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Länderberichte

Der Präsident macht Druck

von Johannes D. Rey
Während der landesweiten Unruhen Anfang Januar hatten nicht viele Kenner Zentralasiens auf das politische Überleben Kassym-Jomart Tokayev gewettet. Seitdem ist viel Wasser durch den Fluss Ischim in Astana geflossen und wie noch nie zuvor hat der Präsident seine Macht in Kasachstan und der Region ausgebaut, um seine Vision eines „Neuen Kasachstan“ zu verwirklichen. Seine Reformagenda ist eindrucksvoll, sowohl inhaltlich als auch zeitlich. Der Präsident baut um.

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Vorgänger Nazarbayev erscheint nur noch selten in der Öffentlichkeit. Seine überlegte multivektorale Außenpolitik wird in die Geschichte Kasachstans eingehen, trotz aller gesellschaftlichen Verwerfungen, die er hinterließ. Seine Entourage wurde aus allen Spitzenpositionen in Politik und Wirtschaft entlassen. Dennoch bleibt die Familie mit ihren Unternehmen und Besitztümern ein Wirtschaftsfaktor und somit im Hintergrund einflussreich. Zunehmende Teile der Bevölkerung empfinden das als ungerecht, zumal die Inflation und die Lebensmittelpreise durch den Krieg in der Ukraine exorbitant gestiegen sind: Sozialer Sprengstoff für ein rohstoffreiches Land mit niedrigen Löhnen für das gemeine Volk.

Gerechter Staat, geeinte Nation, wohlhabende Gesellschaft

Dieses Motto aus der alljährlichen Rede des Staatspräsidenten an das Volk Kasachstans vom 01. September gibt die Zielrichtung vor. Unverhohlen werden Mängel in Wirtschaft, Politik und Verwaltung aufgelistet. Tokayev hat seit den Tagen des „Tragischen Januars“ eine neue, schonungslose Sprache in den Politikbetrieb eingeführt – in dieser Deutlichkeit eher ungewöhnlich für Asien. Viele seiner Sätze werden im Gedächtnis bleiben:
-“Die systemischen Probleme unserer Wirtschaft sind hinlänglich bekannt. Dazu gehört die Abhängigkeit von Rohstoffen, die geringe Arbeitsproduktivität, das unzureichende Niveau an Innovationen und die ungleiche Einkommensverteilung“,
-“2/3 des Stromnetzes, 57% des Wärmenetzes und fast die Hälfte des Wassernetzes sind veraltet“,
-“Der Schwerpunkt muss unabdingbar auf der Dezentralisierung der staatlichen Verwaltung bei gleichzeitiger Stärkung der persönlichen Verantwortung der politischen Amtsträger liegen“,
-“Wir müssen alle Bereiche des Staates und der Gesellschaft neugestalten. Wir verfolgen die politische Modernisierung nach der grundlegenden Formel „Ein starker Präsident – ein starkes Parlament – eine rechenschaftspflichtige Regierung“.

Schon Anfang Juni bestätigte die Bevölkerung in einem Referendum die eingeleiteten Reformen und vorgeschlagenen Verfassungsänderungen des Präsidenten weg von einer super-präsidialen Form der Regierung hin zu mehr Parlamentarismus und dezentraler Verantwortung der Regionen. Es ist daher nur konsequent, wenn der Präsident jetzt nur noch eine einmalige Amtszeit von sieben Jahren vorschlägt (anstatt zweimal fünf, wenn von der Bevölkerung direkt wiedergewählt) und versucht, seine ambitionierte Reformagenda durch vorgezogene Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr (anstatt 2024) und Parlamentswahlen im nächsten Jahr (anstatt 2025) zu legitimieren. Es sollte nicht vergessen werden, dass Altpräsident Nazarbayev dieses Amt jedoch für insgesamt 29 Jahre innehatte.
Es darf davon ausgegangen werden, dass eine einmalige siebenjährige Präsidentenamtszeit bei den jetzigen vorgezogenen Präsidentschaftswahlen schon Anwendung finden wird. Des Weiteren verfügt der amtierende Präsident über ein Momentum und wird aller Wahrscheinlichkeit nach wiedergewählt werden, obwohl die anfängliche Euphorie verflogen ist. Viele Menschen spüren nach wie vor keine positiven Veränderungen in ihrem alltäglichen Leben.

