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Tropfen auf heißem Stein

Flüchtlinge in Südafrika

Während ihres Forschungsaufenthalts beim Medienprogramm Subsahara-Afrika hat Carlotta Voss zum Thema Flüchtlinge in Südafrika recherchiert. Dabei besuchte sie verschiedene Hilfseinrichtungen in Johannesburg und sprach mit Betroffenen. Hier ihr Bericht.

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Abush* ist angeschossen worden. Es ist bereits das dritte Mal. Im letzten Jahr trafen sie sein Kinn, sein vorsichtiges Lächeln ist seitdem zahnlos. Dieses Mal waren es der Rücken und der linke Arm. Auftragsmörder, sagt er leise und mit schwerem Akzent, Auftragsmörder aus seiner Heimat Äthiopien. Neun Jahre sei es her, dass er nach Südafrika geflüchtet ist, vor politischer Repression und Armut, und noch immer ließen sie ihn hier nicht in Ruhe. Er hat Angst. Er läuft den ganzen Tag durch die Straßen Johannesburgs, um seinen Gegnern zu entkommen. Bei der Polizei und auf den Behörden hört man ihn nicht an. Er will weg von hier, weg aus dem Land, das ihm einst als sicherer Hafen erschien. Nur wohin, das weiß er nicht.

Auch Juma* ist von Südafrika enttäuscht. Schon seit 18 Jahren ist er hier, sein halbes Leben, und fast ebenso lange ist er arbeitslos. Er ist vor dem Bürgerkrieg im Kongo geflohen, eine lange und beschwerliche Flucht, denn Jumas Beine sind verkrüppelt. Seit er als Kind an Polio erkrankt ist, bewegt er sich auf hölzernen Krücken vorwärts. Sie sind der Grund, dass er noch immer keinen offiziellen Flüchtlingsstatus hat, sagt er. In den heillos überlaufenen Antragsstellen wurde er immer wieder abgedrängt, von Menschen mit mehr Kraft und zwei gesunden Beinen.

Godwins* Beine sind gesund, aber einen Asylantrag hat er trotzdem noch nicht stellen können – ihm fehlen die nötigen Papiere. Er musste überstürzt aus Zimbabwe fliehen, versteckt in einem Truck, illegal über die Grenze. Seit zwei Wochen ist er in Johannesburg, seit zwei Wochen lebt er auf der Straße. In seiner Heimat hat er für die Oppositionspartei MDC gearbeitet. Für Oppositionspolitiker ist es keine gute Zeit, Mugabe sei nervös, sagt Godwin, seine Häscher überall. Er hat von Leuten gehört, die spurlos verschwunden sind. Er wollte nicht zu ihnen gehören. Also machte er sich auf nach Südafrika. Wie Hunderttausend andere vor ihm.

Südafrika ist eines der beliebtesten Zielländer für Flüchtlinge in Afrika. 65 000 anerkannte Flüchtlinge zählt der UNHCR in dem Land, dazu kamen Anfang 2015 noch etwa 245000 Asylbewerber. Da die meisten Einwanderer nicht registriert sind, liegt die Dunkelziffer weitaus höher - bei zwei bis fünf Millionen schätzt die Internationale Organisation für Migration. Südafrika beherbergt damit mehr als doppelt so viele Flüchtlinge wie Deutschland. Sie kommen aus dem Kongo wie Juma, aus Äthiopien wie Abush, aus Simbabwe wie Godwin, aus Somalia, Burundi oder Angola. Sie fliehen vor Krieg, Unterdrückung, Verfolgung, Armut und Arbeitslosigkeit. Die meisten von ihnen drängen sich in den urbanen Gegenden um Johannesburg, Kapstadt, Port Elizabeth oder Durban – auf der Suche nach Arbeit, Schutz und Unterkunft.

