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IMAGO / ITAR-TASS

9 Fragen zum Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan

Tobias Eßer beantwortet Fragen für Die Politische Meinung

Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan schwelt seit vielen Jahrzehnten. Für Außenstehende erscheinen Ursachen und Verlauf der Auseinandersetzungen oft unübersichtlich. Tobias Eßer beantwortet die wichtigsten Fragen und erklärt den aktuellen aserbaidschanischen Angriff auf Armenien.

Armenien und Aserbaidschan kämpfen wieder gegeneinander. Was ist bisher passiert?

Am 12. September 2022 hat die Armee Aserbaidschans armenische Stellungen in Grenznähe beschossen. Dabei kamen schwere Waffen wie Artillerie und Raketenwerfer zum Einsatz. Auf armenischer Seite wurden mehrere kleine Armeebasen zerstört, dem armenischen Verteidigungsministerium zufolge wurden darüber hinaus auch zivile Einrichtungen wie Schulen und Kindergärten getroffen.

Armenische Soldaten haben das Feuer erwidert: Während des Artilleriebeschusses und der darauffolgenden Gefechte wurden auf armenischer Seite 202 Soldaten und drei Zivilisten getötet. Die aserbaidschanische Armee verlor 80 Soldaten.

Das armenische Verteidigungsministerium erklärte, Truppen aus Aserbaidschan hätten eine Fläche von etwa 50 Quadratkilometern armenischen Bodens eingenommen. Aserbaidschan erwiderte, es hielte nur taktisch wichtige Höhenlagen besetzt, um sich gegen eventuelle armenische Angriffe zu wehren.

Nach zwei Tagen schwerer Kämpfe vereinbarten beide Länder am 14. September eine Waffenruhe. Sie wurde seither von beiden Seiten immer wieder gebrochen. Die Streitigkeiten dauern also an, eine Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht.

 

Wie begann dieser langanhaltende Konflikt?

Um die Geschichte des Konflikts zwischen den beiden Ländern zu verstehen, müssen wir mehr als 100 Jahre zurückblicken. In der Folge des Bürgerkrieges nach der russischen Revolution von 1917 fielen Armenien und Aserbaidschan 1920 unter den Einfluss der Bolschewiki und wurden für sowjetisch erklärt. Die Bolschewiki dominierten den Südkaukasus und boten zur Befriedung der dort herrschenden nationalen und ethnischen Konflikte den Armeniern das mehrheitlich armenisch besiedelte Bergkarabach an, eine Region, die von Armenien und Aserbaidschan gleichermaßen beansprucht wurde. Diese Entscheidung wurde allerdings schon kurz darauf revidiert und Bergkarabach verblieb in der Folge als autonomes Gebiet bei Aserbaidschan.

Schon vor dem Fall der Sowjetunion flammte der Konflikt wieder auf. Im Jahr 1991 entschieden sich die Bewohner von Bergkarabach für die Unabhängigkeit und konstituierten sich als Republik. Infolge der Abspaltung von Aserbaidschan wurden die Armenier Bergkarabachs in einen Unabhängigkeitskrieg gegen Aserbaidschan gedrängt. Sie wurden in diesem bis 1994 andauernden Krieg von Armenien unterstützt. Der Konflikt endete in einer vom UN-Sicherheitsrat verhandelten Waffenruhe. Bergkarabach erklärte seine Unabhängigkeit von Aserbaidschan und nannte sich fortan Republik Bergkarabach. Die Unabhängigkeit wurde allerdings von keinem Staat anerkannt. Endgültig sollte der Status in Friedensverhandlungen entschieden werden, die jedoch nie stattgefunden haben.

Im Jahr 2020 marschierte Aserbaidschan wiederum in Bergkarabach (seit 2017 Republik Arzach) ein und eroberte in einem sechswöchigen Krieg große Teile der Region. Ein Vertrag zwischen den beiden Kriegsparteien, Armenien und Aserbaidschan, unter Vermittlung Russlands beendete den Krieg vorerst. Diese Waffenruhe sollte als Sicherheitsgarantie für die in Bergkarabach lebenden Armenier dienen.

 

Geht es aktuell wieder um Bergkarabach?

Nein. Und das ist der große Unterschied zu den Kriegen der Vergangenheit. Am 12. September 2022 beschoss Aserbaidschan international anerkannte armenische Gebiete. Es war ein Angriff auf  die territoriale Integrität seines Nachbarlandes.

 

Gab es einen Anlass für den Angriff?

Schwer zu sagen. Aserbaidschan erklärte, armenische Soldaten hätten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion versucht, das Grenzgebiet zu verminen. Die Attacken auf armenische Armeestellungen seien eine direkte Reaktion darauf gewesen. Außerdem würden die armenischen Streitkräfte einen Großangriff auf Aserbaidschan vorbereiten, dem das Land habe zuvorkommen wollen. Dieses Narrativ ist allerdings nicht wirklich glaubhaft.

 

Warum nicht?

