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Nach dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofes zu Kosovos Unabhängigkeit

Die politische Situation in Serbien

Erneut, so der Eindruck der Serben, wurde gegen ihr Land entschieden. Anders als vor zwei Jahren, als sich der Kosovo einseitig für unabhängig erklärte und dabei von wichtigen westlichen Staaten unterstützt wurde, blieb die Lage diesmal jedoch ruhig. Keine Ausschreitungen, keine Demonstrationen. Während das politische Belgrad weiterhin die Zugehörigkeit Kosovos zu Serbien beschwört, überwiegt offenbar in der Bevölkerung Ernüchterung und Resignation bezüglich der Kosovofrage.

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Die eindeutige Stellungnahme aus Den Haag für Pristinas Unabhängigkeit kam für Belgrad völlig unerwartet. Nachdem es der serbischen Regierung gelungen war, nach der unilateralen Unabhängigkeitserklärung des Kosovos vom 17. Februar 2008 in der UN-Vollversammlung eine Mehrheit für die Beauftragung des Internationalen Gerichtshofes (IGH) zu einem Gutachten zu bewegen, wurde dies zunächst als diplomatischer Erfolg gewertet. Die auf den ersten Blick einfache Fragestellung Serbiens an den Gerichtshof lautete: „Steht die unilaterale Unabhängigkeitserklärung der provisorischen Selbstverwaltung des Kosovos im Einklang mit internationalem Recht?“

Die Hoffnung auf serbischer Seite ruhte dabei auf folgender Überlegung: Durch die Unabhängigkeitserklärung wollte Belgrad einen Verstoß gegen die Resolution 1244 von 1999 aufzeigen, da in dieser die UN-Verwaltung über das Kosovo bestimmt, die endgültige Statusfrage der damaligen Teilrepublik Jugoslawiens jedoch nicht eindeutig geregelt wird.

Mit dem jetzt veröffentlichten (rechtlich aber nicht bindenden) Gutachten zerstörte der IGH diese Hoffnung: Er unterscheidet zwischen der Unabhängigkeitserklärung an sich und der Frage, ob der Kosovo tatsächlich ein unabhängiger Staat sei. Dass hier die UN-Verwaltung im Sinne der Resolution 1244 nach wie vor arbeitet und diese damit unverändert Gültigkeit besitzt, stellte das Gericht dessen ungeachtet fest.

Unabhängig davon, dass somit die für viele eigentlich entscheidende Frage (die nach dem tatsächlichen Staatscharakter des Kosovos fragen würde) umgangen wurde, hatte man sich in Belgrad durch die recht offene Formulierung an den IGH einen Vorteil und größeren Gebrauch vom Interpretationsspielraum des Gerichtes erhofft. Doch das Gericht sah die Behandlung der Staatscharakterfrage in diesem Fall als nicht entscheidend an. Versteht man das Gutachten auf diese Weise, gab Den Haag insofern nur eine „Mindestantwort“, um Probleme, die politisch gelöst werden müssen, der Politik zu überlassen.

Reaktionen der serbischen Politik

Bereits unmittelbar nach Verkündung des Urteils unterstrich Serbiens Außenminister Jeremic: „Wir werden niemals die Unabhängigkeit des Kosovos anerkennen“. Präsident Boris Tadic bekannte, dass dies eine „harte Entscheidung für Serbien“ sei. Er entsandte bereits am folgenden Wochenende 55 Sonderbeauftragte in die Länder, die dem Kosovo bislang ihre Anerkennung verweigert haben (u. A. Spanien, Slowakei, Zypern, Israel). Hier will man Überzeugungsarbeit leisten, um deren bisherige Haltung zu untermauern.

Nach einer außerordentlichen Sitzung und elfstündiger Debatte im Parlament am Montag nach der Verkündung des Gutachtens, verabschiedete die Volksvertretung mit einer deutlichen Mehrheit von 192 der 220 Stimmen eine Resolution, die die Kosovo-Strategie der Regierung in dieser Frage auch zukünftig umfassend unterstützt. Diese beinhaltet die Absicht zu weiteren Verhandlungen mit Pristina und die Einbringung einer Resolution bei der UN-Generalversammlung, sowie die gleichzeitige Fortführung der „Blockadediplomatie“ gegen die Anerkennung Pristinas durch weitere Staaten.

