos. Wir können aus solchen Vertrauensnetz­werken heraus Betriebssysteme für die Industriebranchen von morgen entwickeln. Viertens müssen wir auf digitale Aus- und Weiterbildung sowie digitale Infrastrukturen achten. Bisher war beides, Infrastruktur und Bildungsniveau, wesentlich für Deutschlands und Europas Erfolg. Dass das auch in der digitalen Welt so bleibt, erfordert fokussierte Investitionen – in schnelle Netze und in die Aus­ und Weiterbildung zu den neuen Technologien.

 

Europäische digitale Strategie

Der Erfolg Europas gründet auf einer föderalen, also partnerschaftlichen, aber selbstbewussten, offenen, aber souveränen Haltung. Diese Haltung nutzen wir auch für eine europäische digitale Strategie. In der gegenwärtigen weltpolitischen Lage müssen wir für Offenheit einstehen, gleichzeitig jedoch einseitige Abhängigkeiten vermeiden.

Diese Tendenz sehe ich bei der Basisinfrastruktur aller Plattformdienste: beim Cloud-Computing. Auf dem Markt fehlen deutsche und europäische globale Anbieter. Wir sind praktisch zu einhundert Prozent abhängig. Vor ein paar Jahren wäre das kaum ein Grund zur Sorge gewesen. Momentan jedoch werden wiederholt wirtschaftliche und technologische Abhängigkeiten als Druckmittel eingesetzt. Deshalb brauchen wir europäische Optionen.

 

Die nächste Cloud-Generation

Angesichts jahrelanger, milliardenschwerer Investitionen der vorherrschenden Cloud-Anbieter brauchen wir eine konzertierte europäische Aktion der Wirtschaft mit voller politischer Unterstützung. Ein europäischer Ansatz müsste sich auf die nächste Generation des Cloud-Computings fokussieren. Er müsste virtuell, föderal und dezentral sein, transparent, sicher und für alle offen. Das wäre ein entscheidender Pfeiler europäischer digitaler und somit wirtschaftlicher Souveränität.

Der öffentliche Bereich kann dabei seine Präsenz, sein Volumen und somit seine durch Einkaufsmacht markt­ und standardprägende Rolle in die Waagschale werfen. Dann folgt auch die Wirtschaft. Fangen wir mit Kernanwendungen an, bauen wir sie auf offenen Infrastrukturen, die uns gehören, die wir beherrschen und die wir somit wettbewerbsfähig weiterentwickeln.

Vor einigen Jahrzehnten wurde Airbus zur Erlangung europäischer Souveränität im Luftverkehr gegründet. Es ist ein erfolgreiches Beispiel, auch wenn es als Blaupause für die aktuelle Situation zu kurz greift, da es sich „nur“ um eine, wichtige Industrie handelte: die Flugzeugindustrie. Auf Basis einer europäischen Digitalstrategie müssen wir unsere souveräne digitale Infrastruktur für alle Industriebereiche weiterentwickeln. Es geht also um die gesamte europäische Industrie.

Den Weckruf vernimmt man bereits in der Presse und in vielen Gesprächen, auch mit der Politik. Wenn wir im Zeitalter der Plattformökonomie unsere Unabhängigkeit wahren wollen, müssen wir jetzt handeln.

 

Karl-Heinz Streibich, geboren 1952 in Schwarzach, Präsident von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften,  Berlin.

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