Strahlend blauer Winterhimmel wölbte sich über Rom, als Giorgia Meloni im Innenhof des Apostolischen Palastes zu ihrem ersten offiziellen Besuch bei Papst Franziskus vorfuhr. Mitgebracht hatte sie ihren Lebensgefährten (die beiden sind nicht verheiratet) und ihre gemeinsame Tochter Ginevra. Ob der Pontifex dem Paar nahegelegt hat, endlich in den Stand der Ehe zu treten, war nicht zu erfahren. Aber das Gespräch soll nach Angaben des Vatikans in herzlicher Atmosphäre stattgefunden haben. Dabei sei es vor allem um den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und das heikle Thema Migration gegangen.
Doch wer meinte, hier müssten zwei unversöhnliche Sichtweisen aufeinanderprallen, sah sich getäuscht. Franziskus tritt bereits seit längerem für mehr europäische Solidarität ein, um Italien bei den Flüchtlingswellen übers Mittelmeer zu entlasten. Gesellschaftspolitisch stehen sich Vatikan und Premierministerin ohnehin nah.
Am Tag zuvor war die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, in Rom, am Tag danach Japans Premierminister Fumio Kishida. Noch am Nachmittag der Beisetzung von Papst Benedikt XVI. hatte EVP-Chef Manfred Weber Giorgia Meloni im Regierungspalast aufgesucht – das zweite Mal seit ihrem Amtsantritt. Interessant ist aber auch, für wen Meloni dieser Tage keine Zeit hatte: Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orban blieb (als er kurzfristig zur Aufbahrung Benedikts in die Ewige Stadt geeilt war) ein Treffen mit seiner italienischen Amtskollegin versagt.
Sicheres Auftreten und medial gewandt
100 Tage wird das Rechts-Bündnis mit Fratelli d’Italia, Lega und Forza Italia bald im Amt sein. Diese Zeitspanne gilt normalerweise als Schonfrist, zumal wenn die bisherige Opposition die Regierungsgeschäfte übernimmt und sich erstmal in die Ressorts einarbeiten muss. Angesichts der hochexplosiven internationalen Gemengelage, vom Krieg in der Ukraine über die Energiekrise bis hin zur Inflations- und Rezessionsgefahr, konnten sich Meloni und ihre Ministerriege keine langen Einarbeitungszeiten leisten. Noch dazu im langen Schatten eines Vorgängers wie Mario Draghi, der bis heute als internationales politisches Schwergewicht gilt.
Nicht nur die Opposition, auch so manche Protagonisten im eigenen Bündnis hatten darauf gelauert, dass Meloni bei der ersten Gelegenheit auf dem glatten internationalen Parkett ausrutschen werde und sich die Machtfrage in Rom neu stellen ließe. Fehlanzeige: Dass sie ihre sechsjährige Tochter Ginevra zum G20-Gipfel auf Bali mitnahm, weil ihr Partner, ein Fernsehjournalist, gerade andere berufliche Verpflichtungen hatte, war schon ziemlich das Äußerste an Kontroverse.
Auch persönlich hat Giorgia Meloni ihren Stil rasch gefunden. Dezent elegant eingekleidet in Hosenanzüge italienischer Modemacher, spricht sie mit ruhiger und sonorer Stimme in die Kameras. Statt fachlichem Polit-Kauderwelsch erklärende Worte auf den Punkt gebracht. In „Giorgia Melonis Tagebuch“, einem wöchentlichen Video-Podcast, geht sie mit den Bürgern auf Tuchfühlung. Dabei gibt sie auch Einblicke in etwaige Zweifel und Abwägungen bei politischen Entscheidungsprozessen – auf die Zuschauer wirkt sie dadurch authentisch und menschlich.
Thematisch lässt sie keine Gelegenheit aus, sich klar zu Italiens Verpflichtungen in NATO und EU zu bekennen. Beim Thema Ukraine steht Rom in vorderster Linie. Die Waffenexporte für Kiew haben in den letzten Monaten noch einmal deutlich zugenommen. Nicht zuletzt dank des offensichtlich guten persönlichen Verhältnisses zwischen EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und der Premierministerin sind ein paar notorische Reizthemen zwischen Rom und Brüssel, etwa die Verteilung von Migranten oder Änderungen am milliardenschweren EU-Wiederaufbauprogramm, bisher erstaunlich friedlich geblieben. Eine konstruktive Rolle spielt dabei Außenminister Antonio Tajani, der als ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments ein enger Ratgeber und Garant für ein möglichst geräuschloses Funktionieren der Beziehungen mit den EU-Partnern ist.
