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Erster AfD-Landrat in Deutschland

Sonneberg hat gewählt. Die Republik reagiert

Der AFD-Kandidat Robert Sesselmann hat die Stichwahl um das Landratsamt im thüringischen Sonneberg gewonnen. Das Presseecho war enorm. Viele warnen vor Panikmache, mahnen aber auch zur Vorsicht, ist Semmelmann doch der erste AFD-Landrat in Deutschland. Dass er seine Wahlversprechen halten kann, gilt als ausgeschlossen.

Auf einen Blick:

• Im thüringischen Landkreis Sonneberg wurde am vergangenen Sonntag erstmalig ein Politiker der AfD zum Landrat gewählt. In der Stichwahl setzte sich Robert Sesselmann mit 52,8 Prozent der Stimmen gegen den CDU-Kandidaten Jürgen Köpper durch, der auf 47,2 Prozent kam. Die Wahlbeteiligung lag mit 59,6 Prozent deutlich höher als beim ersten Wahlgang vor zwei Wochen.

• Das bundesweite Echo auf das Wahlergebnis ist analog wie digital enorm. Die Printreaktionen führender deutscher Zeitungen warnen mehrheitlich vor übertriebener Panikmache, betonen jedoch auch die Bedeutung des Ereignisses.

• Die Wahl sei als strategischer Erfolg der AfD zu interpretieren. Auch wenn der neu gewählte Landrat über wenig politischen Spielraum verfüge, hoffe die AfD auf weitere politische Erfolge und könne den jüngsten Sieg als „Treibmittel“ nutzen. Nach aktuellen Umfragen habe die AfD realistische Chancen, bei den 2024 anstehenden Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen stärkste politische Kraft zu werden.

• Angemahnt wird, dass die Politik wieder glaubhafter auf die Sorgen und Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen müsse. Der steigende Anteil der Nichtwähler falle stark ins Gewicht, weil es der AFD immer besser gelänge, ihr Wählerpotential auszuschöpfen.

• Nun seien alle Parteien gefragt. Die CDU müsse die Brandmauer zur AfD aufrechterhalten und integrativ wirken. Auch die Medien sollten sich die Frage über den richtigen Umgang mit der AfD stellen.

 

Der AfD-Landrat – Zäsur für Deutschland?

Eine politische „Zäsur“ nennt Pitt von Bebenburg die Wahl in der Frankfurter Rundschau, sie mache deutlich, dass „viele Menschen bereit sind, unter bestimmten Bedingungen ihre Stimme einer völkisch-nationalistischen und rassistischen Partei und ihren Leuten zu geben“. Umso wichtiger sei es nun, „die Menschen mit einer überzeugenden Politik zurückzuholen in eine sachliche Auseinandersetzung“. Schwierig werde der Spagat zwischen der Abgrenzung zur AfD und der Vermeidung des Eindrucks, die AFD sei Opfer einer Kabale der anderen politischen Parteien. Zugleich mahnt er jedoch auch die Eigenverantwortung der Wähler an: „[E]ine angebliche Protestwahl kann keine Ausrede sein. Auch Wählerinnen und Wähler tragen eine Verantwortung. Sie müssen mit den Konsequenzen leben.“ Es gäbe jedoch auch Wähler, die sich schon weit von der Demokratie entfernt hätten und die man mit dem Argument, dass man komplexe politische Themen nicht mit einfachen Antworten gerecht wird, nicht mehr erreicht.[1]

Der Sieg des AfD-Kandidaten sei „ein symbolischer Erfolg für die Thüringer Rechtsextremisten unter Führung ihres westdeutschen Kaders Björn Höcke, und es ist eine schmerzhafte Niederlage für alle Demokraten, die sich in der Stichwahl hinter den CDU-Kandidaten gestellt hatten“, meint Iris Mayer in der Süddeutschen Zeitung. AfD-Wähler als „reine Denkzettelschreiber“ zu begreifen, sei zu bequem. Es sei an der Zeit anzuerkennen: „Wer die AfD wählt, tut das nicht trotz ihres Personals und deren Parolen, sondern genau deswegen. [Wer die AfD wählt] will auch niemanden in Verantwortung nehmen, sondern wünscht, dass politisch die Hütte brennt. Das tut sie nun, und es wäre gut, wenn alle Vernünftigen zum Löschen kämen, ehe sich das Feuer noch weiter ausbreitet. […] Ein Kreuz bei der AfD muss ein verlorenes sein, weil Demokraten nicht mit Demokratieverächtern zusammenarbeiten. Das muss auch für politischen Stil und Rhetorik gelten“.[2]

