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Länderberichte

Tunesien im Wandel?

von Thomas Schiller
Seit Wochen befindet sich Tunesien im Aufruhr. Landesweit demonstrieren vor allem junge Menschen gegen Arbeitslosigkeit, Vetternwirtschaft und fehlende Perspektiven, aber auch für die Freiheit und für einen grundlegenden Wandel.

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Gestern Abend kündigte Staatspräsident Zine el Abidine Ben Ali in seiner dritten Fernsehansprache seit Beginn der Unruhen eine Reihe von Reformen an: volle Presse- und Informationsfreiheit (Internet!), Senkung der Preise für Grundnahrungsmittel sowie einen Verzicht auf eine weitere Amtszeit. Ben Ali versuchte in seiner im arabischen Dialekt Tunesiens gehaltenen Rede, direkt zu sein: "Ich habe Euch verstanden" und "Genug der Gewalt" waren Stichworte der Rede, in der er auch zusicherte, die Sicherheitskräfte hätten Befehl, nicht mehr auf friedliche Demonstranten zu schießen. Ben Ali räumte zudem ein, die soziale Krise und die Unruhen nicht richtig eingeschätzt zu haben.

Wird diese erneute Fernsehansprache ausreichen, um die Lage zu beruhigen? Die meisten Beobachter wagen hierzu noch keine Prognose. Zwar war es direkt im Anschluss an die Rede auf der Avenue Habib Bourgiba im Zentrum von Tunis trotz einer seit Mittwoch geltenden nächtlichen Ausgangssperre zu einer großen Versammlung von Unterstützern des Präsidenten gekommen. Doch für viele Tunesier mit denen man sprechen konnte, handelte es sich hierbei um orchestrierte Demonstrationen, die in keiner Weise die reale Stimmung widerspiegeln. Nach Augenzeugenberichten gingen die Auseinandersetzungen in anderen Stadtteilen des Großraums Tunis weiter.

Es ist fraglich, ob die Ankündigungen des Staatspräsidenten nicht zu wenig offerieren und zu spät kommen. Bereits Anfang der Woche hatte sich gezeigt, dass die in einer Fernsehansprache gemachten Zusagen Ben Alis von wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen, u. a. der Schaffung von 300.000 neuen Arbeitsplätzen bis 2012, die Proteste nicht gestoppt hatten. Die gestrige Entlassung zweier enger Vertrauter und Berater Ben Alis, des ehemaligen Außenministers Abdelwaheb Abdallah und des Staatsministers im Präsidialamt Abdelaziz Ben Dhia, soll zwar unterstreichen, dass es Ben Ali mit seinen Reformplänen ernst ist. Auch sind der Ankündigung des Präsidenten für mehr Informationsfreiheit Taten gefolgt: das in Tunesien gesperrte Internetportal Youtube ist nun offen. Aber werden diese Maßnahmen ausreichen? Denn viele Forderungen der Demonstranten beziehen sich mittlerweile direkt auf den Präsidenten und sein Umfeld, vor allem werden Parolen gegen die als äußerst korrupt geltende Familie der Präsidentengattin Leila Trabelsi geschrien. Nach glaubwürdigen Berichten einiger Medien hält sich Frau Trabelsi in Dubai auf, die Tochter und der Schwiegersohn Ben Alis, Sakhr el Materi, in Kanada. Für heute Freitag ist ein Generalstreik geplant. Auch brodelt weiterhin die Gerüchteküche in Tunis. So sollen aktuell via Facebook, das vielen Protestierern als zentrales Kommunikationsmedium dient, neue Demonstrationen geplant werden.

Die Unruhen in Tunesien hatten begonnen, nachdem sich am 17. Dezember 2010 in der Stadt Sidi Bouzid im Zentrum des Landes (etwa 250 Km von Tunis entfernt), der Obst- und Gemüsehändler Mohamed Bouazizi vor der örtlichen Präfektur selbst verbrannte. Er protestierte damit gegen die Behördenwillkür, der er ausgesetzt war. Dies war die Initialzündung für spontane Proteste der Bevölkerung gegen Arbeitslosigkeit, Teuerung und die allgemeine Perspektivlosigkeit. Im benachteiligten Landesinneren fanden in der Folge heftige Straßenschlachten mit der Polizei statt (in Kasserine, Thala und Sidi Bouzid), die sich über ganz Tunesien ausbreiteten und, für die meisten Beobachter überraschend, bereits seit Wochen anhalten und immer mehr Rückhalt gefunden haben. Bis heute sind nach Angaben von Menschrechtsorganisationen mindestens 66 Menschen während der Unruhen umgekommen.

Der Hintergrund der Proteste liegt in der prekären wirtschaftlichen Lage vieler Tunesier und der gleichzeitigen Wut über Korruption und Vetternwirtschaft an der Staatsspitze. Während die offizielle Arbeitslosenrate bei etwa 14 % liegt, ist die Jugendarbeitslosigkeit noch deutlich höher. Arbeitslose Hochschulabsolventen, sog. "diplômés chômeurs", schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch und haben aber nur geringe Perspektiven auf dem regulären Arbeitsmarkt. Laut Internationalem Währungsfonds wird das reale Wirtschaftswachstum Tunesiens 2010 3,8% und 2011 4,8% betragen. Dies wird zu wenig sein, um vielen Arbeitslosen eine Perspektive zu geben.

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Dr. Helmut Reifeld

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