Länderberichte
Nach wochenlangem Daueregen war die Erde Guatemalas den Regengüssen “Stans” nicht mehr gewachsen. Berghänge rutschten ab und begruben ganze Dörfer unter sich. Sturzbäche unterspülten Straßen, Brücken und Gebäude und rissen diese in die Tiefe.
Die Zahl der gemeldeten Toten und Vermissten steigt ständig. Noch sind einige Ortschaften von der Außenwelt abgeschnitten. Sprachen die Medien zunächst noch von knapp 700 Todesopfern, folgte kurz darauf die Schreckensmeldung von einer Schlammlawine, die sich an einem der Vulkane am Atitlán-See gelöst hatte, um die Dörfer Panabaj und Tzanchaj unter meterhohen Erdmassen zu begraben – mit bis zu 1400 Vermissten. Die Gemeinden sollen angesichts der Aussichtslosigkeit, die Toten zu bergen, zu Friedhöfen erklärt werden. Vizepräsident Eduardo Stein sprach von rund 3,5 Millionen Betroffenen Guatemalteken, rund einem Viertel der etwa 13 Millionen Einwohner des Landes.
Die Opfer “Stans” sind insbesondere die Bevölkerungsgruppen, die ohnehin am meisten um ihr Überleben ringen müssen. Die Region an der Südseite des Atitlán-Sees, in der die Konrad-Adenauer-Stiftung in Kooperation mit der EU ein Projekt zur Armutsbekämpfung und politischen Stärkung der Landbevölkerung unterstützt, zählt zu den ärmsten Gebieten des Landes. Ebenso die Gebiete um San Marcos, das insbesondere wegen des umstrittenen Goldbergbaus zuvor für Schlagzeilen sorgte.
Guatemala zeichnet sich insbesondere durch sein über weite Regionen zerklüftetes Gelände aus. 30 Vulkane prägen die Topographie des Landes, das nur wenige ebene Flächen bietet, in denen das Grundnahrungsmittel, der Mais, kultiviert werden kann. Das fruchtbare und leicht zu bearbeitende Ackerland befindet sich oft in den Händen von Großgrundbesitzern. Wer kein Geld hat, nimmt sich ein Stück von dem zerklüfteten Land, baut darauf eine armselige Hütte, nicht selten aus Bambus, Lehm und Wellblech, um an den brandgerodeten Hängen Mais und etwas Gemüse anzubauen.
Die Folge ist Erosion. Kommen dann die heftigen Regengüsse im Herbst, sind Meldungen von Schlammlawinen und Familien, die in diesen umkommen, fast Alltag in den guatemaltekischen Nachrichten.
Mit “Stan” kam alles “wie gehabt” – nur schlimmer. Oscar Berger, der zum Jahresende 2003 zum Präsidenten gewählt wurde, ließ den nationalen Notstand ausrufen und bat die Internationale Gemeinschaft um Hilfe. Das Land sei dem Ausmaß der Katastrophe nicht allein aus eigener Kraft gewachsen.
Diesen Eindruck gewannen auch manche Vertreter dieser Internationalen Gemeinschaft, die eilends am Freitag vom Präsidenten zusammengerufen worden waren. Mangelnde Vision und Desorganisation lautete das Urteil mancher. Zwar hat der staatliche Katastrophenschutz “Conred”, der vom Verteidigungsministerium koordiniert wird, mittlerweile einen besseren Überblick gewonnen. Von einer geordneten Lage kann jedoch nur eingeschränkt gesprochen werden.
Kritik wurde insbesondere an der mangelnden Vorsorge laut. Noch vor wenigen Monaten waren alle Schulen angesichts einer Sturmwarnung geschlossen worden. Guatemala wurde virtuell lahm gelegt. Diesmal jedoch kamen die Warnungen nicht, oder zu spät – ganz zu schweigen von langfristig angelegten Vorbeugemaßnahmen.
