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Länderberichte

Mega-Skandal überschattet den Wahlkampf in Venezuela

von Dr. Georg Eickhoff

Eine Mischung aus Inkompetenz und Korruption drängt Präsident Hugo Chávez in die Defensive

Nach aktuellen Umfragen startet Revolutionsführer Chávez mit deutlichem Rückstand gegenüber dem Oppositionsbündnis „Mesa de Unidad“ („Tisch der Einheit“) in die heiße Phase des Wahlkampfes. Am 26. September werden gut 17 Millionen Venezolaner die 165 Abgeordneten ihres Einkammerparlamentes wählen. Ein politischer Skandal nimmt indessen immer größere Ausmaße an: Staatliche Handelsketten bringen verdorbene Lebensmittel in Umlauf, Funktionäre kassieren Millionen-Kommissionen und zahlen für Waren, die nicht geliefert werden.

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Im Juli 2010 wurde in Venezuela im Bereich Ernährung eine Jahresinflation von 49 Prozent gemessen. Deshalb hat die staatliche Handelskette PDVAL, die subventionierte Lebensmittel anbietet, eine wichtige Funktion für die arme Bevölkerung. Das Vertrauen der Verbraucher hat jedoch stark gelitten, als bekannt wurde, dass der Staat selber Nahrungsmittel nach Ablauf der Haltbarkeit mit neuem Verfallsdatum versehen und in den Handel gebracht hat. Der Einkauf von Lebensmitteln, deren Verfallsdatum kurz bevorsteht und die deshalb billiger sind als von den Einkäufern angegeben, bietet Gelegenheit zu Korruption.

Rund 170.000 Tonnen verdorbene Nahrungsmittel wurden im Verlauf der letzten Wochen in verschiedenen Lagerstätten gefunden. Ein Bericht der internen Revision des staatlichen Handelskonzerns, der am 29. Juli bekannt wurde, führt aus, dass im ersten Halbjahr 2008 rund 790.000 Tonnen Lebensmittel bezahlt, aber von den überwiegend argentinischen Anbietern, nicht geliefert wurden. Von der Gesamtmenge der bezahlten Waren seien nur 14 Prozent in die Läden gelangt, so der Revisionsbericht des Staatsbetriebs.

Das Ende des „Teflon-Effekts“?

Ein weiterer Aspekt des inzwischen weit verzweigten Mega-Skandals ist die Überlastung der Häfen des Landes, die von einem Unternehmen mit kubanischer Kapitalmehrheit verwaltet werden. Auf Befehl des Revolutionsführers Hugo Chávez wurde im August 2009 der umfangreiche Handel mit Kolumbien nahezu eingestellt. Die Lebensmittelimporte, die weit über 50 Prozent des venezolanischen Gesamtverbrauchs ausmachen, kommen deshalb nicht mehr auf dem Landweg über die kolumbianische Grenze, sondern werden – zumeist aus Brasilien oder Argentinien stammend – in den Häfen von Puerto Cabello und La Guaira umgeschlagen. Die Hafenlogistik, die wegen Ersatzteilmangel nur teilweise einsatzfähig ist, arbeitet mit wochenlangen Wartezeiten.

Ähnliche Erscheinungen von Ineffizienz, Korruption und Verfall der Infrastruktur treten bei der Elektrizitätsversorgung, im Gesundheitswesen und beim öffentlichen Nahverkehr auf. In der Untergrundbahn von Caracas kam es in den letzten Wochen in liegen geblieben Zügen zu massenhaftem aggressiven Verhalten. Die Fahrgäste zerstörten Waggons und flüchteten durch Tunnels und über die Gleise. Die Mischung aus Panik und Protest wurde punktuell mit Einsatz des Militärs eingedämmt.

Der sogenannte „Teflon-Effekt“, wonach die Schuld nicht am Führer kleben bleibt, scheint in seinem zwölften Regierungsjahr zu schwinden. In aktuelle Umfragen wird Präsident Chávez von einer Mehrheit der Bevölkerung für die Alltagsprobleme verantwortlich gemacht. Das gilt übrigens nicht in gleichem Maße für das in allen Befragungen meistgenannte Hauptproblem der Gewaltkriminalität. Die kriminellen Täter selbst seien schuld. Dass über 90 Prozent der Tötungsdelikte in Venezuela unbestraft bleiben, schlägt sich im Meinungsbild der Bevölkerung nicht im erwarteten Umfang nieder.