Nach Südafrika zu gelangen, ist einfach – die Grenzen sind durchlässig, die Beamten korrupt. Schwieriger ist es, sich ein Leben aufzubauen. Anders als in Deutschland gibt es in Südafrika keine staatliche Unterstützung, keine Flüchtlingslager oder finanzielle Hilfen. Die Minderheit derer, die die Einreise auf legalem Weg versucht oder innerhalb von 14 Tagen einen Asylantrag stellt, hat zwar offiziell Anrecht auf die meisten Bürgerrechte, auf Gesundheitsvorsorge, Zugang zu Schulbildung, staatlichen Schutz und auch das Recht, zu arbeiten. Aber viele Behörden weigern sich, die Dokumente anzuerkennen und viele Unternehmen wollen keine Ausländer einstellen. So ist, wer mit seinem Sack Habseligkeiten in Südafrika ankommt, meist auf sich alleine gestellt - Asylantragssteller wie Abush und illegale Einwanderer wie Godwin gleichermaßen. Gäbe es nicht die Nichtregierungsorganisationen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, ihnen zu helfen. Die meisten von ihnen sind in Johannesburg registriert, landesweit die Stadt mit den meisten Flüchtlingen.

Gespräche über Krieg, Tod und Folter

Abushs erste Anlaufstelle nach seiner Ankunft war der Jesuit Refugee Service. Die katholische Hilfsorganisation gibt es bereits seit 1980 und hat Zweigstellen überall auf der Welt. In Johannesburg ist sie schon über fünfzehn Jahre aktiv und damit eine der ältesten Flüchtlingsinstitutionen der Stadt. Ihr Quartier liegt hinter grün bemalten Gittern in der Vorstadt Belgravia. Immer montags, dienstags und donnerstags finden hier Beratungsstunden statt, in denen Flüchtlinge ihre Anliegen vortragen und Hilfsanträge stellen können. 50 bis 70 sind es jeden Tag, ihnen gegenüber stehen nur zwei Sozialarbeiter und etwa sieben Assistenten. Mzikayise Zulu ist einer von ihnen. Seit Anfang 2013 arbeitet er bei dem JRS, in einem von sechs kleinen Büro, an deren weißen Türen einfache DIN A 4 Blätter mit der Aufschrift „Bildung“, „Unterkunft“ oder „Gesundheitsvorsorge“ hängen. Das Hilfsprogramm des JRS ist umfangreich- neben finanziellen Zuschüssen für Essen, Medikamente oder Beerdigungskosten umfasst es auch vorläufige Unterbringung, Berufsschulungen oder Englischkurse.

Abush, der Flüchtling aus Äthiopien, ist der Erste, der heute aus dem Warteraum in Mzikayises Büro gerufen wird. Er setzt sich schüchtern auf einen roten Plastikstuhl und erzählt - von den drei Männern, die ihn angeschossen haben, von seiner Angst, davon, dass er seine Arbeit verloren hat. Bisher ist er den Wagen eines Lieferservice gefahren, aber mit dem verletzten Arm kann er nicht mehr lenken. Mzikayise erinnert sich an Abush, nach seiner ersten Verwundung unterstützte der JRS ihn finanziell bei der Miete.

„Bist du zur Polizei gegangen? Zum Arzt?“, fragt er. Abush nickt. Wortlos nestelt er mit dem gesunden Arm in einer blauen Mappe auf seinem Schoss und schiebt einen Stapel Papiere herüber. Mzikayise runzelt die Stirn, blättert durch die Seiten. Es ist lange Zeit still im Zimmer, während er liest, auf dem Flur hört man das Brummen des Druckers im Eingangsbereich und das Geschrei spielender Kinder im Warteraum.

Mzikayise schiebt die Dokumente zusammen. Es fehlt der ärztliche Nachweis über Arbeitsunfähigkeit. Ohne entsprechende Dokumente kann der JRS nicht aktiv werden – besonders in Fällen wie Abushs. Er fällt nicht mehr in die primäre Zielgruppe der Organisation: Neuankömmlinge, die noch nicht länger als zwei Jahre im Land sind oder besonderen Schutzes bedürfen, nach Definition des JRS alleinstehende Frauen, Minderjährige oder Alte.

Mzikayise rät Abush, ins Krankenhaus zurückzufahren und mit einem ärztlichen Attest wiederzukommen. Er beschreibt, wen er in der Klinik ansprechen und wonach er fragen soll. „Verstehst du?“, fragt er nach jedem Satz. Abush nickt. Dann erhebt er sich schwerfällig und geht. Für Mzikayise ist das der schlimmste Teil seiner Arbeit: Menschen wegzuschicken, wegen bürokratischer Hürden, Menschen, die Hilfe brauchen. „Mit dem Kopf zu entscheiden, und nicht mit dem Herz“, wie er es ausdrückt. Aber der JRS hat seine Richtlinien und vor Mzikayises Buero sitzen noch ein paar dutzend Wartende, die mit ihm sprechen möchten.