„[D]ie 20.000 Zuhausegebliebenen [sind] das eigentliche Alarmsignal“ aus Sonneberg, so Florian Gathmann bei Spiegel plus. Die Wahlbeteiligung von 59,6 Prozent mache in eklatanter Weise deutlich, dass es den Nichtwählern „offenbar schlicht egal war, ob ein Rechtsextremer ihr neuer Landrat wird oder nicht“. Für die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen sei das ein schlechtes Omen – vorausgesetzt, dass wieder so viele der Wahlurne fernbleiben bei gleichzeitig hoher Mobilisierung der AFD Der Autor kritisiert „das Verhältnis der Menschen in Südthüringen zu ihrem wichtigsten Bürgerrecht, der Teilnahme an demokratischen Wahlen“ – und verortet dieses Problem nicht nur im Landkreis Sonneberg, sondern – in einem gewagten Sprung – gleich in ganz Ostdeutschland.[3]

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Es sei falsch, das Ergebnis der AfD bei dieser Kommunalwahl lediglich als symbolischen Sieg zu deuten, gehe es doch weit darüber hinaus, erklärt Roland Preuss in der SZ. Der Partei eröffne sich „mit dem neu gewonnenen Posten eine Gelegenheit, die Brandmauern schleifen, die die anderen Parteien zur AFD hochgezogen haben“. Sonneberg habe das Potenzial, „Schaden anzurichten weit über den Landkreis hinaus. Es kündigt sich eine Normalisierung an im Umgang mit der mehr und mehr rechtsextremen Partei. Eine Normalisierung wäre ein abschüssiger Weg hin zu gemeinsamen Beschlüssen von AfD und CDU – oder anderen Parteien – in Landtagen, zur Tolerierung einer Landesregierung durch die AfD, schließlich zu einem Regierungsbündnis. Es wäre ein Triumphzug der AfD, der in Sonneberg seinen Ausgangspunkt nahm“.[4]

Wer nicht wolle, dass die AfD Mehrheiten gewinne, müsse mehrheitsfähige Angebote machen, dies sei den etablierten Parteien in Sonneberg nicht gelungen, analysiert Ben Krischke im Cicero. Der Sieg des AfD-Kandidaten sei „nur die logische und längst absehbare Konsequenz einer seit Jahren fortschreitenden Entfremdung zwischen der etablierten Politik und großen Medienhäusern auf der einen und zunehmend angefressenen Bürgern auf der anderen Seite. Nein, diese Wahl hat nicht die AfD für sich entschieden, sondern der politische Mainstream und angeblich linke Kulturkämpfer gegen sich. Allen gegenteiligen Verlautbarungen vom Sonntag zum Trotz, sind die steigenden Umfragewerte für die AfD und die Wahl Sesselmanns genauso Ausdruck einer lebendigen Demokratie, wie es die Nicht-Wahl Sesselmanns und sinkende Umfragewerte für die AfD wären; unabhängig davon, ob der einzelne Bürger das eine oder das andere bevorzugt. Denn Sesselmann hat sich ja nicht zum Landrat geputscht, sondern wurde ganz demokratisch gewählt. Seit Jahren pflegen die etablierten Parteien eine „Brandmauer“- und Ausgrenzungsstrategie gegen die AfD und haben die Partei damit nicht etwa entzaubert, sondern sie in den Augen nicht weniger Menschen im Land zur letzten echten Oppositionspartei der Bundesrepublik werden lassen. Dass ausgegrenzte Andersdenkende ordentlich Wut auf das politische Establishment entwickeln und sich abwenden, liegt auf der Hand. Dass sie sauer werden und aus ihrer Sicht mangels echter Alternativen ihr Kreuz am Ende bei der AfD machen auch“.[5]

 

Wer hat Schuld?

