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Länderberichte

Hamas auf dem Vormarsch

von Dr. Hans Maria Heyn

Neue Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung in den Palästinensischen Gebieten mit alarmierenden Resultaten

Vom 7. Juli befand sich die Hamas für 50 Tage im Krieg mit Israel. Seit den Nachmittagsstunden des 26. August gilt ein unbefristeter Waffenstillstand. Ende September sollen beide Seiten wieder zu indirekten Gesprächen über die Zukunft des Gazastreifens zusammentreffen. Um die veränderte politische und soziale Lage im Gazastreifen einschätzen zu können und herauszufinden, wie dieser dritte Gazakrieg das Stimmungsbild der palästinensischen Bevölkerung veränderte, hat die Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah ihren Partner PSR mit einer neuen, repräsentativen Umfrage beauftragt.

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Im Rahmen dieser Studie, die noch am 26. August 2014 begann, wurden 1270 Personen in 127 zufällig ausgewählten Plätzen in der Westbank und dem Gazastreifen befragt.

Dramatische Veränderungen im palästinensischen Meinungsbild

Die Ergebnisse dieser Gaza-Umfrage zeigen dramatische Veränderungen im Meinungsbild der palästinensischen Öffentlichkeit in vier zentralen Themenbereichen. Zu verzeichnen sind:

1.Ein deutlicher innerpalästinensischer Machtumschwung zugunsten der Hamas.

2.Die von Hamas propagierten gewaltsamen Ansätze gewinnen deutlich an Popularität.

3.Die Zweistaatenlösung verliert ihre Mehrheit in der palästinensischen Bevölkerung.

4.Die Türkei, Iran und das Emirat Katar sind die neuen wichtigsten palästinensischen Verbündeten.

Auslöser dieser Veränderungen im palästinensischen Meinungsbild ist der dritte Gazakrieg. Die, unmittelbar nach dem ersten und zweiten Gazakrieg durchgeführten Meinungsumfragen zeigten zwar ebenfalls einen Popularitätsgewinn der Hamas und ihrer Anführer bei einem gleichzeitigen Popularitätsrückgang von Fatah und Präsident Abbas. Allerdings ist, im Vergleich zu diesen früheren Umfragen, der gegenwärtige Meinungsumschwung zugunsten der Hamas beispiellos.

Während in der israelischen Öffentlichkeit die Debatte anhält, wie der letzte Gazakrieg und dessen Ausgang zu bewerten sind, bezeichnen 79 % der befragten Palästinenser die Hamas als eindeutigen Sieger; nur 3 % sehen Israel als Gewinner.

Hamas gewinnt auf allen Ebenen an Zustimmung

Alarmierend ist, dass 94 % der Befragten sich mit dem militärischen Handeln der Hamas zufrieden zeigen. Gefragt nach der generellen Zufriedenheit mit der Leistung politischer Akteure schneiden PA (36 % Zufriedenheit) und Präsident Abbas (39 %) katastrophal ab im Vergleich zu Khaled Mashal (78 %) und der Hamas (88 % Zustimmung). Noch erschreckender ist der direkte Vergleich zwischen Westbank und dem Gazastreifen. So kommt Khaled Mashal im Gazastreifen auf 70 % Unterstützung, in der Westbank jedoch auf 83 %. Präsident Abbas wiederum erreicht in der Westbank nur noch 33 % Zustimmung während es im Gazastreifen zumindest noch 49 % sind.

Sollten neue Präsidentschaftswahlen stattfinden, so zeichnet sich ein erdrutschartiger Sieg für den möglichen Hamas-Kandidaten Ismael Haniyeh ab. Haniyeh verzeichnet mit 61 % Zustimmung den mit Abstand höchsten Wert seit Beginn dieser Umfrage vor acht Jahren. Präsident Abbas kommt im direkten Vergleich nur noch auf 32 %.

In der Westbank erreicht Haniyeh sogar eine Zustimmung von 66 % während hier Abbas auf 25 % abrutscht. Vor zwei Monaten konnte sich Abbas noch auf eine Mehrheit in der Westbank und dem Gazastreifen (beide 53 % Unterstützung) berufen, während die Zustimmung für Haniyeh nur bei 41 % lag. Würde der im Gefängnis sitzende Fatah-Führer Marwan Barghouti ebenfalls an der Präsidentschaftswahl teilnehmen, so könnte Haniyeh auch diesen – zum ersten Mal seit Beginn der Umfrage – an der Urne schlagen. Barghouti käme nur noch auf 45 %, Haniyeh auf 49 %.