Gute Kooperation mit Staatschef Mattarella
An ihrer Seite hat die Premierministerin vorerst auch Staatspräsident Sergio Mattarella. Eigentlich hatten die Abgeordneten und Senatoren von Melonis Fratelli d‘Italia in der Wahlversammlung vor rund einem Jahr gegen eine Wiederwahl des populären Staatschefs gestimmt. Sie waren damals in der Opposition und gerade einmal mit 63 von 1009 Wahlmännern und Wahlfrauen vertreten. Doch Mattarella zeigte sich nicht nachtragend; nach ihrem eindeutigen Wahlsieg am 25. September beauftragte er Giorgia Meloni in Rekordzeit mit der Regierungsbildung. Die Kabinettsliste stimmten die beiden eng miteinander ab; der Präsident musste daher keinerlei Veto einlegen, wie er es 2018 bei der ersten Regierungsbildung von Fünf-Sterne-Bewegung und Lega unter Premierminister Giuseppe Conte getan hatte, als etwa ein notorischer Euro-Kritiker Finanzminister werden sollte.
Bisher verläuft die interne Abstimmung zwischen Quirinal und Palazzo Chigi geschmeidig. Mattarella habe, so heißt es, Meloni auf einen klar pro-europäischen Kurs eingeschworen, nachdem es im November einen diplomatischen Eklat mit Frankreich um die Anlandung von Flüchtlingsschiffen gegeben hatte. Präsident Emmanuel Macron hatte Meloni scharf angegriffen, Staatschef Mattarella griff zum Telefon und schlichtete. Es blieb bislang der einzige Schnitzer, den sich die Rechts-Regierung auf EU-Ebene geleistet hat. Die Scharfmacher in ihrem Kabinett, wie Lega-Chef und Infrastruktur-Minister Matteo Salvini oder dessen Vertrauten, Innenminister Matteo Piantedosi, hat Meloni erst einmal ruhiggestellt.
Noch vor ein paar Monaten wurden unter den römischen Beobachtern Wetten abgeschlossen, wie lange sich wohl Meloni im Sattel halten könne, bevor sie von Salvini und Berlusconi gestürzt werde. Heute fragt sich das im Regierungsviertel niemand mehr. Die Premierministerin hat ihren beiden Bündnispartnern den Schneid abgekauft. Putin-Freund Berlusconi musste sich der Demütigung unterziehen, sie in der Parteizentrale der Fratelli d’Italia um Entschuldigung für seine wirren Rechtfertigungsversuche des russischen Angriffs auf die Ukraine zu bitten; sonst wäre die Koalition geplatzt, bevor sie überhaupt begonnen hätte. Und Salvini musste nach dem desaströsen Wahlergebnis seiner Lega von nur 8 Prozent froh sein, überhaupt in einem Ministeramt unterkommen zu dürfen.
In Schach gehalten werden die beiden kleinen Partner zudem durch den Blick auf die Umfragen: Danach liegen die Fratelli d’Italia gegenwärtig bei 30-32 Prozent. Damit können die „Brüder Italiens“ nicht nur für italienische Standards als Volkspartei gelten. Forza Italia und Lega hingegen würden ihre historischen Tiefstwerte vom September noch einmal unterbieten. Dabei bräuchte Meloni gar nicht mal mit Neuwahlen zu drohen, sollte ein Koalitionär aus der Reihe tanzen: Mit dem „Terzo Polo“, jener sozialliberalen Formation von Ex-Premierminister Matteo Renzi und seinem früheren Wirtschaftsminister Carlo Calenda, stünde im Zweifelsfall ein weiterer Partner parat. In einer derart komfortablen Situation hat sich kein italienischer Premier seit zwei Jahrzehnten befunden.
Machtpolitisch wendig und pragmatisch
Charmant im Auftreten, konsequent in der Sache – in Rom unterschätzt kaum noch jemand Giorgia Meloni. In Ihrem Machtwillen und der Fähigkeit, ihre Gegner ins Leere laufen zu lassen, scheint ihre jahrzehntelange politische Erfahrung auf. Genauso im Pragmatismus, unbequemes politisches Gepäck mal eben über Bord zu werfen, wenn es beim Wähler keinen Nutzen mehr verspricht. Der Umbau des Staates in ein Präsidialsystem etwa, einer ihrer Wahlkampfschlager, ist auf der To-do-Liste merklich nach hinten gerutscht.
