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Zwischen UNO und INTIFADA: Ein Unruhiger September in den Palästinensischen Gebieten?

von Felix Dane, Jörg Knocha
Es ist unklar, was die Palästinenser durch ihren Gang vor die Vereinten Nationen erreichen können. Erste palästinensische Politiker erheben bereits warnend ihre Stimme. „September“ könnte zum Schlagwort einer neuen Phase des Nahostkonflikts werden.

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Tief im Westjordanland liegt das palästinensische Flüchtlingslager Qalandiya. Dort befindet sich der wichtigste israelische Kontrollpunkt. Die meisten Palästinenser, die nach Jerusalem wollen und dürfen, benutzen ihn. In den letzten Wochen kam es dort zu mehreren Demonstrationen gegen die israelische Besatzung. Am 15. Mai und 5. Juni gingen Hunderte Palästinenser auf die Straße. Die große Mehrheit blieb friedlich, doch vor allem in den Abendstunden, wenn die internationale Presse nicht mehr anwesend war, eskalierte die Lage in einigen Seitenstraßen. Während kleine Gruppen anfingen, Steine zu werfen und Autoreifen anzuzünden, ging die israelische Armee härter gegen die Demonstranten vor. Egal wie der palästinensische Versuch, im September 2011 in die Vereinten Nationen aufgenommen zu werden, auch ausgehen mag, auf Grund der enormen Erwartungshaltung ist für die Zeit danach mit weitaus größeren Demonstrationen zu rechnen.

Der Schritt vor die Vereinten Nationen

Um im September 2011 in die Vereinten Nationen (VN) aufgenommen werden zu können, müssen sich die Palästinenser bis Mitte Juli in einem offiziellen Brief an den Generalsekretär der VN wenden, in dem sie die Mitgliedschaft beantragen. Mindestens 25 Tage vor Beginn der Generalversammlung, also spätestens am 20. August, muss dann die Abstimmung im Sicherheitsrat erfolgen. Dort müssten sie mindestens neun von 15 Ländern auf ihre Seite bringen. Allerdings ist zu erwarten, dass mit den USA mindestens eine Vetomacht versuchen wird, eine Aufnahme „Palästinas“ in die VN zu verhindern.

Sollte es dazu kommen, würden sich die Palästinenser an die Generalversammlung wenden, die in diesem Jahr am 13. September eröffnet wird. Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas hat diesen Alternativschritt bereits mehrfach bestätigt. Die dortigen Beschlüsse sind völkerrechtlich jedoch nicht bindend. Statt eines Aufnahmegesuchs könnte in einer symbolischen Abstimmung über die Staatlichkeit „Palästinas“ oder über eine Aufwertung der palästinensischen VN-Beobachtermission abgestimmt werden.

Für eine Zweidrittelmehrheit wären derzeit 128 Stimmen notwendig. Bisher werden die Palästinenser von mehr als 115 VN-Mitgliedsländern, vor allem aus Afrika, Asien und Lateinamerika, als Staat anerkannt. Selbst die oft zitierte Resolution 377 der Generalversammlung von 1950 bietet keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Sie wurde bekannt unter dem Namen „Uniting for Peace“ und war dazu gedacht, die Lähmung des Sicherheitsrates während des Kalten Krieges zu überwinden. Die Generalversammlung kann durch dieses Verfahren den Sicherheitsrat umgehen und direkt aktiv werden sowie anschließend Vorschläge an die Mitgliedsländer abgeben. Dafür müssten die Palästinenser aber nicht nur eine Lähmung des Sicherheitsrats nachweisen, sondern auch, dass ihre ausbleibende Staatlichkeit den Weltfrieden und die internationale Stabilität gefährdet.

Nach derzeitigem Kenntnisstand muss davon ausgegangen werden, dass die Palästinenser mit ihrem Aufnahmegesuch scheitern werden, da die US-Administration diesen Schritt vehement ablehnt. Lediglich ein Pyrrhussieg vor der Generalversammlung ist dann noch für sie möglich. Einflussreiche palästinensische Politiker warnen bereits vor dieser Strategie. Argumente für und gegen „September“ gibt es zahlreiche.

Ein kontroverser Pfad

Vernimmt man die Verlautbarungen von Präsident Abbas, so scheint die gesamte Palästinenserführung hinter dem Schritt vor die VN zu stehen, sollte es nicht zu neuen Friedensverhandlungen mit Israel kommen. Nach der Rede des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vor dem US-Kongress Ende Mai bekräftigte Abbas, dass „wir vor die Vereinten Nationen gehen werden, wenn bis September nichts mehr passiert“. Doch laut israelischen und palästinensischen Tageszeitungen gibt es einen wachsenden Dissens. Ministerpräsident Salam Fayyad, der ehemalige Regierungschef Ahmed Qureia und der vormalige VN-Gesandte Nasser al-Qudwa sollen sich gegen diesen Weg ausgesprochen haben.