Die serbische „Niederlage“ wurde dennoch von den meisten Oppositionsparteien für Vorwürfe gegen Tadic und sein Kabinett genutzt. Seine Politik habe die Bevölkerung im Hinblick auf das „getäuscht“, was man vom IGH habe erwarten können, gab der Vorsitzende Nikolić der nationalistischen „Fortschrittspartei“ an. Ebenso wie die zweitstärkste Oppositionspartei der „Radikalen (SRS) stimmte er dennoch für die Parlamentsresolution und stärkte damit Tadic und seiner Regierung ungewollt den Rücken. Denn die mit einer derartigen Mehrheit verabschiedete Resolution hat den innenpolitischen Druck auf den Präsidenten abgewendet, politische Konsequenzen aus dieser Niederlage zu ziehen. Dies hatte Ex-Premier Kostunicas DSS gefordert, die gegen die Resolution stimmte.

Doch allein die Liberaldemokratische Partei Serbiens (LDP), der andere Resolutionsverweigerer, forderte mutig einen generellen politischen Kurswechsel in der Kosovofrage - unter Anerkennung der politischen Realität.

Wie reagieren Serbiens Bürger?

Doch Serbiens Europapolitik bleibt wohl vorerst unverändert und muss auch künftig den Spagat üben: Einerseits den Willen zur EU-Mitgliedschaft insbesondere aufgrund der wirtschaftlichen Perspektiven und politischen Stabilität umsetzen; andererseits den Stolperstein Kosovo nicht aus dem Weg nach Brüssel räumen zu wollen.

Die serbische Bevölkerung scheint dabei ebenfalls zweigeteilt: die ältere Generation in Serbien erinnert sich noch lebhaft an die NATO-Bombardierungen 1999 und versteht die Abtrennung Kosovos weiterhin mehrheitlich als Ausdruck der anti-serbischen Politik des Westens. Man erinnert sich an die schmerzhaften wirtschaftlichen Sanktionen, Visaverbote und vor allem die menschlichen Verluste und Opfer. Zwar ist man mittlerweile auch durchaus bereit, die eigenen Fehler der Vergangenheit anzuerkennen. Doch ist die Auffassung weit verbreitet, dass der Westen bei den anderen Balkanstaaten mit einem anderen Maß misst als bei Serbien. Darüber hinaus erinnert sich die ältere Generation noch an das alte Jugoslawien und an ein Kosovo, in dem noch vor 50 Jahren die Serben rund 25% der Bevölkerung stellten. Insofern erscheint die Unabhängigkeit wie ein „Diebstahl“ vom eigenen Land und als eine Abstrafung für Fehler, für die man sich nicht ausschließlich alleine in der Verantwortung sieht.

Dagegen bemerkt man bei der jüngeren Bevölkerung einen eindeutig pragmatischen und weitgehend emotionslosen Umgang mit der Kosovofrage. Denn die wenigsten jungen Serben waren in ihrem Leben jemals dort oder haben familiäre Verbindungen dorthin. Der Kosovo wird häufig von der Jugend als das gesehen, was er teilweise tatsächlich ist: Armenhaus Europas und Umschlagplatz für die organisierte Kriminalität. Warum sollte man sich also dafür einsetzen, dass dies (wieder) ein Teil von Serbien wird? Der Blick Richtung Europa, mit all den Möglichkeiten, die die Integration verspricht, scheint dabei im Vergleich viel verlockender.

Und auch die serbischen Medien reflektierten die unterschiedliche Betrachtungsweise von Politik und Bevölkerung: Obgleich die Überschriften einiger (nicht-staatlicher) Medien martialisch erschienen, wurde jedoch auch nicht mit Kritik an der Regierung gespart. Die Regierung wurde für ihre Naivität und für ihre Wahl der diplomatischen Mittel kritisiert, doch wird auch die Neutralität und politische Unvoreingenommenheit des IGHs stärker in Zweifel gezogen, als dies bei westlichen Medien der Fall war.

Politische Starrköpfigkeit?

