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Von Repräsentationssensibilität zu Repräsentationsverachtung

Ein Zwischenruf zur aktuellen Debatte um die Wahlrechtsreform

Prof. Heinrich Oberreuter über die jüngste Reform des Wahlrechts. Den Wandel von der Repräsentationssensibilität zur Repräsentationsverachtung. Sie trifft nicht nur Bayern, sondern auch Themen- und Regionalparteien und führt zur "Entleerung" des Direktmandats.

Daß im Rahmen der grundgesetzlichen Prinzipien das Wahlrecht weitestgehend gestaltungsoffen sei, ist ein offensichtlich nicht nur unter Politikern, sondern auch unter Staatsrechtlern weitverbreiteter Irrtum. Denn wie das Prinzip demokratischer Repräsentation im Geiste der Verfassung angemessen zu gestalten ist, hat das Bundesverfassungsgericht vielfach aussagestark interpretiert. Es hat ihm damit deutlich konkretere Gestalt verliehen.

Gleichzeitig hat das Gericht sich selbst zur Verteidigung dieser Gestalt einen besonderen Kontrollauftrag gegenüber der Freiheit des Gesetzgebers zugewiesen, da das Wahlrecht die politische Konkurrenz berühre und die „jeweilige parlamentarische Mehrheit somit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird“. Nicht nur, aber u. a. auch aus diesem Grund wurde 2012 eine allein von Union und FDP getragene Reform zurückgewiesen. Die Idee, das Verfahren zur Realisierung demokratischer Repräsentation an einen breiteren Konsens als den der gerade Regierenden zu binden, ist in der Tat politisch-kulturell alles andere als überraschend. Die Frage, ob die jüngste Entscheidung ihr gerecht wird, erübrigt sich. Und die Ankündigung der Opponierenden, sie bei nächster Gelegenheit zu revidieren, wird verständlich. Allerdings wandelte sich bei solchen Wechselspielen demokratische Repräsentation im Grundsatz zur opportunistischen, und zwar weit jenseits vom Nutzenkalkül in Details, das kaum vermeidlich ist, weil es die perfekte Lösung nicht gibt. Für wie gerecht und legitim wird die Wählerschaft derartige Verhaltensweisen halten, wenn sie die Prinzipien bestimmen? 

Politiker wie Experten ließen auch außer Acht, daß Karlsruhe sich zunehmend an den Repräsentationserwartungen der Bürger orientiert, auf Kosten systemischer, staatsrechtlicher oder mathematischer Perfektionierung. Diese kann offenbar die Spannung zwischen der Vielfalt von Wählerbefindlichkeiten und -interessen einerseits und spiegelbildlicher („gerechter“) Vertretung andererseits nicht aufheben. Das Gericht sieht und akzeptiert, daß politische Wirklichkeit und Repräsentationserwartungen von Bürgern intervenieren. Sie zu berücksichtigen, bedarf es freilich sachlich legitimierender Gründe. Aber sie werden berücksichtigt, tendenziell zunehmend. Politikwissenschaftler (z. B. Nohlen) benennen grundsätzlich soziale, ethnische, religiöse Homogenität oder Heterogenität als ausschlaggebend für gesellschaftliche Konfliktlinien, Parteien- und Wahlsystem. Derart tief muß man gar nicht gehen. Auch Karlsruhe denkt an die Repräsentation von Regionen, Interessen, Ländern und (Klein)Parteien als bürgerschaftliche Anforderung, die sich in Pluralisierungsprozessen und entsprechenden Vertretungsbelangen niederschlägt. Einzelerfolge könnten ein Indiz dafür sein, daß eine solche Partei „besondere Anliegen aufgegriffen hat, die eine Repräsentanz im Parlament rechtfertigen“ (1995).