Angesichts der Katastrophe zeigt sich Guatemala erneut als ein Land voller Gegensätze – insbesondere sozialer Gegensätze. Während sich das Land der Maya hinsichtlich seines Bruttosozialproduktes noch mit den Nachbarländern im Süden, Honduras, El Salvador und Nicaragua, recht gut behaupten kann, ist es mittelamerikanisches Schlusslicht bei der Einkommensschere zwischen Arm und Reich. Verschiedenen Studien zufolge ist die Kluft zwischen den sozialen Schichten noch ausgeprägter als in Brasilien, das in Lateinamerika als besonders abschreckendes Beispiel angeführt wird. Auch der Indikator für Demokratische Entwicklung www.idd-lat.org weist Guatemala mittlerweile den letzten Platz im lateinamerikanischen Vergleich zu. Das ökonomische Schlusslicht der Gesellschaft Guatemalas bilden meist die Maya, die zwar etwa die Hälfte der Bevölkerung stellen, jedoch – untergliedert in 21 Ethnien mit eigenen Sprachen – in den politischen Institutionen völlig unterrepräsentiert sind.
Zwar endete der Bürgerkrieg mit der Unterzeichnung der Friedensverträge vor fast zehn Jahren. Soziale Ungerechtigkeit, eine der Ursachen des Konfliktes, und Entsolidarisierung der Gesellschaft bestehen jedoch unverändert fort und behindern massiv die Hilfsmaßnahmen. Die grassierende Korruption hat das Vertrauen internationaler Geberorganisationen in die staatliche Katastrophenhilfe so weit unterhöhlt, dass manche Botschaften klar die Devise ausgeben, die Ausgabe von Hilfsgütern müsse von entsandten Kräften, also nicht nur von Einheimischen, überwacht werden. Es kursieren Berichte von bewaffneten Überfällen auf Hilfskonvois – trotz des gewährten Militärschutzes. Journalisten berichten von Betrügern, die sich in der Grenzregion zu El Salvador als Regierungsvertreter ausgeben. Sie verlangen das Pendant zum notariellen Grundbucheintrag von Grundstücksbesitzern, um angeblich staatliche Hilfe einfordern zu können. Wer den vorgeblichen Helfern vertraut, ist umgehend um seinen Besitz gebracht.
Von den maras, jugendlichen Straßenbanden, die insbesondere Teile der Hauptstadt terrorisieren und de facto kontrollieren und die zumindest teilweise vom Drogenhandel und dem organisierten Verbrechen “ferngesteuert” sein sollen, ist in diesen Tagen ausnahmsweise nicht die Rede.
Diesen dunklen Seiten steht die freundliche Seite Guatemalas gegenüber: eine ungekannte Woge der Solidarität. In den Schulen, an den Kassen der Supermärkte, in eigens von “Conred” eingerichteten Zentren werden Lebensmittel und Kleidung gesammelt, sortiert, in Familienrationen in Kisten gepackt und sogar privat in die notleidenden Gebiete transportiert. Fast keine Famile, so der Eindruck, schaut nicht nach, ob es nicht doch etwas gibt, das man spenden könnte. Oft sind jene besonders großzügig, die selbst am wenigsten haben.
Guatemala steht jetzt zunächst vor der Aufgabe, die drohende Seuchengefahr in den Griff zu bekommen. An den Hängen von San Pedro, Atitlán und Tolimán, den drei malerischen Vulkanen, die den Atitlán-See umringen, steigt jetzt Verwesungsgeruch auf. Im See treiben Leichname, die noch nicht geborgen werden konnten. Das Trinkwasser, das sonst der See spendet, wird knapp. Die ersten Durchfallerkrankungen werden gemeldet – Vorboten der Cholera. Schwere Erkältungskrankheiten drohen. Nahrungsmittel, Schuhe, Decken und warme Jacken sind knapp.
Solange die internationale Aufmarksamkeit noch auf Guatemala gerichtet ist, scheint diese Aufgabe zwar schwierig, doch zu bewältigen.
Schwieriger wird der Wiederaufbau. Tausende von Wohnungen und Häusern wurden weggespült. Allein die Ernteausfälle – Hauptprodukte sind Mais, Zuckerrohr und Kaffee – wurden am Montag auf rund 3 Milliarden Quetzales, etwa 300 Millionen Euro, beziffert.
Die größte Herausforderung für Guatemala ist jedoch die Beseitigung der sozialen und politischen Marginalisierung, die sicherlich noch Jahrzehnte beanspruchen wird. Und solange sich an dieser Lage wenig ändert, stehen auch schon die Opfer der nächsten Naturkatastrophe, sei es ein Vulkanausbruch, ein Erdbeben oder ein Tropensturm fest: die Armen.