Al-Qudwa glaubt nicht daran, dass die Palästinenser durch die VN einen unabhängigen Staat erlangen können. Der richtige Weg wären bilaterale Vereinbarungen mit wichtigen Akteuren wie der Europäischen Union und den USA. Der hochrangige Fatah-Funktionär Nabil Amer sieht die einzige Möglichkeit „September“ zu einem Erfolg zu machen darin, möglichst viele Nationen zu einer schriftlichen Fixierung ihrer Unterstützung für einen Palästinenserstaat zu bewegen. Dabei spielt vor allem die Befürchtung eine Rolle, dass man Israel zwar schaden, aber den eigenen Zielen keinen Schritt näher kommen würde. Der Gefahr, sich auf einen Konfrontationskurs mit den USA zu begeben und große Mengen an Hilfszahlungen zu verlieren, ist sich auch Präsident Abbas bewusst. Für ihn bleiben Verhandlungen mit Israel die erste Wahl. Im Juni betonte er zum wiederholten Male, dass seine „erste, dritte und zweite Priorität“ Verhandlungen seien. Diese könnten aber nur dann stattfinden, wenn Israel bereit wäre, die Grenzen von 1967 als Gesprächsgrundlage anzuerkennen.

Die Hamas ist auffallend zurückhaltend, wenn es um die Pläne der Palästinenserführung im Westjordanland geht. Gibt es doch einmal Verlautbarungen, bleiben diese vage. In einem Interview mit dem amerikanischen Journalisten Aaaron Klein vertrat Mahmoud al-Zahar, einer der wichtigsten Führer der Islamisten in Gaza, die Auffassung, dass die internationale Gemeinschaft den Palästinensern im September keinen Staat zugestehen wird. Daher stelle sich die Frage zur Positionierung der Hamas nicht.

Proteste ohne Gewalt?

In einer Umfrage des Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR), einem Partner der KAS Ramallah, vom Dezember 2010 wurde die Frage gestellt, was die beste Alternative zu Verhandlungen sei. 31 Prozent der Palästinenser bevorzugten den Gang vor die VN, während 29 Prozent die Rückkehr zur Gewalt befürworteten. Drei Monate später, während der „Arabische Frühling“ bereits im vollen Gange war, sah das Bild völlig anders aus. Die überwältigende Mehrheit setzte nun auf Demonstrationen, nicht nur gegen Israel sondern auch gegen die eigenen Führungen: die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) im Westjordanland bzw. die Hamas in Gaza. 51 Prozent bevorzugten dabei den Slogan „die Menschen wollen das Ende der Spaltung“. Nur wenig später kam es zur Versöhnung zwischen Fatah und Hamas. Unklar ist jedoch ob diese tatsächlich von Dauer ist und zu einer Wiedervereinigung der Palästinensergebiete führen wird, da sich schon die Regierungsbildung als problematisch erweist. Mehrere Treffen zur Regierungsbildung wurden bereits verschoben. Der zweitbeliebteste Slogan war „die Menschen wollen das Ende der Besatzung“ (24 Prozent). Der Ruf nach Gewalt und einer neuen Intifada wurde lediglich von zwei Prozent unterstützt.

Die Beteiligung an Demonstrationen gegen die israelische Besatzung blieb bisher gering. Doch waren die Bekundungen am 15. Mai, dem Tag der Staatsgründung Israels, die größten seit mehreren Jahren. Am 5. Juni, an dem 1967 der Sechs-Tage-Krieg ausbrach und Israel anschließend die Sinai-Halbinsel, die Golanhöhen, das Westjordanland inklusive Ost-Jerusalem und Gaza besetzte, gab es zum ersten Mal überhaupt größere Proteste. Bisher stieß dieser Tag lediglich in den Nachbarländern, die von Israel 1967 besiegt wurden, auf Resonanz. Mehrere zivile Gruppen sowie Präsident Abbas und Ministerpräsident Fayyad treten bereits seit langem für einen friedlichen Protest gegen die Besatzung ein. Verhandlungen werden dadurch aber nicht ausgeschlossen, da dieser Ansatz von der Palästinenserführung bereits seit mehreren Jahren praktiziert wird und es in dieser Zeit sowohl indirekte als auch direkte Gespräche mit Israel gab.

Auch radikalere Gruppen wie die Hamas oder der Islamische Jihad scheinen zumindest vorübergehend die Vorteile eines solchen Ansatzes zu akzeptieren. Seit dem Versöhnungsabkommen von Anfang Mai, das von mehr als einem Dutzend Gruppen akzeptiert wurde, gab es keinerlei Angriffe der Hamas. Radikale Kleinstgruppen aus Gaza feuerten dennoch mehrere Raketen bzw. Mörsergranaten auf Israel ab, die keinen Schaden anrichteten. Zivile Gruppen, wie die Bewegung vom 15. März, die bereits Tausende Palästinenser für eine Aussöhnung zwischen den Palästinenserparteien auf die Straße brachte, organisieren sich derweil über Internetplattformen wie Facebook, Twitter und YouTube. Dass diese Diskussionen nicht innerhalb einer privilegierten Elite stattfinden, zeigen die Mitgliedszahlen von Facebook, die der Arab Social Media Report der Dubai School of Government im Januar 2011 veröffentlichte. Ende 2010 waren über 474.000 Palästinenser dort registriert, was einem Bevölkerungsanteil von mehr als zehn Prozent entspricht – deutlich mehr als z.B. in Ägypten. Über 80 Prozent davon sind jünger als 30 Jahre.

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30. Juni 2011
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