Wie in früheren Wahlkämpfen – so sehen das zahlreiche professionelle Beobachter – setzt Revolutionsführer Chávez auf groß angelegte Ablenkungsmanöver. Er beschwört die Kriegsgefahr mit dem Nachbar Kolumbien herauf. Er greift die Katholische Kirche an und inszeniert mit der Exhumierung der sterblichen Überreste des Nationalhelden Simón Bolívar (1783–1830) eine patriotische Haupt- und Staatsaktion, bei der am Ende nicht klar wird, wer auf diesem Narrenschiff eigentlich der obligatorische „Hanswurst“ ist.

Wurde Simón Bolívar ermordet?

Nach der – von der Geschichtswissenschaft nicht geteilten – Ansicht von Hugo Chávez wurde Simón Bolívar am 17. Dezember 1830 von der kolumbianischen Oligarchie ermordet. Deshalb wird sein am 16. Juli 2010 erstmals im Fernsehen gezeigtes und mit Drahtverbindungen fein hergerichtetes Skelett jetzt auf Spuren von Arsen untersucht. Die Professoren der Nationalen Akademie der Geschichte halten das Spektakel allerdings für überflüssig und sakrilegisch und haben dies in einer offiziellen Erklärung aktenkundig gemacht. Alles was es an den Überresten von Bolívar zu erforschen gebe, sei bereits diskret und respektvoll erledigt worden.

Der Streit mit dem Erzbischof von Caracas, den der Revolutionsführer im Rahmen des Staatsaktes am Nationalfeiertag, dem 5. Juli, als „Höhlenmenschen“ tituliert hatte, schien beendet, als der Kirchenmann am 27. Juli der Nationalversammlung Rede und Antwort stand. Er begründete seine einen Monat zuvor gemachten Interview-Äußerungen, wonach Venezuela auf dem Weg in die Diktatur sei. Der Kardinal führte acht in den letzten zwei Jahren verabschiedete Gesetze auf, die seiner Meinung nach nicht mit der Verfassung vereinbar, sondern von einem „marxistischen Totalitarismus“ inspiriert seien. Dennoch äußerte sich die Parlamentspräsidentin nach der fünfstündigen Sitzung hinter verschlossenen Türen zunächst zufrieden. Man sei zum gegenseitigen Respekt zurückgekehrt.

Befremdlich, aber nicht überraschend wirkte danach eine Resolution der Nationalversammlung, die am 30. Juli in der Presse veröffentlicht wurde. Das Parlament beschloss, die „politische Aggression“ des Kardinals zurückzuweisen, der als Agent der Opposition sein Amt missbrauche. Außerdem beauftragten die revolutionären Parlamentarier die Regierung, den Vertrag mit dem Vatikan aus dem Jahr 1964 überprüfen zu lassen, was Präsident Chávez bereits im Rahmen einer Wahlkampfveranstaltung angeordnet hatte. Schließlich sollten diplomatische Mittel geprüft und angewendet werden, um die Berufung von Kardinal Urosa zum Erzbischof von Caracas zu revidieren.

Plant Kolumbien einen Krieg?

Ähnlich operettenhaft wirkt der Konflikt mit Kolumbien. Nachdem der scheidende kolumbianische Präsident Álvaro Uribe angebliche Beweise für die Existenz von verschiedenen Lagern kolumbianischer Rebellen auf venezolanischem Territorium vorgelegt hatte, brach Präsident Chávez die diplomatischen Beziehungen ab, was er bei einem gemeinsamen Pressetermin mit dem argentinischen Fußballstar Diego Maradona verkündete. Er spricht seither täglich vom unmittelbar bevorstehenden Krieg zwischen Kolumbien und Venezuela, der den Aggressionsplänen der USA gegen Venezuela diene. Wie schon etwa 50 Mal in den letzten Jahren werde gegenwärtig wiederum von den USA, Kolumbien und der einheimischen Opposition geplant, ihn zu ermorden.