Würden alle drei Kandidaten antreten, so könnte Haniyeh fast unverändert mit 48 % gewinnen – Abbas verzeichnet hier nur noch 19 % Zustimmung. Unterdessen stürzt die Zufriedenheit mit der Leistung von Präsident Abbas im Vergleichszeitraum von 50 % auf 39 % ab.

Einen ähnlich drastischen Meinungsumschwung zeigt die Umfrage bei der Präferenz politischer Parteien. Bei Abhaltung von Wahlen zum palästinensischen Legislativrat könnte die Hamas zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit 46 % der Stimmen überlegen gewinnen. Die Fatah käme nur noch auf 31 %, alle anderen „dritten Parteien“ erreichen zusammen nur sieben Prozent. Zudem verzeichnet die Hamas im direkten Vergleich in der Westbank eine höhere Zustimmungsrate (47 %) als im Gazastreifen (44 %).

Ebenfalls zum ersten Mal seit Beginn dieser Umfragereihe erreicht der Propagandakanal der Hamas, „Al-Aqsa TV“ mehr Fernsehzuschauer als alle anderen Programme; Al-Aqsa kommt auf 37 %, Al-Jazeera auf 21 %, Palestine-TV auf 16 % und Maan-Mix auf 11 %.

Gewaltanwendung als probates Mittel erreicht die Mitte der palästinensischen Gesellschaft

Auch der von der Hamas propagierte und implementierte gewaltsame Kampf erhält neue Zustimmungshöchstwerte. Rund 53 % der Befragten benennen ihn als effektivstes Mittel zur Erreichung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels. Nur noch 22 % bezeichnen Verhandlungen und nur noch 20 % den gewaltfreien Widerstand als beste Methode. Direkt gefragt, favorisieren rund 72 % der Befragten einen bewaffneten Kampf, wie ihn die Hamas in Gaza betreibt auch in der Westbank.

Gefragt nach den erfolgversprechendsten Vorgehensweisen in einer Zeit ohne direkte Verhandlungen geben 85 % an, internationalen Organisationen (wie dem int. Strafgerichtshof) beizutreten, 60 % unterstützen die Wiederaufnahme einer „dritten“ Intifada und 42 % sprechen sich für eine Selbstauflösung der PA aus. Noch vor zwei Monaten lag die Unterstützung für eine Intifada bei nur 41 %.

Rund 86 % der Befragten unterstützen auch in Zukunft – sollte die Blockade anhalten – das Abschießen von Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel. Obgleich der beispiellosen Zahl von mehr als 2100 palästinensischen Todesopfern bezeichnen 59 % der Befragten im Gazastreifen (38 % in der Westbank) es als legitim, Raketen aus besiedelten Gebieten zu schießen. Die Demilitarisierung des Gazastreifens lehnen inzwischen 57 % der Befragten ab – in der letzten Umfrage im Juni 2014 waren es nur 33 %.

Keine Mehrheit für die Zweistaatenlösung in der palästinensischen Bevölkerung

Seit Beginn dieser Umfragereihe und darüber hinaus seit den Oslo-Verhandlungen sprach sich immer eine Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung für die Implementierung einer Zweistaatenlösung auf Grundlage der Grenzen von vor 1967 aus. Auch in der Umfrage vom Juni 2014 bestätigte dies noch eine – wenn auch knappe – Mehrheit von 54 %. Jetzt nach dem Gazakrieg sprechen sich erstmals weniger als die Hälfte der Palästinenser (49 %) für diese Option aus. Damit ist eines der Kernelemente des Friedensprozesses im Grundsatz gefährdet.

Regionales Umdenken

Während die Muslimbrüder in Ägypten an der Macht waren, bestanden beste Beziehungen zwischen dem Gazastreifen und seinem großen Nachbarn. Heute, etwas mehr als ein Jahr nach dem Sturz des Mursi-Regimes wenden sich die Palästinenser von Ägypten ab. Fast Zwei Drittel der Befragten geben an, dass Iran, die Türkei und das Emirat Katar die Menschen im Gazastreifen im „Kampf gegen Israel“ elementar unterstützt hätten. Nur neun Prozent der Befragten bezeichnen Ägypten als Hilfe. An der Spitze der gefühlten Unterstützer steht der Iran mit 28 %, gefolgt von der Türkei (21 %) und Katar (15 %). Die Rolle Ägyptens als Vermittler wird zunehmend kritisch gesehen. Nur 25 % empfanden Ägyptens Rolle im letzten Krieg positiv während mehr als die Hälfte (52 %) sich negativ äußert.