Der Erfolg und der Wählerzuspruch der AfD werden solange bestehen, wie das inhaltliche Angebot der restlichen Parteien dürftig bleibe, meint Alexander Kissler in der Neuen Zürcher Zeitung: „Schlechtes Regierungshandeln, mangelnde Alternativen, fehlende Selbstkritik und eine pampige Ansprache durch die Exekutive treiben den Rechten ihre Sympathisanten zu.“ Unbestreitbar kanalisiere die Partei eine breite Unzufriedenheit mit der „gegenwärtigen Migrations-, Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik“, die das politische Berlin in der ersten unmittelbaren Nachbetrachtung wieder einmal mehr als gekonnt ignoriert habe. Keine Option sei ein Verbot der AfD – es ändere weder etwas am Verdruss vieler Bürger über die Bundesregierung noch an dem Eindruck der Entkopplung von Politik und Bevölkerung.[6]

„In den Stunden nach dem Wahlsieg Robert Sesselmanns im zweitkleinsten Landkreis Deutschlands waren die Schuldigen schnell identifiziert“, befindet Claudius Seidl in der FAZ. Es sei laut CDU-Kandidat Köpper "die unsägliche Politik der Bundesregierung"; es seien die „Grünen, die Großstädter, das linksliberale juste milieu und natürlich die Medien, die von ihrem Elfenbeinturm aus das Volk aus dem Blick verloren hätten“. Wer offenbar nichts für das Sonneberger Wahlergebnis könne, seien die Menschen, die die AfD gewählt haben: „Die Wähler scheinen, aus der Perspektive ihrer Verteidiger, dumm und unmündig zu sein – zumindest aber zu kurzsichtig und zu schwerhörig, als dass sie merkten, wen sie da wählen“. Und doch hatten sie Gründe, Sesselmann zu wählen: „Weil er verspricht, dass alles beim Alten bleiben kann. Er ist für Gasheizungen und Dieselmotoren und gegen Migration. Für ein Ende der Sanktionen gegen Russland und die Wiedereröffnung sämtlicher Pipelines. Er tut so, als hätte er endlich die Zeitmaschine erfunden – wobei es aber die sorgenfreie, friedliche und von unbegrenzt verfügbarer konkurrenzlos billiger fossiler Energie in Schwung gehaltene Vergangenheit, welche die AfD beschwört, nie gegeben hat. […] Wahre Konservative können sich nicht gemein machen mit dieser Mischung aus Ignoranz, Zynismus und kindischer Verantwortungslosigkeit“.[7]

„Plötzlich sind wieder alle schockiert […] überall liest man Erschrecken, Entsetzen, Überraschung“, schreibt Sarah Ullrich in der taz. Der Wahlsieg sei nicht aus dem Nirgendwo gekommen. Dass die Thüringer AfD als rechtsextrem eingestuft wurde, sei für viele Menschen kein Hindernis, sondern der Hauptgrund sie zu wählen. Dies belegen aktuelle Umfragen oder auch ein Video, das im Netz kursiere, in dem sich ein Mann ganz offen die NSDAP zurückwünsche. Das öffentliche Versagen liege nicht etwa in der „mangelhaften Analyse dieser Partei oder der zunehmenden Verrechtung der Gesellschaft“, sondern darin, „dass wir zu wenig Fokus auf emanzipatorische, solidarische, demokratische Positionen lenken. Es gibt viele engagierte Menschen in Thüringen, die tagtäglich um die Demokratie im Freistaat ringen und sich mit unerbittlichem Engagement für eine offene Gesellschaft einsetzen. Aber wir lassen sie zu sehr alleine“. Auch Journalisten seien hier gefragt. Seit Jahren werde vor der wachsenden rechtsextremen Hegemonie gewarnt, die sich seit den 90er Jahren vor allem in Ostdeutschland ausbreite. Wir wissen, „dass rechte Kräfte hier ein Experimentierfeld für Politikgestaltung haben, ob im Geraer Stadtrat oder im Sonneberger Landrat. Und wer in Sachsen, Thüringen oder Brandenburg lebt, den überrascht dieses Wahlergebnis nicht“.[8]

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Eine ziellose und überdrehte Debatte über das Ergebnis der Landtagswahl sei unproduktiv, mahnt Peter Maxwill im Spiegel-Leitartikel an. Der Landkreis Sonneberg sei nicht so bedeutend, als dass nun von einer dynamischen, sich ausbreitenden Wellenbewegung auszugehen sei. Kern des Problems sei die zunehmende Normalisierung einer gefährlichen, durch den Verfassungsschutz beobachteten Partei und ihrer Rhetorik. Sich nun über die Bevölkerung des Landkreises Sonneberg zu echauffieren, sei scheinheilig, ist das Hoch der AfD doch „das Ergebnis eines kollektiven Versagens“. Es bestehe ein Mangel an echtem Interesse an den Problemen der Menschen zwischen Schwerin und Raguhn-Jeßnitz.[9]

