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IMAGO / ITAR-TASS

Bergkarabach - Im Kaukasus gewinnt ein "frozen conflict" wieder an Temperatur

Der Armenien-Aserbaidschan-Konflikt im Spiegel der Presse

Mehr als zwei Dekaden lang schien der Bergkarabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan in einer fragilen, jedoch beständigen Pattsituation eingefroren. In jüngster Vergangenheit forciert Aserbaidschan nun immer offener seinen Anspruch auf die Region, sei es durch den Krieg im Jahr 2020 oder einer seit Ende letzten Jahres bestehenden Blockade der wichtigsten Versorgungsroute nach Bergkarabach.

Im Kleinen Kaukasus gelegen ist die Enklave Bergkarabach seit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion immer wieder Anlass für Streitigkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan. Die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörende Region, etwa anderthalbmal so groß wie das Saarland, wird mehrheitlich von Armenischstämmigen bewohnt. 1991 proklamierte sich – unterstützt von Armenien – mit der Republik Bergkarabach (heute: Republik Arzach) ein De-facto-Staat, der jedoch international nicht anerkannt wird. Im Verlaufe des Bergkarabach-Konflikts verloren seit 1991 zwischen 40.000 und 50.000 Menschen ihr Leben. Die BBC vermutet derzeit noch 120.000 Einwohner in Bergkarabach. [1]

Wikipedia, Abruf: 17.04.2023
Lage Bergkarabach

Die historische Genese des Bergkarabach-Konflikts reicht lange zurück: Vor mehr als 100 Jahren, nach der Unabhängigkeit vom russischen Zarenreich 1918, haben Armenien und Aserbaidschan das erste Mal um die Region gekämpft. Schon während der Zarenzeit wurde die Ungleichbehandlung der oriental-orthodoxen Armenier und der muslimischen Azeris diskutiert. 1988, in der Endphase der Sowjetunion, forderten die ethnischen Armenier Bergkarabachs einen Anschluss an die Armenische SSR, was jedoch sowohl von Moskau als auch von Baku abgelehnt wurde.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entflammten Kämpfe und wuchsen sich zu einem Krieg aus: in dessen Folge die pro-armenische Seite Bergkarabach und anliegende Regionen im Südwesten Aserbaidschans kontrollierten. 1994 kam es zu einem ersten durch Russland vermittelten Waffenstillstand. 2020 eskalierte der Konflikt erneut. Nun brachte Aserbaidschan weite Teile der umstrittenen Region wieder unter seine Kontrolle – eine einschneidende Änderung des lange herrschenden Status Quo. Es folgte ein wiederum von Moskau vermittelter Waffenstillstand, der im besten Falle als brüchig beschrieben werden kann.[2] Russische Friedenstruppen sollen den pro-armenischen Teil der Region absichern. 

OpenSourceMap, Abruf: 21.04.2023

Wegen der vergleichsweise geringen Bevölkerungsdichte Bergkarabachs und der zu vernachlässigenden Wirtschaftsleistung – aufgrund der bergigen Geographie –, ist der Konflikt als deutlich geostrategisch zu interpretieren. Die armenische Seite ist traditionell, auch militärisch, von Russland unterstützt worden. In jüngster Vergangenheit gesellte sich auch der Iran hinzu. Aserbaidschan weiß die Türkei und Israel als Partner an seiner Seite.

 

Der aktuelle Stand des Konflikts

Im vergangenen Jahr hat sich der Konflikt wieder verschärft. Mitte September kam es zu Grenzüberschreitungen der aserbaidschanischen Armee mit Angriffen auf Stellungen Armeniens in deren Folge 100 Menschen ihr Leben verloren. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, für die Eskalation der Gewalt verantwortlich zu sein.