10 bis 15 Fälle versucht er am Tag zu bearbeiten, aber eigentlich sind das viel zu viele, sagt er. Die Geschichten, die er zu hören bekommt, handeln von Krieg, Tod, Folter, Armut, sie erschöpfen. Aber wenn sich jemand über Stunden auf den Weg gemacht hat – wie kann er ihn wegschicken? Am schlimmsten sei es am Dienstag, da ist die Sprechstunde für Flüchtlinge aus dem Kongo und der Andrang am größten.

Im Rollstuhl nach Südafrika

Kongolesen und Somalier machen den Großteil der Flüchtlingsbevölkerung in Südafrika aus. Obwohl die meisten von ihnen nach internationalem Flüchtlingsrecht gute Chancen auf einen Flüchtlingsstatus hätten, gibt es viele, die so wie Juma, der Mann auf Krücken, noch Jahren nach auf ihre Anerkennung warten. In die Nothilfeprogramme von Organisationen wie dem JRS fallen sie nicht mehr, Hilfe brauchen sie meist trotzdem.

Juma hat sie bei Redeeming Hope for the Disabled gefunden, einer lokalen Initiative für Flüchtlinge mit körperlicher und geistiger Behinderung, im Vergleich zu dem internationalen JRS geradezu winzig. Sie besteht aus sechs Mitarbeitern, einem Computer und einem Haus mit Garten. Im Wesentlichen besteht sie aus einem Mann: Godel Sefu. Godel ist selbst Flüchtling und er ist selbst körperlich behindert. 2002 stürzte er beim Fußballspielen in seiner Heimat, dem Kongo, so unglücklich, dass er seit dem an einen Rollstuhl gebunden ist. Der Unfall veränderte alles: Seine Priesterausbildung musste er abbrechen, weil das Kanonische Recht die Weihe von Menschen mit Behinderungen ausschließt, seine Freunde wanden sich von ihm ab. Im Kongo gab es keine Zukunft mehr für ihn und so entschloss er sich, fünf Jahre später, zu fliehen – im Rollstuhl fast 3000 Kilometer nach Südafrika. In Johannesburg fand er eine Bleibe aber keine Arbeit. Er bettelte, um zu überleben. Und dann kam 2008. Das Jahr ist in Südafrika fast zu einem Synonym für Ausländerfeindlichkeit geworden. Eine bis dahin beispiellose Serie an Gewaltakten gegenüber Migranten rollte über das Land. Wohnungen und Geschäfte wurden angezündet und zerstört, über 60 Menschen starben, tausende verloren Lebensgrundlage und Obdach. Es war der Gipfel eines schon lange schwelenden Misstrauens im Verhältnis von Zuwanderern und Südafrikanern. Der UNHCR warnt seit Jahren, dass Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und ein überfordertes Sozialsystem Fremdenfeindlichkeit massiv Vorschub leisten.

Godel Sefu war mittendrin, als am 12. Mai die Ausschreitungen in Johannesburg ihren Anfang nahmen – und wehrlos. In seinem Rollstuhl schaffte er es nicht, rechtzeitig in die eilig errichteten Schutzräume für Flüchtlinge zu gelangen. Ein Ehepaar versteckte ihn und rettete ihm vielleicht das Leben. Aber die Ereignisse machten ihm deutlich, wie sehr es in Johannesburg an einer Organisation fehlte, die den besonderen Bedürfnissen von Flüchtlingen mit Behinderung angepasst war - einer Minderheit in der Minderheit. Auch die Stadtverwaltung erkannte den Bedarf und stellte Godel ein Haus im Township Lenasia zur Verfügung, seitdem der Sitz von Redeeming Hope for the Disabled.

Godel geht es längst nicht mehr nur um den physischen Schutz. Seine Organisation will Menschen mit Behinderung die Stütze einer Gemeinschaft bieten und ihnen helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. „Es steckt so viel Potenzial in uns“, sagt der Vierzigjährige. „Wenn man uns denn eine Chance gibt.“ Hinter dem Haus hat er ein Gardening Projekt gestartet, wo die Flüchtlinge lernen können, Gemüse anzubauen – für den Eigenbedarf und für den Verkauf. In Kooperation mit lokalen Partnern hat er Handarbeitsprogramme, Näh- und Computerkurse organisiert. Und er versucht, Flüchtlingen wie Juma mit ihren Dokumenten zu helfen.

