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Muslimische Vorstellungen von Überlegenheit, ihre Wirkung auf Extremismus und Terror und was wir dagegen tun können

Immer wieder erschüttern terroristische Anschläge, die von Muslimen im Namen des Islam begangen werden, die Welt. Von 9/11 bis zu den jüngsten Attentaten in Wien prägen sie ein fatales Bild des Islam, dem viele Muslime und ihre Repräsentanten nichts entgegensetzen als die Aussage, Gewalt habe nichts mit dem Islam zu tun.

„Das hat nichts mit dem Islam zu tun!“ ist die gefühlt häufigste und wiederkehrende Reaktion der muslimischen Verbände in Deutschland, wenn sich irgendwo ein extremistischer Anschlag im Namen des Islam ereignet. Die Verbände verurteilen die Taten „aufs Schärfste“ und kehren anschließend schnell zum Tagesgeschäft zurück. Bis sich irgendwo wieder ein Anschlag ereignet. Dieses Ritual blieb im Zuge der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan aus.


Die Öffentlichkeit vermag keinen Unterschied zwischen den Taliban, dem IS, salafistischen oder wahhabitischen Gruppierungen erkennen. Alle werden in die Schublade „Steinzeitislamisten“ gepackt. Das ist unter Berücksichtigung der Wirkungen, die diese Gruppen entfalten, nachvollziehbar. Diese Ungenauigkeit in der Analyse versperrt jedoch den Blick auf gravierende Probleme, die uns hier in unserer Gesellschaft konkret betreffen. 


Um den entscheidenden Unterschied zu beschreiben: Der islamistische Extremismus salafistischer Kreise bis hin zum IS ist ein modernes Phänomen. Er wurde erst möglich durch eine Praxis der willkürlichen individualistischen, literalistischen Anwendung des Koran und vermeintlicher Prophetenzitate als Werkzeugkasten der Gewaltlegitimation. Gewalt und Terror dienen diesen Gruppen als Zweck, der Islam nur als Mittel der Bestrafung des Westens. Dieser Extremismus ist darauf ausgelegt, Individuen zu überzeugen und Einzeltäter oder kleine Gruppen von Tätern zu Anschlägen zu motivieren. Seine territoriale Ausdehnung gelang nur im Machtvakuum der Syrien-Krise. Mit ihm lässt sich, entgegen der anderslautenden Selbstbezeichnung seiner Anhänger, eben kein Staat machen. Mit ihm entstehen nur Chaos und Zerstörung.


Von diesem Phänomen distanzieren sich muslimische Verbände laut und deutlich. Sie weisen diesen Extremismus – und damit sagen sie ausdrücklich etwas Wahres – als etwas zurück, das sie als unislamisch empfinden. So stellen sie trotz der religiösen Rhetorik und Verbrämung dieses Extremismus darauf ab, dass er keine Legitimation in der Gelehrtentradition des Islam findet. Sie weisen glaubhaft darauf hin, dass dieser moderne Extremismus gegen eigene gewachsene islamische Überzeugungen verstößt. Sie beschreiben ihn zutreffend als Missbrauch des Islam. Dass sie sich nicht zuständig fühlen, gegen den Missbrauch ihres Glaubens aufzustehen, steht auf einem anderen Blatt. Anders stellt es sich dar, wenn es um die Taliban geht. 


Die Taliban lassen sich nicht in die oben beschriebene Gruppe des modernen Extremismus einordnen. Auch wenn es den Opfern religiös legitimierter Gewalt gleichgültig sein kann, mit welcher Argumentation ihnen die Hand abgeschnitten wird, sie umgebracht oder unter einen Schleier gezwungen und als Kriegsbeute zum Besitz anderer degradiert werden. Was die Haltung der muslimischen Verbände betrifft, ist diese Differenzierung indes nicht trivial. 