Die armenischen Streitkräfte sind seit dem Krieg von 2020 sehr geschwächt. Stefan Meister, Leiter des Programms Internationale Ordnung und Demokratie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, erklärt den Zustand des armenischen Militärs im Interview mit dem Nachrichtenportal t-online.de1 so: „Armenien ist militärisch überhaupt nicht in der Lage, größere Angriffe auf Aserbaidschan zu fahren. Die sind militärisch und technologisch so unterlegen, dass ein solcher Angriff völlig absurd wäre“.

 

Aber was bezweckt Aserbaidschan mit dem Angriff auf sein Nachbarland?

Zum einen will Aserbaidschan einen Korridor zu seiner Exklave Nachitschewan und zu seinem engen Verbündeten, der Türkei, schaffen. Und dann ist da ja immer noch Bergkarabach. Durch Geländegewinne in Armenien könnte Aserbaidschan versuchen, den vollständigen armenischen Abzug aus der umkämpften Region zu erzwingen und so die Kontrolle über das Gebiet erlangen. 

Die aserbaidschanischen Medien kolportieren allerdings noch einen anderen Grund. Um ihn richtig einzuordnen, muss man wissen, dass es in Aserbaidschan keine freie Presse gibt: Das Land steht auf Platz 154 von 180 auf der Rangliste der Pressefreiheit. Der Aserbaidschan-Experte Rasmus Canbäck2 erklärte, die aserbaidschanischen Medien würden vor allem die Agenda der Regierung vertreten. Und laut derer wolle Aserbaidschan in Armenien eine entmilitarisierte Pufferzone schaffen. Entmilitarisiert hat hier allerdings eine sehr einseitige Bedeutung: Nur Armenien soll seine Soldaten in einem definierten Abstand zur aserbaidschanischen Grenze stationieren.

 

Warum erfolgt dieser Angriff ausgerechnet jetzt?

Der wichtigste militärische Verbündete von Armenien ist Russland. Und Russlands Militär ist in der Ukraine. Die russischen Schutztruppen sind aus Armenien abgezogen, und die armenische Position ist geschwächt. Das hat Aserbaidschan ausgenutzt.

 

Welche Verbündete hat Armenien noch?

Keine. Und das ist das große Problem. „Die demokratische Welt hat Armenien komplett allein gelassen“, so Stefan Meister. Niemand sei derzeit bereit, Friedenstruppen oder eine internationale Beobachterorganisation zu schicken.

Hinzu kommt, dass die Europäische Union gerade mehrere Gasabkommen mit Aserbaidschan geschlossen hat: Armenien fühlt sich von der EU verraten.

 

Aber was kann der Westen tun?

Die westlichen Länder müssten sich einen Ruck geben und zwischen Armenien und Aserbaidschan Verhandlungen organisieren. Notfalls dürfen die Länder der EU nicht davor zurückschrecken, die bestehenden Gas-Deals mit Aserbaidschan zu canceln, die ein Grund sind, warum sich der Westen in diesem Konflikt nicht eindeutig auf die Seite des angegriffenen Landes stellt.

Stefan Meister meint, Deutschland sei mit anderen Problemen, mit der Energiekrise und dem Krieg in der Ukraine, befasst. Zudem fehle es an einem generellen Verständnis der Konflikte und der Zusammenhänge im Kaukasus. Und das, so drückt es der Leiter des Programms Internationale Ordnung und Demokratie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik aus, sei „ein Bankrott für die deutsche und die europäische Politik“. Hier kann ich Stefan Meister nur zustimmen. Deutschland unterscheidet außenpolitisch zu oft, wann es zu angegriffenen Ländern steht und wann es sich zurückhält. Ungeachtet der Solidarität mit der Ukraine: Wo sind die Delegationen, die das unter Beschuss stehende Armenien öffentlich politisch und militärisch unterstützen?

Doch es ist nicht nur Aufgabe der Politik, Armenien beizustehen. Es braucht auch den Druck der Zivilgesellschaft. Als Russland die Ukraine überfiel, strömten die Menschen zu Tausenden auf die Straßen. Und auch in diesem Konflikt ist es unsere Aufgabe, uns gegen einen Angriffskrieg zu stellen – und Armenien beizustehen.

privat

Tobias Eßer hat Journalismus in Berlin studiert. Nach einem kurzen Ausflug in die Social-Media-Arbeit verdingt er sich als Nachrichtenjournalist in verschiedenen Redaktionen, unter anderem bei der Funke Mediengruppe und t-online.

 

[1] www.t-online.de/nachrichten/ausland/internationale-politik/id_100053204/aserbaidschans-angriff-auf-armenien-das-ist-eine-voellig-andere-eskalationsstufe-.html  (zuletzt aufgerufen am 03. Oktober 2022)

[2]     globalbar.se/2022/09/why-are-armenia-and-azerbaijan-at-war-again/ (zuletzt aufgerufen am 03.Oktober 2022)

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