Wenig Geld, aber Gemeinschaft

Die meisten Menschen, die Redeeming Hope for the Disabled aufsuchen, sind Asylbewerber, die wenigsten haben einen Flüchtlingsstatus oder gar eine Aufenthaltsgenehmigung. Fatal ist das besonders für die Eltern behinderter Kinder: Schulbesuche sind teuer in Südafrika, gerade für diejenigen, die auf besondere Betreuungseinrichtungen angewiesen ist. Flüchtlinge, zumal wenn arbeitslos, können sich die Gebühren oft nicht leisten und vom Staat gibt es selten finanzielle Unterstützung – wegen behördlicher Diskriminierung oder weil die Papiere fehlen. Elie* sagt, sie hätte in neun Jahren noch keinen Cent bekommen. Ihr Sohn ist geistig behindert und Opfer der Kriegsverbrechen im Kongo. Er war noch ein Baby, als Rebellen sie überfielen und ihn gegen eine Wand warfen, weil er zu laut schrie. Mittlerweile ist er lange im schulfähigen Alter, aber er kann nicht sprechen und reagiert kaum auf Geräusche. Er sitzt apathisch neben seiner Mutter, während sie von den vielen erfolglosen Versuchen erzählt, Schuldgeld für seine Förderung aufzutreiben. Sie hat sich bei UNHCR registrieren lassen und nach Hilfe gefragt, aber auf eine Antwort wartet sie noch immer.

Darüber klagt auch Franck*. Vor 19 Jahren ist er vor politischer Verfolgung aus dem Kongo nach Südafrika geflohen, seine älteste Tochter Sarah wurde hier geboren. Die Geburt war kompliziert, aber im Krankenhaus weigerten sich die Ärzte zunächst, Francks Frau zu behandeln – aus Fremdenfeindlichkeit, ist er überzeugt. Sarah erlitt einen Sauerstoffschaden und ist seitdem schwer geistig und körperlich behindert. Mit ihren zehn Jahren kann sie weder gehen noch sprechen.

Redeeming Hope of the Disabled bietet Elie und Franck einen Anlaufpunkt und eine Gemeinschaft, aber es fehlt es an Geld, um ihnen auch finanziell helfen zu können. Die Organisation lebt fast ausschließlich von Spenden, gesammelt in Einkaufszentren, auf der Straße. Viel kommt meist nicht zusammen, die Hilfsbereitschaft der südafrikanischen Bevölkerung sei gering, wenn es um Flüchtlinge geht, sagt Godel Sefu. Noch immer ist die Stimmung zwischen Südafrikanern und Einwanderern vergiftet, die meisten der Flüchtlinge bei Redeeming Hope for the Disabled haben Erfahrung mit Diskriminierung und Gewalt gemacht. Der Straßenstand von Francks Frau wurde 2008 und bei erneuten Ausschreitungen Anfang 2015 von einem Mob zerstört, er war die Lebensgrundlage der Familie. Franck selbst ist arbeitslos, genau wie Elie. Südafrikaner wollen keine Ausländer einstellen, sagen beide. Einen gerecht bezahlten Job zu finden – unmöglich.

Ein Klima des Misstrauens

Godel Sefu kann die Ängste der Südafrikaner teilweise verstehen. Südafrikas Asylsystem ist heillos überlastet, die Politik hilflos – und das macht den Missbrauch einfach. Auf der Suche nach Arbeit überqueren jedes Jahr tausende Immigranten die Grenze, die keinerlei Chancen auf eine Anerkennung als Flüchtling haben. Sie bewerben sich trotzdem, denn die Bearbeitung der Asylanträge dauert manchmal Jahre und so lange ist ihnen Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis sicher. Viele von ihnen kommen aus den unmittelbaren Nachbarländern – Ende 2014 haben mehr als fünf Mal so viele Simbabwer wie Kongolesen einen Asylantrag gestellt, obwohl die wenigsten Aussicht auf Erfolg haben. Aber die Simbabwische Wirtschaft ist nach Jahren diktatorischer Politik am Boden und mit Südafrika, einem der reichsten Länder des Kontinents, sind Arbeit und Wohlstand scheinbar nur wenige Kilometer entfernt.