Aus Sicht der muslimischen Verbände missbrauchen die Taliban den Islam nicht. Sie gebrauchen ihn. Sie erfinden keine neue, moderne Methodik der Anwendung religiöser Normen oder der Rechtsfindung durch theologische Exegese. Die Taliban wenden nur an, was sie den klassischen, gewachsenen Denk- und Rechtsschulen der historischen islamischen Theologie – oder besser Methodologie – entnommen haben. Sie bedienen sich nicht willkürlich mal dieser oder jener Tradition. Sie gebrauchen die Quellen ihrer religiösen Gelehrtentradition nicht beliebig. Sie orientieren sich konsequent an den Ergebnissen, die die hanafitische Rechtsschule in Verbindung mit der maturidischen Denk- und Glaubensschule bereits vor Jahrhunderten formuliert hat. 


Ihr Anspruch resultiert aus der jahrhundertealten Frage muslimischer Rechtsgelehrter, wie eine Gesellschaft, die den Grenzen einer kleinen, lokalen Stammesgemeinschaft entwachsen ist und nun ganze Städte, Länder und Kontinente umfasst, zu regieren sei. Da es keine neue göttliche Offenbarung geben wird, keinen neuen Propheten, der die Gemeinschaft bei der Anwendung der religiösen Ge- und Verbote anleitet, muss eine Antwort gefunden werden, wie neue Normen für eine Millionen umfassende Gemeinschaft gesetzt und angewandt werden können. 
Die Taliban bedienen sich jener Antworten, die historisch formuliert wurden. Jede ihrer Praktiken, die nicht persönlicher Willkür entspringt, sondern religiös begründet wird, beruht auf den Vorgaben und Ergebnissen der historisch gewachsenen islamischen Jurisprudenz, der Fiqh. Todesstrafen, Körperstrafen, das Verständnis von individueller Freiheit und die Grenzen dieses Verständnisses, der Status der Frauen, der Andersgläubigen, der Glaubensabweichler, schlichtweg jede Entscheidung in Bezug auf Abweichungen von den vorgegebenen religiösen Normen, sind keine Neuerfindungen der Taliban. Sie sind gehören zum Fundus der klassischen islamischen Jurisprudenz und werden von den Taliban lediglich angewandt. 


Damit gehören die Taliban zu den „Leuten der Sunna und der Gemeinschaft“ – ahl as-sunna wal-gama’a. Sie haben ihren theologisch legitimen Platz in den Reihen der Sunniten, jener Muslime, die dem Brauch, der Handlungsweise, der Tradition des Propheten (s.a.s.) folgen. Für die muslimischen Verbände in Deutschland, insbesondere für die türkeistämmigen, sind die Taliban im theologischen Sinne uneingeschränkt Glaubensbrüder. 
Deshalb hören wir keine „Das hat nichts mit dem Islam zu tun!“-Distanzierungen von den hiesigen Verbänden. Was vor dem Hintergrund der Stille in Deutschland umso hörbarer wird, sind die Äußerungen in der Türkei. Staatspräsident Erdogan fiel vor Kurzem mit der Formulierung auf, die Türkei stehe dem Glaubensverständnis der Taliban in nichts entgegen. Daher werde man sich im diplomatischen Umgang mit den Taliban besser verstehen als andere Nationen. 


In der regierungsnahen türkischen Presse finden jene Stimmen Gehör, die den Triumph der Taliban als Sieg der Muslime gegenüber den Mächten der Ungläubigen feiern. Man müsse jetzt abwarten und für die Taliban beten, dass sie das Schicksal ihres Landes weiter im rechten Glauben gestalten. Mitgefühl mit den flüchtenden Afghanen ist in diesen „frommen“ Kreisen selten. Dort herrscht eher Schadenfreude darüber, dass die Kollaborateure des ungläubigen Westens nun ihre vermeintlich gerechte Strafe erhalten werden. 