Seit Dezember vergangenen Jahres blockieren pro-aserbaidschanische Kräfte ein Teilstück des wichtigen Latschin-Korridors – der mittlerweile einzigen Transitverbindung Armeniens mit Stepanakert, dem industriellen Zentrum Bergkarabachs und Hauptstadt des De-facto-Staates Arzach. Inzwischen hat Aserbaidschan an der Einfahrt des Latschin-Korridors einen Kontrollpunkt errichtet, mit dem es nach eigener Aussage Waffenlieferungen in die Region verhindern will. Für die humanitäre Versorgung der Bevölkerung in der Enklave ist die Blockade des Latschin-Korridors verheerend.

Zwar gibt es seit dem 20. Februar 2023 eine Beobachtermission der EU, die Berechtigungen der zivilen Mission der Europäischen Union in Armenien (EUMA) gestalten sich jedoch übersichtlich. Die Bundesregierung beschreibt EUMA als „zivile, nicht-exekutive und unbewaffnete GSVP-Mission“, an der sich Deutschland mit 15 Kräften beteiligen wird.[3]

Talkwalker
Wortwolke „Bergkarabach“ aus Twitter, Auswertungszeitraum: 01.03.-17.04.2023, Quelle: Talkwalker.

Bereits zu Jahresbeginn warnte der Kaukasus-Experte Laurence Broers, dass für 2023 eine weitere Eskalation des Konflikts zu befürchten sei: Es gebe „allen Grund, in diesem Jahr mehr Gewalt zu erwarten“. Dem De-facto-Staat Arzach verbleibe nach der armenischen Niederlage 2020 lediglich Russland als Schutzmacht, was der aserbaidschanische Präsident Alijew angesichts des russischen Krieges in der Ukraine nun auszunutzen versuche. Durch den Angriffskrieg habe das russische Ansehen in der Region „schwer gelitten, vor allem was […] Sicherheitsgarantien und seine Abschreckungskraft angeht“. Auch der Wechsel an der Regierungsspitze der Republik Arzach im November – es begann die Amtszeit Ruben Vardanyans als Staatsminister, wodurch eine verminderte Reaktionsfähigkeit der neuen Regierung angenommen wurde – habe mutmaßlich zu der Entscheidung für eine Korridor-Blockade beigetragen.

Anja Koch für die Deutsche Welle verweist auf das zunehmende paramilitärische Selbsttraining der armenischen Bevölkerung, das die wachsende Alarmbereitschaft beider Seiten illustriert. Armenien sehe sich zunehmend auf sich allein gestellt. Der Politologe Tigran Grigoryan spricht vom wachsenden Unmut Armeniens gegenüber Russland, das nicht mehr konsequent als Schutzmacht und Garant armenischer Interessen auftrete.

Die armenische Enttäuschung über die ausbleibende Hilfe Moskaus stellte auch Jan Emendörfer nach Beginn der Teilblockade des Latschin-Korridors in der Frankfurter Rundschau heraus. In der Folge seien die bilateralen Beziehungen derart abgekühlt, dass Armenien gemeinsame Militärübungen mit Russland aussetzte. Nach Einschätzung der Politologin Nadja Douglas steuere der Konflikt „auf eine neue Eskalationsstufe zu, bei der Aserbaidschan das Ruder in der Hand hält.“ Ihre Vermutung, dass die Blockade zur Errichtung eines dauerhaften Checkpoints führe, um „damit faktisch den exterritorialen Status von Berg-Karabach außer Kraft zu setzen“, hat sich inzwischen bewahrheitet.

Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Abruf: 18.04.2023
Territoriales Ergebnis des zweiten Karabach-Kriegs, Quelle: Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Abruf: 18.04.2023.

Ähnlich die Einschätzung von Friedrich Schmidt in der FAZ: Es zeige sich „Armeniens Wut“ angesichts der russischen „Untätigkeit, die viele Beobachter mit einer durch den Ukrainekrieg geschwächten Stellung Moskaus in der Region verbinden.“ Auch die Regierung von Ministerpräsident Nikol Paschinjan vermittle dies mittlerweile offen: „Die Gräben werden tiefer, gegenseitige Sticheleien häufen sich.“ Die Absage des Manövers der russisch-initiierten Militärbündnisses ODKB sei nur ein Beispiel dafür.