Doch das täuscht. Jeder Vierte Südafrikaner ist nach Schätzungen arbeitslos, ein Drittel lebt unter der Armutsgrenze, die soziale Ungleichheit ist riesig. Der tägliche Zustrom von illegal eingewanderten Arbeitssuchenden erscheint da vielen als direkte Bedrohung der eigenen Existenz. Als der Sohn Präsident Jacob Zuma Anfang des Jahres in einem Aufsehen erregenden Interview die hohe Flüchtlingszahl als „tickende Zeitbombe“ bezeichnete und Migranten als Kriminelle und Drogenhändler brandmarkte, wiederholte er weit verbreitete Vorurteile. Demnach sind Flüchtlinge Betrüger und Nutznießer eines überforderten Südafrika. Die Regierung versucht, dem Problem mit hartem Durchgreifen zu begegnen, mit Großrazzien, Massenverhaftunge n und Zwangsdeportationen.

Godwin, der Neuankömmling aus Simbabwe, ist darum gar nicht erst zu den Asylbehörden gegangen. Ohne Pass hätten sie ihn nach Lindela geschickt, vermutet er, in das gefürchtete Rückführungslager für illegale Migranten, das immer wieder Presse macht mit Menschenrechtsverletzungen. Doch jetzt, nach zwei Wochen auf der Straße, ist er ratlos. Ohne Identifikationspapiere geht in Südafrika nichts. Es ist unmöglich, Gesundheitsvorsorge in Anspruch zu nehmen, ein Handy zu kaufen, Arbeit zu finden – und auch die Hilfsangebote des JRS und vieler anderer NGOs enden dort, wo die Legalität aufhört. Godwin hat nicht mehr viele Möglichkeiten.

Das Brot gemeinsam brechen

Samantha Kristiansen zieht ihre Pumps aus. Es ist ein Mittwoch, kurz nach sechs, die Sonne ist gerade untergegangen und die Lichter auf dem Tankstellenparkplatz gehen an. Die Siebenunddreißigjährige schlüpft in bequeme Stiefel und postiert routiniert einen hohen Aufsteller neben ihrem Auto: „Paballo ya Batho“ steht darauf. Er markiert den Startpunkt einer allwöchentlichen, mobilen Suppenküche, die sich all jenen annimmt, die aus dem System fallen – den Obdachlosen Johannesburgs. Geführt wird sie allein von Freiwilligen, von Südafrikanern zumeist, die gleichgültig Papieren und ethnischer Herkunft helfen wollen. Nach und nach versammelt sich eine Handvoll von ihnen um Samanthas Auto, acht bis zehn kommen im Schnitt jede Woche, einige regelmäßig, andere immer mal wieder.

Um halb sieben geht es los. In Kolonne fahren die Freiwillgen zur ersten Station des Abends, voran der rote Truck mit den Suppentöpfen und 300 Leibern Brot auf der Ladefläche. Die Obdachlosen stehen schon aufgereiht die halbe Straße hinunter, auch Godwin hat sich eingereiht. Paballo ya Batho ist eine Institution in Johannesburg, seit 1989 kümmert sie sich um Menschen, die auf der Straße leben. Bis letztes Jahr gehörte die Organisation zu der Central Methodist Church, die sich nach 2008 einen Namen im Kampf um Flüchtlingsrechte machte. Doch nach einem Führungswechsel verschoben sich die Prioritäten. Als Paballo geschlossen zu werden drohte, übernahm Samantha Kristiansen kurzerhand gemeinsam mit zwei Mitstreitern das Projekt.

Die Regeln der Suppenküche haben sich nicht geändert, die Obdachlosen kennen sie: Niemand drängelt sich vor, jeder bekommt einen Plastikbecher mit Suppe und einen halben Laib Brot. Für Suppe gibt es Nachschlag, für Brot nicht. Suppe und Brot – um mehr geht es erstmal nicht. Herkunft, Ethnie, Religion, sie spielen in der Schlange vor dem roten Truck keine Rolle. Friedlich stehen Simbabwer, Ugander und Südafrikaner nebeneinander, das Leben auf der Straße tilgt die Unterschiede. Sie habe noch nie Spannungen gespürt, sagt Samantha Kristiansen. Bei den Ausschreitungen zu Beginn des Jahres bat sie die Polizei, ein Auge auf die Versammlung zu haben, aber alles blieb friedlich. Die Opfer der Gewalt waren Menschen mit Besitz, so erklärt sie es sich, Geschäftsinhaber, Wohnungsbesitzer. Sie fragt sich ohnehin, ob all die Diskussionen um Xenophobie nicht mehr politische Agenda sind als Realität. Bei Paballo zumindest bekommt man nicht viel davon mit.