Nach dem Wahlerfolg in Thüringen ist ein Streit über die Mitverantwortung für den Aufstieg der AfD entfacht, erklären Nikolaus Doll und Claus Christian Malzahn in der Welt. Zeige sich die rot-grün-gelbe Koalition in Berlin selbstkritisch, müsse sich die CDU in Thüringen fragen, „warum es ihr nicht gelingt, den Höhenflug der AfD zu bremsen. Nirgendwo ist der Absturz der Christdemokraten im Osten so tief und hart wie in Thüringen“. Die Bundespartei ringe um eine Strategie im Umgang mit der AfD, noch habe CDU-Chef Friedrich Merz kein Rezept gefunden. Nach Aussagen des Thüringer CDU-Fraktionschef Mario Vogt, sei der „Ansatz, dass sich alle Parteien im Vorfeld der Landratswahl gegen die AfD verbünden, nicht hilfreich gewesen, im Gegenteil“. Man müsse „wieder unterscheidbarer werden gegenüber den Ampel-Parteien. […] Wenn jemand für die rechtsstaatliche Durchsetzung von Abschiebungen plädiert, dürfen wir nicht zulassen, dass er als Rassist verunglimpft wird. Wer gegen das Verbrenner-Aus ist, der ist nicht gegen Klimaschutz, sondern vertritt eine zulässige und maßvolle Position in der Klimadebatte. Wer jetzt sagt, dass 52,8 Prozent der Wähler im Landkreis rechts sind, hat nichts verstanden“, so Voigt. Ein Kurs, der in der CDU nicht unumstritten sei.[10]

Besonders für die Strategie der Union sei die Landratswahl ein Debakel, so Gareth Joswig in der taz. Auch der CDU-Kandidat Köpper sei mit „knallhart-populistischen Parolen gegen die Bundesregierung in Berlin in den Wahlkampf gezogen. Die CDU hat hier 2021 für den Bundestag Hans-Georg Maaßen aufgestellt, und im Kreistag ist es normal, mit der AfD zusammenzuarbeiten. Die Brandmauer ist in Sonneberg also nicht erst am Sonntag gefallen“. Das Wahlergebnis lasse sich zwar nicht für „alle Regionen und Bundesländer verallgemeinern, jedoch sei es durch „die Krise der Ampel, einen nach rechts kippenden öffentlichen Diskurs sowie multiple Krisen der Gegenwart“ begünstigt worden. Die CDU solle aus der Gesamtlage endlich Lehren ziehen. Sie gefährde mit „ihrem Larifari-Abgrenzungskurs und der Anbiederung an AfD-Positionen nicht weniger als die Demokratie und erweitert die Grenzen des Sagbaren. Es sollte der Union zu denken geben, dass sie in Umfragen nicht von den Problemen der Ampelkoalition profitiert. Der aktuelle Rechtsdrall der Union stärkt allein die AfD. Die Christdemokraten sollten rigoros umlenken“.[11]

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Welche Schlüsse muss die Politik ziehen?

Das Wahlergebnis sei ein deutliches Zeichen an die demokratischen Parteien, ihren Umgang mit der AFD zu überdenken, meint Maritta Tkalec in der Berliner Zeitung: „Sonneberg liefert keinen Grund zur Panik, aber für eine neue Ernsthaftigkeit.“ Als ineffektiv habe sich der bisherige Ansatz der Politik erwiesen, Themen der Rechten nicht zu übernehmen: „Vielmehr ist es andersrum: Man muss sie der AfD wegnehmen.“ Ein reiner Verweis auf die soziale Frage als Erklärungsversuch werde der Gemengelage nicht gerecht. Nehme man die Sorgen der Bevölkerung glaubhaft ernst, minimiere man das Wählerpotenzial der AFD. Diese Ernsthaftigkeit sei ohne Alternative, denn „keinesfalls können [die Parteien] den Willen einer wachsenden Zahl Unzufriedener weiterhin derart arrogant ignorieren, wie sie das bisher tun“. Die Missachtung der ländlichen Wahlberechtigten habe zwangsläufig zu einer Gegenbewegung geführt, die „sich mit den Mitteln [wehrt], die es als Volk zur Verfügung hat: Der Souverän wählt.“[12]