Gefangen in einem andauernden „Teufelskreis aus Krieg und Vertreibung, Flucht und Rückkehr“ sieht André Widmer beide Staaten in einer Reportage der NZZ am Sonntag. Zurzeit sei die aserbaidschanische Seite im Vorteil, was sie nutze, um ihrerseits dezidiert die eigene Infrastruktur in Bergkarabach wiederaufzubauen. Beide Bevölkerungsgruppen seien Teil eines Kreislaufs aus Vertreibung und Remigration, der in dieser Form bereits seit Generationen existiere. Es spreche jedoch nur wenig dafür, dass dieser Kreislauf bald mit einer für alle Seiten zufriedenstellenden Lösung unterbrochen werden könne.

Den Entschluss der EU-Außenminister zur Einrichtung der Mission EUMA griff Christoph B. Schiltz für die Welt auf und beschreibt das europäische Auftreten als „ambivalent“. Die fehlende Unterstützung, Armenien fühlt sich auch von Brüssel allein gelassen, habe zur Gründung der EUMA geführt: „Eingreifen dürfen die EU-Polizisten aber nicht.“ Von energiepolitischen Interessen geleitet, vertiefe Brüssel gleichzeitig seine wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit Aserbaidschan, dem direkten armenischen Rivalen.

 

Bedeutung für den weiteren Kaukasus

In der Foreign Affairs beleuchtet der US-iranische Politologe Mohammad Ayatollahi Tabaar die geopolitische Komponente des Konflikts: Die Bündniskonstellationen spiegeln inzwischen die herkömmlichen ethnischen und konfessionellen Trennlinien der Region nicht mehr. Besonders der Iran fürchte, durch die sich verstärkende Allianz Israels und Aserbaidschans geopolitisch in Rückstand zu geraten, weshalb das Regime in Teheran nun seinerseits zunehmend Armenien unterstütze.

Weil Russland als Schutzmacht nicht mehr die gewohnte Durchschlagskraft entfaltet, sieht sich Armenien gezwungen, seine Beziehungen zu diversifizieren. Wie Meike Dülffer für Zeit online ausführt, bedinge die geographische Lage des Landes sowie seine wirtschaftliche und politische Abhängigkeit von Russland andere Handlungsansätze. Bei seiner Entscheidung für Handels- und Sicherheitspartner sei Armenien gezwungen, hehre moralische Aspekte außen vor zu lassen – oder wie es der Politologe Alexander Iskandarjan ausdrückt: „Wir haben keine Wahl[,] egal ob diese Länder gut oder schlecht sind, Diktaturen oder nicht.“ Das erklärt, dass Armenien die EU um Unterstützung bittet und gleichzeitig mit Indien über Waffenankäufe verhandelt.

In den größeren Kontext der postsowjetischen Entwicklungen in der Kaukasusregion ordnet Pavel Lokshin in der Welt den Bergkarabach-Konflikt ein: Er reihe sich nahtlos in eine Vielzahl von Streitfällen ein, die nun angesichts der schwindenden russischen Strahlkraft zutage treten, sei es in Transnistrien, Südossetien und Abchasien oder zwischen Kirgisistan und Tadschikistan.

 

[1] Nagorno-Karabakh profile, BBC, Abruf: 18.04.2023.

[2] Für einen Kurzüberblick des Konflikts eignen sich beispielsweise die Seite der Encyclopaedia Brittanica oder Sarjveladse, Mikheil: Krieg und Frieden im Südkaukasus. Der ewige Konflikt um Berg-Karabach, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 13, pp. 321-332 (2020).

[3] Deutschland beteiligt sich an EU-Mission in Armenien, Bundesregierung, Abruf: 18.04.2023.

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