Beobachter – auch aus dem Regierungslager – formulieren die Ansicht, dass diese mit erheblichem Medieneinsatz vorgetragenen Themen bei der Wahlbevölkerung entweder mit einem Schulterzucken bedacht werden oder sich in einer inzwischen in allen sozialen Schichten verbreiteten Kurzdiagnose niederschlagen: „Está loco – Er ist verrückt.“ Soziologen und Meinungsforscher sprechen hingegen im Anschluss an Max Weber vom „verblassenden Charisma“ des Revolutionsführers.

Die mit wachsender Spannung verfolgten Umfragen deuten auf eine wahrscheinliche Enthaltung zahlreicher bisher dem Chavismus zuneigender Wähler. Die Opposition rechnet sich bei einer hohen Wahlbeteiligung dagegen gute bis sehr gute Chancen aus. Das Wählerverhalten könnte dem des Verfassungsreferendums vom 2. Dezember 2007 gleichen. Damals siegte die Opposition mit knappem Vorsprung, weil offenbar viele Anhänger des Präsidenten nicht zur Wahl gingen. Allerdings hat die Wahlbehörde bis heute kein offizielles Abstimmungsergebnis dieses Referendums veröffentlicht. Der deutschstämmige venezolanische Schriftsteller und Politiker Arturo Uslar Pietri hat im Jahr 1947 den Begriff des „magischen Realismus“ für eine Strömung der lateinamerikanischen Literatur geprägt. Heute wird der Begriff in Venezuela häufig auf das politische System, insbesondere auf den Realitätsbezug der Wahlbehörde (Consejo Nacional Electoral, CNE) angewendet.

Wie vertrauenswürdig ist die Wahlbehörde?

Die Präsidentin des CNE Tibisay Lucena erklärte am 15. Juli einer Gruppe von chilenischen Senatoren, die beschlossen hatten, eine Beobachtermission nach Venezuela zu entsenden, dies sei eine Einmischung in die innerer Angelegenheiten Venezuelas. Außerdem, so die Präsidentin des Verfassungsorgans, seien die Senatoren „doof“ (estúpidos).

Man hat sich bereits daran gewöhnt, dass die Wahlbehörde keine den internationalen Standards entsprechende Überprüfung des Wählerregisters zulässt. Es gibt keinen Mechanismus, der den Nachweis erbringen könnte, dass alle im Register geführten Personen auch tatsächlich existieren. Experten sprechen von Hunderttausenden „Geisterwählern“, deren Stimmen die Wahlbehörde in einem ausgeklügelten System im Sinne der Revolution verwalte und am Wahltag mit verschiedenen Mechanismen zuweise. Nur die Überwachung jedes einzelnen Wahllokals verspreche ein halbwegs realistisches Ergebnis, so die Verantwortlichen des demokratischen Bündnisses „Mesa de Unidad“. Der Schlüssel zum Erfolg liege in der Mobilisierung von über 100.000 Freiwilligen als Zeugen des Wahlgangs. Trotz der anscheinenden Übermacht der Regierung und ihrer täglich sichtbaren Skrupellosigkeit im Einsatz staatlicher Mittel für den Wahlkampf hört man zwar vereinzelte, aber doch ernst zu nehmende Stimmen, die für den 26. September einen politischen Erdrutsch voraussagen.

Wer hat die Mehrheit?

Nach 20 Jahren als Rektor der Jesuitenuniversität von Caracas wird sich Pater Luis Ugalde SJ, Doktor in Moderner Geschichte, ab Oktober neuen Aufgaben zuwenden. In den wilden Sechzigern studierte er in Frankfurt am Main (als zum Beispiel der heutige deutsche Botschafter in Venezuela Georg-Clemens Dick zusammen mit Joschka Fischer – jedoch bereits krawattetragend –durch die Frankfurter Straßen zog). Ugalde ist heute eine moralische Autorität in Venezuela, und sein Wort hat Gewicht. Über die Gefahren eines unfairen Wahlkampfes will er nicht schweigen. Trotzdem macht er seinen Mitbürgern mit einem historischen Beispiel Mut: „Der schon zur Gewohnheit gewordene Machtmissbrauch der Regierung und die Verwendung öffentlicher Mittel im Wahlkampf wird noch zunehmen. Aber das mobilisierte und organisierte Bewusstsein der Mehrheit – dasselbe, das die Berliner Mauer eingerissen hat – ist stärker.“ (El Nacional, 29. Juli 2010)

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