„Die Parteien müssen wieder näher an das Volk“, fordert Helge Matthiesen für den Bonner General-Anzeiger. Sie müssten für die Bevölkerung auf kommunaler Ebene wieder greifbar sein. Der neue Landrat werde Schwierigkeiten bekommen, seine plakativen Wahlkampfforderungen in Tagespolitik umzusetzen. Im Rahmen der Kompetenzen eines Landrats werde das schlicht nicht möglich sein. Zugleich fehle es den anderen Parteien jedoch an „genügend Bodenhaftung in den lokalen Milieus“ und auf vielen Ebenen an hinreichend überzeugenden Kandidaten – was wichtiger sei als jeder parteiübergreifende Appell, die AfD nicht zu wählen. Es gebe dringenden Handlungsbedarf bei den demokratischen Parteien: „Ändern sie nichts, öffnen sie selbst den Extremisten die Rathäuser und Landratsämter.“[13]

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Die etablierten Parteien dürfen, nach Ansicht Thomas Sigmunds im Handelsblatt, „das Wahlergebnis nicht als Ausrutscher einordnen. Gerade in den neuen Bundesländern scheint eine Wut auf die da oben zu wachsen. Man sollte sie ernst nehmen. Wie ist es sonst zu erklären, dass in einem Landkreis mit niedriger Arbeitslosigkeit und ordentlichen wirtschaftlichen Zahlen die anderen Parteien so abgestraft wurden? Eine allgemeine Bestürzung über den Wahlausgang reicht jedenfalls nicht aus, um die Menschen an den Rändern wieder in die Mitte zu ziehen. Was auch nicht funktioniert, ist, die AfD im Tonfall und ihrer Radikalität nachzuahmen. Etwas anderes ist es, die Kritik an Flüchtlingspolitik und Heizungsgesetz oder den Unmut über das Gendern zu benennen und offen zu diskutieren“.[14]

Der Politikwissenschaftler Benjamin Höhne erklärt, nach dem Erfolg der AfD seien nun alle Parteien gefragt. Dem ZDF sagte er: „Insgesamt sei die Brandmauer gegen die AfD eine ‚geeignete Strategie‘ – auch wenn sie eine Kehrseite habe. Die AfD könne sagen, die anderen Parteien grenzten sie aus. Die AfD und ihre Themen zu imitieren sei keine gute Strategie. Dennoch sei nun vor allem die CDU gefragt, nicht die gleiche Rhetorik wie die AfD zu senden. CDU-Chef Friedrich Merz habe Signale gesendet, die man eher von AfD-Personal gewohnt sei. Die CDU müsse die Brandmauer zur AfD aufrechterhalten und integrativ wirken. Auch die Medien sollten sich die Frage stellen, ob sie immer richtig mit der AfD umgegangen seien. Es werde institutionelle Kooperationen geben müssen, und das reihe sich aus Sicht der AfD gut in ihre Normalisierungsstrategie ein“.[15]

Wieder einmal höre man, die Politik müsse die Sorgen der Wähler rechter Parteien ernst nehmen, müsse die Menschen besser mitnehmen. Mark Schieritz konstatiert bei Zeit Online, vielleicht wolle überhaupt niemand mitgenommen werden, ließen sich doch „einige Unstimmigkeiten in der Erzählung identifizieren, die Wahlerfolge der AfD seien gewissermaßen die Rache einer schweigenden Mehrheit der Erniedrigten und Beleidigten“ – angesichts von Themen, wie Migrationspolitik, Gaspreisbremse, Energiegeld oder das veränderte Heizungsgesetz. „Warum auch immer die Menschen in Sonneberg meinen, eine Partei, die in Zeiten des Fachkräftemangels die Grenzen abschotten will, habe auch nur den Ansatz einer Lösung: Sie tun es. Oder sie tun es nicht, und es ist ihnen egal“. Den Populisten müsse eine progressive Agenda entgegengesetzt werden, „die Ampel würde sich als Fortschrittsregierung aufgeben, wenn sie wegen einer radikalisierten Minderheit ihre eigenen Prinzipien verrät“. In einer Demokratie entscheide die Mehrheit. Und auch wenn die AfD bundesweit auf über 20 Prozent komme, eine Mehrheit sei das nicht.[16]

Der Landrat und die Mühen der Ebenen

„Die Wahl von Sonneberg ist kein freudiges Ja zur AfD, eher ein verzweifeltes Nein zur Berliner Ampel“, kommentiert Roland Holzapfel für die Passauer Neue Presse. Die Koalition habe sich von der Lebensrealität der Bevölkerung deutlich entfernt und müsse deren Bedenken endlich adäquat behandeln und adressieren. Der Union rät er, „ihr konservatives Profil [zu] schärfen“. Holzapfel mahnt bei aller Alarmstimmung dennoch zu „Gemach“: Zwar sei die Landratswahl „zweifellos eine Ohrfeige für aufrechte Demokraten, eine Katastrophe ist sie nicht.“ Inhaltlich werde zu beobachten sein, wie sich die reine Protestagenda der AfD in den Realitäten des politischen Alltags „selbst entzaubern“ werde.[17]