Doch warum bleibt auch nach dem Gutachten die außenpolitische Linie Belgrads hinsichtlich Kosovos so unnachgiebig? Warum hält die Politik an der herkömmlichen Haltung zur Frage so fest, wenn doch ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung offensichtlich „europäische“ Prioritäten der Regierung umgesetzt sehen will? Hauptgrund hierfür erscheint der verfassungspolitische Bezug der Kosovofrage zu sein. Da die territoriale Integrität Serbiens einschließlich des Kosovos in der Verfassung niedergeschrieben ist, will sich kein Entscheidungsträger vorwerfen lassen, an dieser Stelle die Verfassung nicht zu achten – oder sogar, populistisch ausgedrückt: zu verraten. Das heißt, auch wenn man begreift, dass es wohl bei der Unabhängigkeit Kosovos bleiben wird, so antwortet man offiziell doch bestenfalls „ausweichend“. Die Frage ob man am Kosovo festhalten sollte, stellt deswegen in Serbien nahezu keine Partei öffentlich, auch wenn es immer weniger Bürger zu interessieren scheint. Denn der politische Gegner würde eine derart wichtige Politikänderung medienwirksam instrumentalisieren.

Konsequenzen für Serbiens EU-Ambitionen

Belgrads Regierung muss jetzt klären, wie sie den EU-Kurs forcieren will und gleichzeitig mit dem Kosovo umgeht. Ihr Resolutionsentwurf für den UN-Sicherheitsrat berücksichtigt jedenfalls kaum die notwendigen Lehren aus dem Gutachten, dieses als ersten Schritt zu einem für die EU-Integration notwendigen, pragmatischeren Umgang mit der kosovarischen Unabhängigkeit zu nutzen.

Doch eine Tatsache bleibt hierbei positiv hervorzuheben: Unzweifelhaft ist mittlerweile, dass bestehende Konflikte auf dem Balkan ausschließlich diplomatisch mit den Mitteln gelöst werden, die die internationale Gemeinschaft anbietet - und nicht länger mit kriegerischen Mitteln. Zwar könnte auch dies mittlerweile als Selbstverständlichkeit erscheinen, jedoch darf nicht vergessen werden, dass der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens erst vor rund zehn Jahren ein Ende fand. Dies macht die jetzige Entwicklung und Politik Belgrads angesichts der zu beobachtenden, ausschließlich diplomatisch stattfindenden Auseinandersetzungen, bemerkenswert.

Konsequenzen für die Region des westlicher Balkan

Pristina zeigt sich jetzt versöhnlich: Während in den Straßen Pristinas die Kosovaren das Gutachten des IGH mit Autokolonnen und Jubel feierten, bemüht sich die dortige Regierung seither um bessere Beziehungen zu Belgrad. Direkt im Anschluss an die Entscheidung bot Außenminister Hyseni der serbischen Regierung Gespräche an, stellte aber gleichzeitig klar, dass dies jetzt nur noch „gleichberechtigt“ geschehen könne. In den Reaktionen der wichtigsten Amtsträger wurde davon abgesehen, den Anlass zu einer Schelte für die serbische Politik zu nutzen. Man bemühte sich um einen versöhnlichen, kooperativen Ton. Dies sind auch gewiss die Worte, die man von kosovarischer Seite, aus Berlin, London, Paris oder auch Washington hören möchte: Bloß kein weiteres Öl ins Feuer gießen. Im Kosovo erhofft man sich durch das Gutachten nun Rückendeckung für die Unabhängigkeit und weitere Anerkennungen seitens anderer, bislang vielleicht abwartender Staaten.

Mit Spannung wird in Zukunft die Entwicklung der serbischen Minderheit im Norden des Kosovos zu beobachten sein. Hier blieb die Lage nach Verkündung des Urteils ebenfalls ruhig. Zwar gibt es weiterhin einzelne Bestrebungen, sich an Serbien anzugliedern oder sich gar autonom zu verwalten - stützend auf die von Belgrad im Norden Mitrovicas geschaffenen Parallelstrukturen. Doch nehmen immer mehr Serben ihre Minderheitenrechte und Vertretungsmöglichkeiten im kosovarischen Staate wahr.

Während Albaniens Außenminister jetzt von einer „abgeschlossenen Sache“ hinsichtlich Kosovos Unabhängigkeit spricht, äußerte sich der oberste Vertreter der bosnischen Serben in Bosnien-Herzegowina (BiH), Milorad Dodik, ambivalent zu möglichen Bestrebungen der serbischen Teilrepublik für mehr Eigenrechte als Folge des Gutachtens. Den Haags Stellungnahme wird auch deshalb für die Region des westlichen Balkan relevant bleiben – insbesondere aber auch für die Erweiterung der Europäischen Union.

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22. Juni 2010
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