Der dritte Gazakrieg als Zäsur im palästinensischen Denken

Alle diese Zahlen zeigen in eine eindeutige Richtung. Es gibt einen klaren Popularitätsverlust der gemäßigten Kräfte um Präsident Abbas bei einem gleichzeitig deutlichen Popularitätsgewinn der Hamas und der mit ihr assoziierten gewalttätigen Methoden. Die Durchführung einer derartigen Umfrage direkt im Anschluss an eine militärische Auseinandersetzung, die aus palästinensischer Sicht von der Hamas gewonnen wurde, lässt Zugewinne für die Hamas und eine stärkere Unterstützung ihres ideologischen Ansatzes erwarten. Dies zeigen Umfragen im Rahmen der beiden ersten Gazakriege.

Gleichwohl gehen die hier vorliegenden Zahlen über das Erwartbare deutlich hinaus. Daher kann der erneute Gazakrieg zwar numerisch in eine Reihe mit den ersten beiden Auseinandersetzungen gesetzt werden, inhaltlich ist er dennoch eine Zäsur. Mehr als 20 Jahre nach dem Beginn des Osloprozesses und den damit verbundenen Verhandlungen über eine international anerkannte Staatlichkeit Palästinas sind faktisch kaum Erfolge zu verzeichnen. In wiederkehrenden Abständen wird ergebnislos verhandelt. Der Frust der palästinensischen Bevölkerung über dieses „Nicht-Erreichte“ wird in der Umfrage deutlich. Dass die eigene Staatlichkeit in keiner Weise durch Gewalt, Raketenbeschuss oder eine Intifada gegen Israel erreicht werden kann, blenden die Befragten offensichtlich aus. Was dennoch bleibt, sind ganz augenscheinliche Tendenzen der Radikalisierung in der Westbank. Hier erreicht die Hamas höhere Zustimmungsraten als in Gaza, hier ist der Frust über Abbas und seine Regierung am Größten. Dies muss Anlass zur Sorge sein. Denn entgleitet der PA die Westbank, dann entgleitet die Chance auf eine friedliche Zweistaatenlösung.

Abbas muss jetzt handeln

Zwar ist zu erwarten, dass die Unterstützung für die Hamas in den nächsten Wochen wieder zurückgehen wird, dennoch müssen PA und Präsident Abbas jetzt handeln, um nicht den Rückhalt der eigenen Bevölkerung (vor allem in der Westbank) zu verlieren. Wie am 1. September bekannt wurde, beabsichtig Präsident Abbas die „Staatswerdung Palästinas“ nun in drei Stufen voranzubringen. Hierzu soll ein klarer Zeitplan entwickelt werden. In einem ersten Schritt sollen die Vereinigten Staaten innerhalb von rund vier Monaten die Grenzen eines zukünftigen Staates Palästina im Rahmen der Grenzen von vor 1967 definieren. Eine ähnliche Aufforderung will Abbas an Israel richten. Falls Israel dem nicht nachkäme, beabsichtigt die PA in einem zweiten Schritt, gedeckt durch die anderen arabischen Staaten, den UN-Sicherheitsrat mit der Bitte anzurufen, Israel möge sich auf die Grenzen von vor 1967 zurückzuziehen. Falls auch dies zu keinem Resultat führen sollte, würde man allen (soweit rechtlich möglich) internationalen Organisationen beitreten. Dies gelte insbesondere für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, um dort gegen Israel zu klagen.

Inwieweit dieser Schritt für die PA-Führung wirklich durchführbar ist, bleibt unklar. Zu groß könnten hier die Widerstände der USA sein. Sollte dies alles zu keinen faktischen Fortschritten im Sinne von Staatlichkeit führen, so scheint Abbas zu erwägen, die Sicherheitskooperation mit Israel einzustellen und die „Verantwortung für das, von der PA-kontrollierte Territorium an Premierminister Netanyahu“ zu übergeben. Dies kommt einer faktischen Selbstauflösung der PA gleich. Doch eine Selbstauflösung schafft keinen eigenen Staat. In der gegenwärtigen Situation, bei einer gleichzeitig widererstarkenden Hamas in der Westbank könnte ein derartiges Sicherheitsvakuum unkalkulierbare Folgen haben. Sollte daher auch in Israel in dieser kritischen Zeit nicht endlich die Bereitschaft wachsen, einer Zweistaatenlösung unter den von den UN, der Europäischen Union und den USA ausgehandelten Termini zuzustimmen, so ist zu befürchten, dass Abbas und der von ihm propagierte Weg friedlicher Verhandlungen innerhalb der palästinensischen Bevölkerung weiter an Zustimmung verliert. Was dann kommt, weiß noch niemand. Doch die neue Stärke der Hamas und die Entwicklungen in den östlichen Nachbarländern Israels verheißen gegenwärtig nichts Gutes.

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Foto: picture alliance / dpa

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