Der neue Landrat von Sonneberg werde mit seinen vollmundigen Ankündigungen nicht weit kommen, meint Jasper von Altenbockum in der FAZ. Im Wahlkampf sei es dem AfD-Bewerber „um alles gegangen, nur nicht um die Aufgaben, die einen Landrat erwarten. Die haben viel mit Verwaltung und Gesetzesvollzug, aber nur wenig mit der Politik zu tun, die im Wahlkampf der AfD die große Rolle spielte. Es wurde also jemand gewählt, der bewusst davon ablenkte, ob er für das Amt überhaupt taugt, und der es offenließ, ob er es auf einen Verfassungskonflikt ankommen oder sich gar für Umsturzpläne einspannen lässt. […] Dennoch oder gerade deshalb wird die AfD ihren Sesselmann, wie schon im Jubelgeschrei unmittelbar nach seinem Wahlerfolg deutlich wurde, als einen Rammbock gegen das "Establishment" in Stellung bringen. Die Parteien, die gegen seine Wahl aufriefen, werden sich überlegen müssen, ob ihre bisherige Strategie aufgehen kann“.[18]

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Wortwolke „Sonneberg“ aus Twitter, Auswertungszeitraum: 25.06.-27.06.2023, Quelle: Talkwalker

Lesen Sie außerdem

Robert Sesselmann – Wer ist der erste AfD-Landrat? (Deutschlandfunk)

Die AfD ist nicht allein – der Rechtsruck in Europa (Deutsche Welle)

„Wir haben ein Demokratieproblem“ (taz-Interview mit Politikberater Johannes Hillje)

 

Christine Brunzel, geboren 1983 in Oranienburg, Bibliothekswissenschaftlerin, Referentin Medienanalyse- und archiv, Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung

Stefan Gronimus, geboren 1993 in Bonn, ist studierter Historiker. Er arbeitet als Referent Medienanalyse und -archiv bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

[1] Pitt von Bebenburg, Politische Zäsur, Frankfurter Rundschau, 26.06.2023.

[2] Iris Mayer, Ein Alarmsignal aus Thüringen, Süddeutsche Zeitung, 25.06.2023.

[3] Florian Gathmann, Die Zuhausegebliebenen sind das Problem, Spiegel plus, 26.06.2023.

[4] Roland Preuss, Menetekel, SZ, 27.06.2023.

[5] Ben Krischke, Wie man in den Wald hineinruft, Cicero, 26.06.2023.

[6] Alexander Kissler, Die etablierte deutsche Politik tritt zu selbstherrlich auf, Neue Zürcher Zeitung, 27.06.2023.

[7] Claudius Seidl, Wie sie die Wähler verachten, FAZ, 26.06.2023.

[8] Sarah Ullrich, Der Osten hat mehr zu bieten als blaue Männchen, taz, 27.06.2023.

[9] Peter Maxwill, Diese Wahl ist ziemlich egal, Spiegel, 25.06.2023.

[10] Nikolaus Doll und Claus Christian Malzahn, Wahl von AfD-Landrat löst Schuldzuweisungen aus, Welt, 27.06.2023.

[11] Gareth Joswig, Kein braunes Wunder, taz, 27.06.2023.

[12] Maritta Tkalec, Es hilft nur Ehrlichkeit. Ernsthaft, Berliner Zeitung, 27.06.2023.

[13] Helge Matthiesen, Näher an das Volk, Bonner General-Anzeiger, 27.06.2023.

[14] Thomas Sigmund, Sonneberg ist kein Ausrutscher, Handelsblatt, 27.06.2023.

[15] Dominik Rzepka, AfD-Erfolg "schockierend" für Demokratie, ZDF, 26.06.2023.

[16] Mark Schieritz, Weghören statt Zuhören, Zeit Online, 26.06.2023.

[17] Roland Holzapfel, Nun darf sie sich selbst entzaubern, Passauer Neue Presse, 27.06.2023.

[18] Jasper von Altenbockum, Ein Schlag in die Magengrube der Parteien, FAZ, 26.06.2023.

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