Zugleich wird dem Direktgewählten eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber seiner Partei zugeschrieben, so sehr er ihr auch zuzuordnen ist. Ebenso zeigt sich durch Entscheidungen zu Europa- und Kommunalwahl seit längerem eine Distanz zu Sperrklauseln. In all dem läßt sich eine Respektierung kleinerer, auch individueller strukturierter Einheiten sehen. Der Staatsrechtler Cancik spricht in diesem Zusammenhang schon 2012 von wachsender „Repräsentationssensibilität“. Mit ihr verträgt sich weder die ursprüngliche repräsentative Entleerung des Direktmandats noch die potentielle Ausschließung profilierter Themen- und Regionalparteien. Daß nun in den Wahlkreisen, wie offen gesagt wird, nicht mehr ein Repräsentant gewählt wird, sondern der Akt „nur einer Vorauswahl der Kandidaten“ dient, die letztlich in den Bundestag einziehen, daß spezifische Interessen integrierenden Kleinparteien wie im Kern mächtigen Regionalparteien trotz Erfolgen an den Urnen ihre Mandate verweigert werden, fordert die Repräsentationssensibilität und die Kontrollpotenz des Gerichts heraus. Zur Wirklichkeit, die es zu repräsentieren gilt, gehören seit Jahrzehnten die Parteien „besonderer Anliegen“, die regionale Schwerpunkte haben können, aber nicht müssen.

„Speziell für Kleinparteien gilt seit den fünfziger Jahren die mehrfach praktisch gewordene Grundmandatsklausel als Beitrag zur Legitimitätsgewinnung für die Institutionen der parlamentarischen Demokratie. … Über der CSU ein ihre Vertretung im Bund destruierendes Damoklesschwert aufzuhängen, verändert das gewachsene Parteiensystem manipulativ. Dieser Manipulationsakt spiegelte nicht die Wirklichkeit, wie Karlsruhe es erwartet, sondern würde eine neue schaffen – nach dem Willen und zum Nutzen ihrer Gegner.“

Prof. Dr. Heinrich Oberreuter

Speziell für sie gilt seit den fünfziger Jahren die mehrfach praktisch gewordene Grundmandatsklausel als Beitrag zur Legitimitätsgewinnung für die Institutionen der parlamentarischen Demokratie. Erst recht gehört zu dieser Wirklichkeit seit 1949 die CSU als Regionalmacht im Föderalismus. Über ihr ein ihre Vertretung im Bund destruierendes Damoklesschwert aufzuhängen, verändert das gewachsene Parteiensystem manipulativ. Dieser Manipulationsakt spiegelte nicht die Wirklichkeit, wie Karlsruhe es erwartet, sondern würde eine neue schaffen – nach dem Willen und zum Nutzen ihrer Gegner. In solchen Fällen wäre nicht von Chancengleichheit zu sprechen, sondern von sektoraler Chancenvernichtung. Aktuelle Beispielrechnungen belegen potentiell eine eklatante Unterrepräsentation des Freistaats.

Die von der SPD benannten Experten hielten, ganz auf der die Wirklichkeiten respektierenden Linie des Bundesverfassungsgerichts, im Blick auf die Chancenverteilung die Grundmandatsklausel für unverzichtbar und verfassungskonform. Der Wahlrechts“experte“ der Grünen Steffen sieht dagegen den angerichteten Schaden durch die Vertretung der Länder (rechtlich nicht des Volkes!) im Bundesrat kompensiert (Süddeutsche Zeitung, 29.3.2023): ein Beispiel verfassungsrechtlicher Ahnungslosigkeit. Insgesamt verfassungspolitisch eine Wende von der Repräsentationssensibilität zur Repräsentationsverachtung. Sie trifft keineswegs die Bayern allein, wie in der Bundestagsdebatte überdeutlich zu hören war, ganz abgesehen von potentiellen Differenzierungsprozessen in der Gesellschaft, die sich durch neue Parteien vertreten sehen wollen. Repräsentieren sie einen regionalen oder thematischen Zuschnitt, verschließt sich ihnen eine kleine, wie man an der Linken sieht aber für das Vertretungs- und Legitimitätsgefühl nicht unwesentliche Zutrittschance zum Bundestag diesseits der Fünfprozentgrenze. Schließlich soll das Wahlrecht grundsätzlich integrieren, nicht ausschließen. Karlsruhes Entscheidung zur ersten gemeinsamen Wahl nach der Wiedervereinigung ist zwar nicht aktuell, aber im Prinzip durchaus erhellend.