Nach einer halben Stunde hat jeder in der Schlange seinen Becher Suppe in der Hand und einen Plastikbeutel mit Brot dazu, die Aufregung legt sich, der erste Hunger ist gestillt. Die freiwilligen Helfer von Paballo nutzen die Zeit, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Paballo will nicht nur eine Suppenküche sein, es will auch ein Forum bieten für Fragen und Nöte. Manchmal braucht jemand einfach ein paar neue Schuhe oder einen Mantel, aber oft geht es auch um rechtliche Fragen – um Dokumente, Aufenthaltsgenehmigungen, Arbeit. Auch hier versucht Paballo zu helfen und davon hat Godwin gehört. Er wartet, bis sich die Menschenansammlung aufgelöst hat, dann erzählt er Samantha Kristiansen seine Geschichte. Er erzählt von seiner politischen Arbeit in Simbabwe und von Flüssen voller Krokodile, in denen Menschen für immer verschwinden. Und er erzählt, dass er sich bisher nicht in die Asylantragsstelle gewagt hat, dass eine Rückführung seinen Tod bedeuten könnte. Er legt Wert darauf, zu betonen, dass er kein Armutsflüchtling ist.

Samantha notiert seine Worte in ein Formular. In Fällen wie Godwins verweist Paballo die Hilfesuchenden an Partnerorganisationen, die auf Recht spezialisiert sind, meist an die Lawyers for Human Rights. Samantha schreibt eine Empfehlung und gibt Godwin die Adresse. Gleich morgen will er vorstellig werden. Er verspricht, nächsten Mittwoch zu berichten, wie es gelaufen ist, dann verschwindet er im Dunkeln. Mit ihm verstreuen sich etwa 250 Menschen halbwegs satt in den Straßen und legen sich auf ihre Lager in Hauseingängen und an Wegesrändern.

Die Nacht senkt sich über Johannesburg, nach Schätzungen von Hilfsorganisationen der urbane Raum mit der größten Flüchtlingsbevölkerung weltweit – und der Zustrom von Neuankömmlingen reißt nicht ab. Ohne Menschen wie Samantha, Mzikayise und Godel wüssten die meisten nicht, wohin sie sich wenden sollen. Die Zivilgesellschaft nimmt einer Regierung die Arbeit ab, die mit der Situation überfordert scheint, hier und anderswo.

Im Jahr 2015 sind weltweit mehr Menschen auf der Flucht, als jemals verzeichnet wurde, überall fehlt es der Politik an Lösungskonzepten. Vielen macht das Angst. In Südafrika werden regelmäßig Geschäfte von Einwanderern verwüstet, in Deutschland brennen Flüchtlingsheime. Mehr denn je braucht es den Einzelnen, der erkennt, dass es an ihm ist, zu helfen.

Samantha Kristiansen wäscht die Suppentöpfe sauber. Noch hängt schwach der Duft von Rindfleisch und Brühe in der Luft.

Mzikayise Zulu schließt sein Büro ab. Die Stimmen der spielenden Kinder sind verklungen, der Warteraum ist leer, aber schon morgen werden sich dort wieder Frauen und Männer, Mädchen und Jungen drängen – zwischen ihnen vielleicht auch Abush mit seinem ärztlichen Attest.

Godel Sefu hebt Sarah von seinem Schoss, das Mädchen, das bei der Geburt einen Sauerstoffschaden erlitten hat. Sie legt den Kopf schief und lauscht. In der Küche nebenan wird Essen gekocht, ein Essen für alle.

"*"Name geändert.

Von Carlotta Voss.

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Frauen und Kinder auf der Flucht in Nigeria | Foto: European Commission DG ECHO/Flickr European Commission DG ECHO/Flickr

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