Das Stimmpotential von mehr als zwanzig Prozent, das ihre Fratelli d’Italia im September hinzugewonnen haben, dürfte Meloni keinesfalls verspielen wollen. Die meisten dieser Wähler sind ihr aus der katholisch-konservativen bürgerlichen Mitte zugewachsen, die inzwischen Salvini für zu ordinär und Berlusconi für zu korrumpiert halten. Diese Sehnsucht nach einer neuen Christdemokratie der rechten Mitte weiß Meloni zu bedienen.
Um das Wählerpotential für die Fratelli d’Italia jedoch auf einem Niveau um die 30 Prozent stabil zu halten, muss die bislang stramm rechtsnationale Partei zur Mitte rücken. Damit hat die Parteichefin bereits im Wahlkampf begonnen: Von den neofaschistischen Wurzeln ihrer Partei hat sie sich mehrmals deutlich distanziert und die Rassegesetze Mussolinis, die ab 1943 zur Deportation jüdischer Italiener in die Vernichtungslager führten, ohne jede Zweideutigkeit verurteilt. Als sie kürzlich die römische Hauptsynagoge im früheren Ghetto besuchte, wurde sie von den Vertretern der jüdischen Gemeinde demonstrativ herzlich empfangen.
Auf europäischer Ebene ist Meloni Vorsitzende der Parteienfamilie „Europäische Konservative und Reformer“ (ECR), zu der auch die polnische PiS und die spanische Vox gehören, früher auch die britischen Tories. Zur Fraktion der Antieuropäer von Marine Le Pen und AfD hielt sie stets Abstand. Stattdessen sucht sie demonstrativ die Nähe zur christlich-demokratischen Europäischen Volkspartei (EVP). Nicht von ungefähr hat sie deren Partei- und Fraktionschef Manfred Weber seit ihrem Amtsantritt bereits zweimal im Regierungspalast empfangen. Für Meloni ist es ein unschätzbarer Vorteil, den Wählern der bürgerlichen Mitte in Italien ihre Nähe zur EVP du damit zu den Christdemokraten zu zeigen. Zumal, wenn die Spitzen-kandidatin Ursula von der Leyen heißen sollte, die in Italien sehr beliebt und bestens bekannt ist. Es könnte für beide Seiten ein Gewinn sein.
Doch bleibt bei vielen Beobachtern in Rom die Frage, wer diese Giorgia Meloni wirklich ist und wie nachhaltig ihre Wandlung sein wird. Wird die seit ihrer Wahl zur Premierministerin seriös auftretende Politikerin eines Tages, nach dem Verlust der Macht, wieder zur derb polternden Populistin, als die sie die Italiener über viele Jahre hinweg allabendlich über die Fernsehnachrichten kennengelernt haben? Oder wird sie dauerhaft die geläuterte Staatsfrau geben, die sich ihrer politischen Verantwortung auch als ehemalige Regierungschefin und Vorsitzende einer rechtskonservativen Partei bewusst sein wird?
Opposition zersplittert und mit sich selbst beschäftigt
Von Seiten der Opposition hat die Regierung Meloni im Moment wenig zu fürchten. Der ehemals regierende Partito Democratico (PD) zerlegt sich derzeit in unzählige Flügel; eine klare Vision von der Zukunft fehlt bei fast allen Kandidaten des breiten Bewerberfelds, das sich um die Nachfolge des glücklosen Parteichefs Enrico Letta bemüht. Stattdessen verliert man sich in hypothetischen Bündnis-Diskussionen und Regularien; die Sozialdemokraten haben in den letzten zehn Jahren ähnlich viele Wechsel im Parteivorsitz wie Italien im Amt des Premierministers durchgeführt. Es ist diese endlose Selbstbeschäftigung, den PD in der Wählergunst immer tiefer abstürzen lässt. Im Parlament gibt man derzeit Fundamentalopposition – doch darin ist die Fünf-Sterne-Bewegung unter ihrem Chef Giuseppe Conte geübter und lautstarker: Die Linkspopulisten haben sich in aktuellem Umfragen mit 18 Prozent klar vor der Mitte-Links-Partei, die gerade einmal auf 14 Prozentpunkte kommt.
Im Februar stehen die ersten wichtigen Stimmungstests seit der Parlamentswahl an: In den wichtigen Regionen Lombardei (Mailand) und Latium (Rom) werden die Regionalparlamente und Gouverneure neu gewählt. Die Fratelli d‘Italia haben gute Chancen, die bisher vom PD gehaltene Hauptstadtregion zu erobern. Und in der Lombardei konkurriert die Lega, die bislang in Mailand regiert, mit einem bürgerlich-liberalen Bündnis. Sozialdemokraten und Fünf-Sterne liegen hier weit abgeschlagen. Für Giorgia Meloni hätten die ersten 100 Tage eigentlich nicht besser laufen können.