In die sonst üblichen Facetten des Diskurses einzusteigen, geht eigentlich partiell an der Sache vorbei. Ein Beispiel ist der erforderliche gleiche Erfolgswert. Ganz evident soll nun eine Stimme für einen Wahlkreissieger keineswegs verlässlich zu dessen Bundestagsmandat führen. Potentiell ist sie gar kein Erfolg, sondern nichts wert. Da aber, wie die Begründung sagt, gar keine Wahl mehr, sondern nur eine Vorauswahl stattfinden soll, verlieren die bisherigen Leitlinien erheblich ihren Sinn. Zur Wahl ersetzenden Vorauswahl gibt es bislang keine systematische Bestandsaufnahme, geschweige denn eine Rechtsprechung. Mal ist ein Sieger einer mit Lorbeerkranz, mal einer ohne. Spannend, wie das Gefühl, halbwegs gerecht vertreten zu sein, sich in Wahlkreisen einstellen soll, die nach den Zufälligkeiten außerregionaler Ergebnisse mit einem Mal keinen Abgeordneten mehr im Bundestag haben. Und im katastrophalen Ernstfall werden Millionen einsehen müssen, daß ihre Stimme tatsächlich nicht mehr zählt.

„Beruhigend ist es nicht, aus der Ampel nun mit verfassungsrechtlicher Inkompetenz oder rechtswidrigen Vorschlägen für eine Listenverbindung der Unionsparteien bedient zu werden: Die Mehrheit schafft sich als Notausgang eine Opposition nach ihrem Bilde und pfeift auf ein historisch gewachsenes Element des gestaltungsfähigen Föderalismus.“

Prof. Dr. Heinrich Oberreuter

Beruhigend ist es nicht, aus der Ampel nun mit verfassungsrechtlicher Inkompetenz oder rechtswidrigen Vorschlägen für eine Listenverbindung der Unionsparteien bedient zu werden: Die Mehrheit schafft sich als Notausgang eine Opposition nach ihrem Bilde und pfeift auf ein historisch gewachsenes Element des gestaltungsfähigen Föderalismus. Im übrigen pfeift sie auch auf die Parteibasis, da die Entmächtigung der Wahlkreise unvermeidlich den Durchgriff der Zentrale und der Profis stärkt.

Geschwächt wird die Wählerschaft, in ihrem Nahbereich von der Entscheidung zur Vorauswahl herabgestuft, ohne die Wirkung ihrer Stimme zu Gunsten welches Kandidaten einschätzen zu können. Doch hat das Bundesverfassungsgericht seit je Transparenz zur Voraussetzung eines demokratische Repräsentation gewährleistenden Wahlrechts erhoben. Sein Kontrollpotential wieder anzurufen, ist alternativlos. Von ihm ist eine angemessenere Entscheidung zu erwarten als von einem Teil der realitätsvergessenen systemischen oder mathematischen Perfektionisten oder parteilichen Opportunisten.
 

KAS - Wadim Lisovenko

Heinrich Oberreuter, geboren 1942 in Breslau, 1978 bis 1980 Professur an der FU Berlin, 1980 bis 2010 Ordinarius für Politikwissenschaft an der Universität Passau, 1991 bis 1993 Gründungsdekan für Geistes- und Sozialwissenschaften an der TU Dresden, 1993 bis 2011 Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, seit 2012 Leitung der Redaktion des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft.

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