Am 19. September begann Aserbaidschan einen Krieg gegen Berg-Karabach: mit dem Ziel, Berg-Karabach vollständig zu besetzen und ethnisch zu säubern. Betroffen sind 120.000 dort lebende Armenier. Seit dem 44-tägigen Krieg im Jahr 2020 ist das der erste Großangriff auf Berg-Karabach. Mit den Angriffen Aserbaidschans und der Besetzung armenischer Gebiete im Mai 2021 und September 2022 ist es bereits die dritte militärische Aggression. In der Folge der trilateralen Erklärung (von Russland ausgehandeltes Waffenstillstandsabkommen), die Russland, Armenien und Aserbaidschan am 9. November 2020 unterzeichnet haben, besetzte Aserbaidschan weite Teile von Berg-Karabach, und Armenien zog seine Streitkräfte aus diesen Gebieten zurück. In die nicht von Aserbaidschan kontrollierten Regionen Berg-Karabachs entsendete Russland Friedenstruppen.
Während der jüngsten Aggression rückte Aserbaidschan in mehrere Richtungen vor und besetzte Teile von Berg-Karabach. Anders als im Krieg von 2020 gestaltete sich die Abwehr der aserbaidschanischen Angriffe wesentlich schwieriger, standen die Streitkräfte Berg-Karabachs den Aserbaidschanern doch allein gegenüber. Obwohl Baku wiederholt gegen das von Russland ausgehandelte Waffenstillstandsabkommen vom 20. September 2023 verstoßen hatte, erklärte sich die Regierung von Berg-Karabach nach einem Tag kriegerischer Auseinandersetzungen bereit, Verhandlungen über die aserbaidschanischen Forderungen aufzunehmen: die Auflösung der Verteidigungsarmee von Berg-Karabach, Abzug und Zerstörung von schwerer Ausrüstung und Verhandlungen über eine "Integration" der armenischen Bevölkerung in den aserbaidschanischen Staat.[1]
Aserbaidschan hat das Recht Berg-Karabachs auf Selbstbestimmung stets bestritten: Die Bewohner Berg-Karabachs hatten sich 1991 im Rahmen einer Volksabstimmung für die Unabhängigkeit ihrer Region entschieden. Immer wieder hat die aserbaidschanische Regierung unter Beweis gestellt, dass sie eine friedliche Koexistenz mit Armenien ausschließt. Sie hat in der aserbaidschanischen Gesellschaft den Hass auf Armenien und die Armenier befördert, hat rund um den Konflikt bis in die Gegenwart hinein Kriegsverbrechen begangen. Das armenische Kulturerbe in Berg-Karabach, Nachitschewan und anderswo wurde systematisch zerstört, sogar Friedhöfe wurden entweiht. Wie stark der Kampf gegen alles Armenische in der Aserbaidschan verwurzelt ist, lässt sich auch daran ablesen, dass der Ausschuss für internationale Beziehungen im aserbaidschanischen Parlament, die Armenier als „Krebsgeschwür“[2] bezeichnet hat. Unter diesen Umständen ist die Erlangung der Unabhängigkeit immer eine Sicherheitsgarantie für die physische Sicherheit der Armenier in Berg-Karabach gewesen. Da Berg-Karabach über keine eigenen Streitkräfte mehr verfügt und einem unglaublichen Druck und existenziellen Bedrohungen von Seiten Aserbaidschans ausgesetzt ist, sah es sich gezwungen, einem Dokument über die Auflösung der Republik zum 1. Januar 2024 zuzustimmen.[3]
Wie schon bei früheren Eskalationen geht Aserbaidschan mit großer Gewalt gegen die Bevölkerung und die zivile Infrastruktur vor. Es bombardierte die Hauptstadt Stepanakert und andere Städte und Dörfer. Mindestens 200 Menschen wurden getötet, 400 verwundet (Stand: 21.30 Uhr am 20. September)[4]. Die aserbaidschanischen Streitkräfte beschossen sogar einen Krankenwagen, der Leichen aus der Region Martakert nach Stepanakert transportieren sollte.[5] In Taghavard, einem Dorf in der Region Martuni, hat Aserbaidschan Zivilisten gefangen genommen.[6]
Vor dem aserbaidschanischen Angriff am 16. September hatte sich in Berg-Karabach eine humanitäre Katastrophe entwickelt. Mehr als neun Monaten blockierte Aserbaidschan die einzige Straße, die Berg-Karabach mit Armenien und der Welt verbindet. 120.000 Armeniern war der Zugang zu Lebensmitteln, Gas und medizinischer Versorgung verwehrt, der Verkehr war lahmgelegt. Infolge der Angriffe fielen zudem lokale Mobilfunk-, Internet- und Stromnetze aus. Der Kontakt der Menschen untereinander ist extrem erschwert oder schlicht unmöglich.[7] Viele Menschen werden vermisst. Ohne jegliche Sicherheitsgarantien haben sich die Menschen in Massen auf den Weg nach Armenien gemacht. Bis zum 28. September mittags haben mehr als 68.000 Menschen die Hakari-Brücke überquert und sind in der armenischen Region Syunik angelangt.[8]
Die internationale Gemeinschaft hat es wieder einmal versäumt, die völkermörderische Politik Aserbaidschans zu stoppen. Die russischen Friedenstruppen weigerten sich bei Ausbruch der aserbaidschanischen Kriegshandlungen, für die Sicherheit von Berg-Karabach und seiner Bevölkerung mit militärischen Mitteln einzustehen – wofür sie laut Waffenstillstandsabkommen von 2020 zuständig waren. Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der russischen Staatsduma, Andrej Kartapolow, erklärte, dass die russischen Friedenstruppen das Feuer nur zur Selbstverteidigung eröffnen könnten [9], während der erste stellvertretende Vorsitzende desselben Ausschusses, Andrej Krasow, argumentierte, dass "diese Feindseligkeiten eine explosive Situation darstellen, die nur dem Westen nützt".[9] Die aserbaidschanischen Streitkräfte beschossen sogar ein Fahrzeug der russischen Friedenstruppen und töteten dabei russische Militärangehörige[10]. Doch weder der Angriff auf Berg-Karabach noch der auf die eigenen Friedenstruppen führte zu russischen Vergeltungsmaßnahmen. Auch auf diplomatischer Ebene hat Russland die Aggression Aserbaidschans nicht verurteilt.