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Fachkonferenz

Soziale Bewegungen, Wahlen und politisches Allgemeinwissen in Marokko

 

Am 14./15. Dezember 2012 veranstaltete die KAS in Kooperation mit dem Centre Marocain des Sciences Sociales (CM2S) der Universität Hassan II in Casablanca eine Konferenz zu "Soziale Bewegungen, Wahlen und politisches Allgemeinwissen in Marokko".

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Details

Die sozialen Bewegungen in Marokko nach dem 20. Februar 2011 unterliegen einem inneren thematischen wie personellen Wandel. Für das tiefere Verständnis der sozio-politischen Umbrüche bzw. der relativen Stabilität in Marokko ist die Analyse des politischen Allgemeinwissens sowie der politischen Diskurse der marokkanischen Gesellschaft unumgänglich. Die lokalen und nationalen Wahlen in Marokko sind demgegenüber ein direkter Ausdruck der gegenwärtigen Entwicklungen.

Die KAS unterstützt daher das vom CM2S geleitete Forschungsprogramm zu sozialen Bewegungen, politischem Allgemeinwissen und Wahlen in Marokko. Ziel des Projektes ist es, die aktuellen politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen in Marokko im Lichte der regionalen Umbrüche zu verfolgen, analysieren und einzuordnen, um genauere Prognosen für die Zukunft geben zu können.

Hassan Rachik, Forschungsgruppenleiter der Forschungsachse „Politisches Allgemeinwissen in Marokko“ schilderte in seinem Einführungsvortrag den Wandel des politischen Allgemeinwissens sowie des politischen Diskurses in Marokko seit den 1940er Jahren. Als bedeutendste Veränderung kann der Einfluss und die Infiltration von (islamistischen) Ideologien auf den politischen Diskurs gesehen werden. Rachik unterschied dabei zwischen drei Etappen, die der politische Kurs in Marokko sowie in der weiteren arabischen Region genommen hat. Die erste Etappe wurde geprägt von nationalistischen Eliten im Zeitalter der arabischen Unabhängigkeitsbewegungen in den 1940er Jahren. Hassan Al-Banna, Begründer der ägyptischen Muslimbruderschaft, leitete eine neue Etappe ein, indem er den politischen Diskurs von einer kleinen Elite (al-khass) auf eine breite populäre Masse (al-’aam) ausweitete. Der politische Diskurs wurde durch den Einfluss der Muslimbrüder zum einen islamisiert und zum anderen popularisiert. Als aktuelle dritte Etappe bezeichnete Rachik den Diskurs der „Autodidakten“. Der aktuelle politische Diskurs wird demzufolge verstärkt von Autodidakten geprägt, die sich eigenständig über das Internet informieren und austauschen und sich ihre Ideologie bzw. ihr Weltbild aus verschiedenen Informationen eklektisch zusammenbauen. Politisches Wissen auf unterschiedlichem Niveau ist durch die neuen Medien deutlich einfacher zugänglich und kann breite Massen einfacher und schneller erreichen. Die Grenzen zwischen einem elitären und populären Diskurs sowie zwischen einem Diskurs der traditionellen Gelehrten und neuen Ideologen werden dadurch zunehmend verschwommen. Die Zunahme des politischen Populismus in Marokko (wie beispielsweise von Seiten der gemäßigt-islamistischen Regierungspartei PJD) ist ein Ausdruck dieses neuen Trends.

Laut Rachik wird der Wandel der politischen Diskurse ebenfalls sichtbar an der Kleiderordnung der marokkanischen Gesellschaft. Bis in die 1920er Jahre herrschte in Marokko die traditionelle Kleiderordnung (Djellaba) vor. Diese wurde abgelöst von der europäisch geprägten Kleiderordnung, die jedoch ab den 1980er Jahren zunehmend von einer islamischen Kleiderordnung (Hijab) durchbrochen wird. Das Tragen des Hijabs ist heute in Marokko ein Teil der allgemeinen Kleiderordnung geworden, das nicht mehr notwendigerweise ein Ausdruck einer islamistischen Ideologie ist.

Die CM2S-Forschungsgruppe forscht seit 2002 mittels ethnografischer Interviews innerhalb der Gesellschaft zu den sozio-politischen Entwicklungen im Land.

Dr. Gunther Mulack, deutscher Botschafter a.D. und Direktor der Deutschen Orient-Stiftung in Berlin, hob in seinem Vortrag hervor, dass die arabischen Revolten vor allem auf soziale Gerechtigkeit und auf das Neuverteilen der Reichtümer der Staaten abzielten. Ein funktionierender und verantwortungsvoller Staat, Zukunftsperspektiven für die heranwachsende Generation und ein Eindämmen von Korruption und staatlicher Kleptomanie seien, nach Mulack, die Hauptforderungen der revoltierenden Bürger gewesen. Leider habe der Westen viel zu lange stabile Diktaturen bevorzugt. Die Ergebnisse der Revolten betrachtete Mulack mit Skepsis. Selbst in Tunesien als Ursprungsland der Revolten könne man nicht von einer Revolution sprechen, da in den Richterämtern, den Staatssicherheitsdiensten und der weiteren Verwaltung immer noch zu einem großen Teil dieselben Beamten sitzen. Im Hinblick auf Ägypten befürchtete Mulack, dass Staatspräsident Mursi keine ausreichende integrative Führungsfigur repräsentiere, die das Land zusammenhalten könne. Zu Marokko merkte Mulack an, dass sich die marokkanische Monarchie etwas stärker abseits der Revolten befunden habe, und die Auswirkungen der „Arabellion“ hier eher verzögert eintreffen. Marokkos geografische wie historische Randlage im Maghreb al-Aqsa (Marokko war beispielsweise kein Teil des Osmanischen Reiches) könne eine Erklärung für die „marokkanische Verzögerung“ bieten.

Von den Teilnehmern wurde festgehalten, dass man von mehreren „arabischen Frühlingen“ sprechen muss, da trotz ähnlicher Ursachen die Transformationen und Umbrüche in den einzelnen Ländern unterschiedlich verlaufen sind. Es wurde angemerkt, dass im marokkanischen Diskurs der Sicherheitsaspekt überwiegt. In der öffentlichen Meinung werde es geschätzt, dass trotz ausbleibender Revolution es in Marokko zumindest keine politische Unsicherheit wie in Ägypten und Tunesien gäbe. Zudem konnte der Monarch in seiner moderierenden Rolle als Staatsoberhaupt sowie als Oberhaupt der Gläubigen (Amir al-mu’minin) bisher einen anhaltenden Konflikt wie in Ägypten oder Tunesien zwischen Säkularisten und Islamisten verhindern.

Die Frage, ob die jeweilige Regimeform (Monarchie oder Republik) zum Ausgang der Umbrüche beigetragen hat, wurde von den Teilnehmern verneint. Letztendlich haben, nach Béatrice Hibou, nicht die formale Regimeform, sondern die sozio-ökonomische Situation und das Ausmaß der Korruption den Ausschlag für den Sturz des Regimes in Tunesien gegeben. Bei den Forderungen der sozialen Bewegungen gehe es, gemäß Irène Bono, generell um „Inklusion“ der bisher ausgegrenzten sozialen Schichten, jedoch nicht notwendigerweise um eine demokratische Form von Inklusion. Viele gesellschaftliche Akteure, die bisher vom Zugang zur Macht und zu wirtschaftlichen Vorteilen ausgeschlossen waren, würden für sich selbst auch nicht-demokratische Formen von Einbindung akzeptieren.

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Casablanca

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