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Juliane Liebers/ KAS

Komm! Ins Offene, Freund. Kultur im Ausnahmezustand.

Warum schreiben in schwierigen Zeiten? Welche Lektionen, wenn es sie denn gibt, hat die Literatur angesichts von Lockdown und social distancing für uns parat?

Ihrem hilflosen Blick ist abzulesen, dass sie Esther nicht erkennt. Sie sitzt hinter der Glasscheibe im Rollstuhl, die Haare nicht mehr dauergewellt und kastanienbraun gefärbt, sondern glatt und mausgrau, kinnlang, eine weiße Bluse, oben rechts in Brusthöhe ein kaffeebrauner Fleck, auf ihrem Schoß und über ihren Beinen eine karierte Wolldecke, die, Esther kann den Stoff geradezu spüren, kratzt. Ihrer Mutter hat das nie etwas ausgemacht. Grobe Stoffe haben seit ihrer Kindheit auf ihrer Haut gewirkt. Damals im Krieg, hatte sie gesagt, wenn Esther sich als Kind über eine dieser widerborstigen Strumpfhosen mit Zopfmuster beschwert hatte, für die sie in der Schule gehänselt worden war, damals im Krieg wären wir froh gewesen, solche Strumpfhosen zu haben. Ihre Mutter winkt zart und leer durch das Glas, ihre Aufmerksamkeit auf die Blumen gerichtet, die Esther an diesem Morgen im Garten für sie gepflückt hat. Tulpen, Narzissen, Kirschzweige; ihre Mutter betrachtet sie, als hätte sie solche Blumen noch nie gesehen, dabei sind es ihre eigenen, sie stammen aus ihrem Garten. Zu einer besseren Zeit haben sie sie gemeinsam gepflanzt. Im September oder Oktober war das, als noch keiner ahnte, was der Welt nur wenige Monate später blühen würde.

 

Esther hatte die Mutter an einem spätsommerlichen Sonntagnachmittag aus dem Pflegeheim abgeholt und war mit ihr erst durch die Stadt gefahren, die sie durchs Seitenfenster des Rollstuhltaxis wie aus einem Touristenbus entdeckt und studiert und deren Straßennamen sie laut vorgelesen hatte: Lindenstraße. Lang und gedehnt, als müsse sie die Buchstaben einen nach dem anderen vor ihrem geistigen Auge niederschreiben, Lienndeennsssstrrraaße. Dann über den Mohnweg nach Hause in die Kastanienallee, in das noch nicht aufgelöste Zuhause, wo ihre Mutter in der Küche ihr gutes Service im Schrank bewundert hatte. Ausgesucht schön, hatte sie gesagt und in diesem Moment ganz wie ihre Mutter geklungen, während Esther Tee für sie zubereitet hatte, ihren Lieblingsorangentee, der im Pflegeheim immer wieder spurlos verschwand, sooft Esther auch neue Pakete brachte.

 

Während das Wasser kochte, rollte ihre Mutter durch die Wohnung in ihr altes Schlafzimmer, ganz nah ans Bett. Etwas Vertrautes musste dieser Raum in ihr geweckt haben, so zärtlich strich sie über die Tagesdecke, so lange blieb sie dort und betrachtete die bücherbemantelten Wände ringsherum. An den Familienfotos im Flur rollte sie vorbei, sie sagten ihr nichts. Die Stehlampe neben dem Sofa betrachtete sie lang und ausdauernd. Den Tee tranken sie später aus den guten Tassen an dem Tischchen mit Blick in den Garten, wo sie schließlich laut lachend die Blumenzwiebeln über ihre Schultern in die Beete warfen, irgendwohin. Das wird schön, hatte ihre Mutter ausgelassen gerufen, das wird im Frühjahr schön blühen, Kind. Und ob Kind Esther meinte, ihr Kind, war nicht klar. Ihren Namen hatte ihre Mutter schon lange nicht mehr ausgesprochen.

 

Die Krankenpflegerin auf der anderen Seite des Glases, eine stämmige, resolute Weiße mit rosa Pferdeschwanz, Tattoo am Hals, Mundschutz vor dem Gesicht und lächelnden blauglänzenden Augen, schiebt den Rollstuhl näher an die Scheibe, hin zum Telefon, und bedeutet Esther, auf ihrer Seite ebenfalls den Hörer abzunehmen. Esther kennt diese Szene nur aus Filmen, wenn Strafgefangene über Telefonhörer mit ihren Besuchern sprechen dürfen, durch den Hörer schweigen, flüstern, schreien, den Hörer wütend gegen die Scheibe deppern und abgeführt werden, oder ihre Hände sehnsüchtig auf die Glasscheibe legen mit der stummen Bitte, das Gegenüber möge seine Hand auf seiner Seite darüberlegen. Illusion einer Berührung.