Außenpolitische Emanzipation

Der Krieg in der Ukraine verändert vieles. Zuallererst hat sich, genauso wie in Deutschland, die wirtschaftliche Lage privater Haushalte verschlechtert. Die Inflation pendelt sich momentan auf ca. 16% ein, die aktuellen Bauzinsen haben die 17%-Marke übersprungen und die Immobilienpreise sind um ca. 23% gestiegen. Der Influx von annähernd 50.000 russischen Bürgern mit befristeten Aufenthaltsgenehmigungen, von denen einige mit ihren Unternehmen die gegen Russland verhängten Sanktionen umgehen wollen, spannt den Wohnungsmarkt zusätzlich an.
Nicht wenige Kasachstaner sehen diese Entwicklung mit großer Sorge. Überhaupt gibt es gegenüber Ausländern ein gesteigertes Selbstbewusstsein. Dies trifft auch auf die Außenpolitik des Landes zu.

Vladimir Putin wird Mitte Oktober nach Astana reisen, um gleich an drei Treffen teilzunehmen: CIS (Commonwealth of Independent States); CICA (Conference on Interaction and Confidence-Building in Asia); Meeting of Heads of State „Central Asia-Russia“. Russlands Einfluss war, ist und bleibt in Kasachstan prägend. Befürchtungen, vor allem aus dem Westen, der Einsatz von CSTO-Truppen (Collective Security Treaty Organization) würde Russlands Einfluss vergrößern, haben sich als unbegründet erwiesen. Beflissentlich übersahen sie gleichzeitig die seit 30 Jahren institutionalisierte wirtschaftliche und militärische Abhängigkeit Kasachstans gegenüber dem großen Nachbarn.
Umso interessanter ist es zu beobachten, wie Präsident Tokayev jetzt auch außenpolitisch eine wesentlich deutlichere Sprache wählt, um Kasachstans Interessen auf der internationalen Bühne zu vertreten. Präsident Putin staunte nicht schlecht, als Präsident Tokayev während des 25. Internationalen Wirtschaftsforums in Petersburg Mitte Juni auf offener Bühne verkündete, dass Kasachstan die Regionen Lugansk und Donezk nicht anerkennen werde und sich auch verwundert über immer wieder lancierte Äußerungen von Duma-Abgeordneten, Journalisten und Kulturschaffenden aus Moskau zeigte, die die Integrität Kasachstans in Frage stellten.
Die große Sorge vieler Kasachstaner vor einer Invasion Russlands in den Norden Kasachstans, von den ca. 3,4 Millionen Russischstämmigen leben ungefähr 1,5 Millionen im Norden, verflüchtigt sich mit zunehmender Dauer des Krieges in der Ukraine. Bei einer gemeinsamen, mehr als 7.000 Kilometer langen Grenze schien diese Sorge von vornherein eher emotional begründet.

Wo ist Europa, wo ist Deutschland

Dennoch gibt es Analysten, die einen großen Konflikt zwischen Moskau und Astana vorhersehen wollen. Dies ist unrealistisch, denn beide Parteien sind sich der strategischen Partnerschaft bewusst. Folgender Satz aus der oben zitierten Rede zum Volk sollte trotzdem zur Kenntnis genommen werden: „Vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Lage entwickelt sich Kasachstan zum wichtigsten Landkorridor zwischen Asien und Europa. Wir müssen die sich uns eröffnenden Möglichkeiten voll ausschöpfen und zu einem Verkehrs- und Transitknotenpunkt von real globaler Bedeutung werden.“
Der Wunsch der kasachischen Regierung mit Europa, und ganz besonders auch mit Deutschland, einen engeren Kontakt zu pflegen, ist bis heute in Brüssel und Berlin kaum gehört worden und sollte auch nicht im Widerspruch zu den kasachisch-russischen Beziehungen stehen. Ist erst eine Gasleitung oder Ölpipeline durch das Kaspische Meer Richtung Westen nötig, damit Europa Kasachstans zukünftige strategische Rolle erkennt?

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