Kritisches zum Schicksal von Frauen oder von Menschen, die nicht nach islamischen Normen leben wollen, fehlen nahezu vollständig. Diese Kategorien von Freiheit haben in dem Wertegerüst der Taliban keinen Platz. In der theologischen Tradition, der sie folgen, ist der religiöse Herrschaftsanspruch das absolut Gute, dem sich alle zu beugen haben. Schutz individueller Freiheit durch den Staat oder gar vor dem Staat ist keine Option. Denn überall dort, wo die Freiheit im Widerspruch zur religiösen Norm steht, ist sie geeignet, über die individuelle Freiheitswirkung hinaus den Geltungsanspruch aller religiösen Normen für andere Muslime infrage zu stellen. Diese „Störung“ der religiösen Ordnung bedroht die weltliche Autorität, die sich religiös legitimiert. Die Taliban töten lieber, als diese Herausforderung hinzunehmen: „Der Finger, den die Scharia abschneidet, schmerzt nicht!“ 


Wie sollen die Verbände mit dieser theologischen Nähe umgehen? Sie können die traditionelle religiöse Jurisprudenz nicht abschaffen. Sie können sie nicht als entkräftet, überholt oder ungültig deklarieren. Dazu sind sie nicht ermächtigt, so sehr sie sich auch als Religionsgemeinschaften verstehen. Darüber entscheiden die ausländischen religiösen Autoritäten. Von ihnen ist eine theologische Distanzierung von den Taliban aus den dargelegten Gründen aber nicht zu erwarten. Die Verbände müssten erklären, nach welcher Vorstellung von Religion sie in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft leben und glauben wollen. Sie könnten signalisieren, dass sie nicht nur in diesem Land leben, sondern auch verinnerlicht haben, was es bedeutet, Bürger dieser Gesellschaft zu sein, also ihren Glauben so zu verstehen und zu leben, dass er sich zum Wohl aller Bürger dieses Landes entfaltet– ohne dass alle die gleichen Überzeugungen teilen müssen. Hierzu ist eine Diskussion darüber, ob der historische Bestand der muslimischen Rechtsauslegung auch heute noch gültig ist, zwingend notwendig. 


Wozu sonst haben die Verbände den Anspruch, Muslime zu vertreten? Wozu sonst haben sie eigene „religiöse Beiräte“ oder „Gelehrtenräte“, wenn sie der hiesigen Gesellschaft oder auch nur ihren eigenen Mitgliedern nicht deutlich machen können, was das Wesen ihres Glaubens ausmacht, wofür sie stehen und was in ihrem Glauben keinen Platz haben darf? 


Was für die muslimischen Verbände gilt, gilt in ähnlicher Weise für die universitäre islamische Theologie in Deutschland. Sie hat über die akademischen Grenzen hinweg eine öffentliche Wirkung, die sie mit Inhalt füllen muss. Es braucht eine Diskussion, wo und wie angesichts des historischen religiösen Erbes eine klare Grenze zwischen dem hiesigen Islamverständnis und dem der Taliban gezogen werden kann. 
Und es braucht eine Debatte, ob der Geltungsanspruch des historischen traditionellen Bestandes religiöser Rechtsfindung und Rechtsauslegung nicht längst überfällig ist und ob die Kategorien von individueller Freiheit und demokratischer Gesellschaftsordnung nicht endlich mitberücksichtigt werden müssen. Die Antworten der Muslime der Vergangenheit auf die gesellschaftlichen Fragen ihrer Zeit sind keine religiösen Dogmen, keine göttlichen Offenbarungen, die uns heute als Muslime der Gegenwart binden dürfen. Wir müssen neue Antworten auf unsere heutigen Fragen finden.


Dafür ist es auch notwendig, bisherige muslimische Vorstellungen von Überlegenheit zu überwinden.

 

Murat Kayman, geboren 1973, studierte Rechtswissenschaften in Kiel und war anschließend als Rechtsanwalt in Lübeck und Hamburg tätig. Von 2014 bis 2017 war er Jurist des muslimischen Verbands DITIB in Köln. Nach der Affäre um die Spitzeltätigkeit von Imamen in Deutschland trat er von seinen Ämtern zurück. Er ist Mitbegründer der Alhambra Gesellschaft, eines Zusammenschlusses von Muslimen, die sich als Europäer begreifen, und Bestandteil des Podcasts Dauernörgler

RIVA

Sein neues Buch "Wo der Weg zur Gewalt beginnt" ist im RIVA Verlag erschienen.

Weitere Informationen unter:

www.m-vg.de/riva/shop/article/21456-wo-der-weg-zur-gewalt-beginnt/

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