Esther hört den Atem ihrer Mutter, die nicht recht weiß, was sie mit dem grauen Hörer anfangen soll. Ja?, fragt sie in den Raum und starrt erst den Hörer, dann Esther an. Ja? Es ist lange her, hat die Direktorin des Pflegeheims zu Esther gesagt. Mehr als sieben Wochen, hat sie dann seufzend hinzugefügt, als wüsste Esther nicht, dass es genau dreiundfünfzig Tage sind, von denen sie wiederum nicht weiß, was sie im Leben ihrer Mutter umspannen. Einen Wimpernschlag? Eine Ewigkeit? Sieben Wochen? Hat sie noch ein Zeitgefühl? Es kann sein, sagte die Direktorin, dass es ein zu langer Zeitraum war, dass Ihre Mutter Sie nicht mehr erkennt, aber Esther, bitte, Sie wissen, dass das nicht heißt, dass sie Sie vergessen hat, sondern dass sie Sie nicht mehr zuordnen kann, weil sie jetzt zunehmend in ihrer eigenen Welt lebt. Und Esther hat genickt und nur innerlich widersprochen. Wozu mit dieser netten Dame diskutieren, dass ihrer Mutter genau das passiert: dass sie ihr Kind vergessen hat, ihre eigene Tochter, und ihren Sohn, der in Afghanistan gefallen ist, worüber sie nie hinweggekommen ist, und ihren Mann, der seit drei Jahren tot ist, womit das alles erst angefangen hatte? Dass sie ihre Geschichte, ihr Geschirr, ihr Haus, ihr ganzes Leben einfach vergessen hat? Dass ihre Mutter, die stets ein glänzendes Gedächtnis für Namen, Daten, Zusammenhänge, Blumensorten, Rezepte, einfach alles hatte, die keinen Geburtstag vergaß, nicht einmal den Namenstag des Briefträgers, der gar nicht wusste, dass er einen hatte, dass ihre Mutter all das verloren hatte wie ein Herbstbaum seine Blätter? Und dass diese sieben Wochen Lockdown eine Zumutung waren angesichts ihres schwindenden Gedächtnisses, und dass sich Esther nicht erschlossen hatte, warum Krankenpfleger im Heim ein- und ausgehen durften, nicht aber Esther, die notfalls auch in einen Schutzanzug gestiegen wäre und einen Helm angezogen hätte, denn sie war doch ebenso relevant für die wenigen noch funktionierenden Systeme im Gehirn ihrer Mutter.

Aber, hatte die Direktorin darauf gesagt, aber das würde ihre Mutter doch furchtbar erschrecken und damit könnte sie nichts anfangen und Sie könnten sie auch dann nicht umarmen. Ihre Mutter versteht nicht mehr, was draußen los ist, Esther, abgesehen davon, und das ist der wichtigste Punkt, ist die Gefahr zu groß, stellen Sie sich vor, Sie stecken sie unbemerkt an, sie oder jemand anderen… Und Esther hatte genickt und zugegeben, dass das unverantwortlich war, und dass sie die Nachrichten natürlich auch verfolgte, mehr als gut für sie war, und daher wusste, dass Abstand der neue Beweis der Liebe und Nächstenliebe war. Und so waren sie also dazu übergegangen, dass Esther jeden Abend im Heim anrief und ihrer Mutter eine Viertelstunde Gedichte vorlas, die sie im Rahmen des weltweiten Poem-Exchanges der letzten Wochen von Freunden und wildfremden Menschen per Mail erhalten hatte. Eine dieser Ketten-Mail-Ideen, die wie wild kursierten, nur dass diese schön war; ihr waren Gedichte zugeflogen, die sie seit Jahren nicht gelesen oder gar nicht gekannt hatte.
Die Pfleger legten das Telefon auf den Nachttisch ihrer Mutter, stellten auf Lautsprecher und Esther las in die Leere, jeden Abend, fünfzehn Minuten, bekam keine Antwort, hörte keinen Mucks, höchstens das Rascheln der Bettdecke.

 

Sie müssen den Hörer ans Ohr halten, dann können Sie Ihre Tochter hören. Die Krankenschwester spricht so laut und artikuliert, dass Esther es durch die Glasscheibe hört, dabei hält sie Esthers Mutter den Telefonhörer sanft an den Kopf. Nach dem Mittagessen, ruft sie Esther durch die Scheibe zu, ist Ihre Mutter immer ein wenig müde. Ihre Mutter blickt entgeistert erst auf die fremde Hand neben ihrem Gesicht, dann wieder durch die Scheibe, hinter der Esther, die Blumen noch in der Linken, sitzt und sich fragt, wohin all die Informationen im Gehirn ihrer Mutter verschwunden sind. Das Käsegebäck-Rezept, das sie nie aufgeschrieben hat. Die Geschichte mit ihrem Vater, damals, die sie nie zu Ende erzählt hat. Die Fähigkeit, Nachrichten zu verfolgen, zu verstehen, dass die Welt dichtgemacht hat, weswegen sie nun um zwölf Uhr dreißig wie zur Besuchszeit im Gefängnis voreinander sitzen. Esther muss sich zusammenreißen, ihre Wut über die Rat- und Hilflosigkeit der Welt und ihre eigene natürlich, ihren Zorn über die fehlenden Wundermittel gegen Demenz und Viren nicht laut herauszuschreien, doch da hört sie auf einmal die Stimme ihrer Mutter. „Hermann Hesse“, spricht sie klar und stolz in den Hörer. „Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, blüht jede Weisheit auch… Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ Ihre Mutter deutet auf die Blumen. Winkt noch einmal. Und dann sagt sie, als lege sie eine kratzige Decke um Esther: „Gute Nacht.“

 

Husch Josten kam 1969 in Köln zur Welt. Ausgestattet mit Studienabschlüssen in Geschichte und Staatsrecht volontierte sie als Journalistin in Paris. Die Arbeitswelt führte sie zurück nach Köln, Paris und weiter nach London. In dieser Zeit schrieb Husch Josten für Magazine und Tageszeitschriften, seit 2011 Romane.
2019 gewann Sie den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. Husch Josten lebt als freie Schriftstellerin in ihrer Heimatstadt Köln.

 

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