Darin wiederholte Sofia Bekatorou, ehemalige griechische Olympiasiegerin im Segeln, ihre erstmals im November 2020 öffentliche Anschuldigung gegen einen führenden Funktionär des nationalen Segelverbandes, sie im Vorfeld der Olympiavorbereitung 1998 missbraucht zu haben. Erst ihr Interview in der augenscheinlich vielgelesenen Modezeitschrift konnte eine Mauer des Schweigens durchbrechen, die offenbar jahrelang gehalten hatte. Infolgedessen ist eine Solidaritätswelle für Bekatorou entstanden, die weitere Opfer von Missbrauch ermutigt hat, an die Öffentlichkeit zu gehen. Die MeToo-Debatte, die bereits seit 2017 weltweit für Aufsehen sorgt, ist damit endlich auch in Hellas angekommen.
Die Politik reagiert
Die Staatsspitze hat die Brisanz des Themas und die Notwendigkeit einer offenen Diskussion darüber erkannt. Sowohl Staatspräsidentin Sakerallopolou als auch Premierminister Mitsotakis suchten das Gespräch mit Bekatorou, im Parlament wurde über die Problematik debattiert. Die Regierung hat umgehend Gesetzesnovellen vorbereitet: Die Einrichtung eines zentralen Webportals (metoo.gov.gr) zur Information und Beschwerdeerhebung ist geplant, verschärfte Überprüfungen aller Fachkräfte, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, sollen kommen. Kaum zu glauben, aber ab September 2021 soll endlich auch Sexualkunde landesweit Einzug in die Schulbildung halten. Des Weiteren sollen jetzt internationale Übereinkommen wie das der ILO gegen Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz zügig ratifiziert werden. Darüber hinaus soll bei der Verwendung der Mittel des kommenden Corona-Wiederaufbaufonds – wo möglich – gezielt auf den Ausbau der Chancengleichheit geachtet werden.
Doch nicht alles hat die Regierung bisher richtiggemacht. Nachdem die MeToo-Welle vom Sport dann auch in das Kulturwesen hinübergeschwappt ist, sorgt der Fall des (mittlerweile zurückgetretenen) künstlerischen Direktors des Nationaltheaters, Dimitris Lignadis, für politische Konfrontationen. Ihm wird vorgeworfen, über Jahrzehnte hinweg junge Schauspieler und Minderjährige missbraucht zu haben. Er wurde im Herbst 2019, kurz nach dem Antritt der neu gewählten Regierung und ohne eine sonst übliche Ausschreibung, in sein Amt berufen. Die Ministerin für Kultur, Lina Mendoni, steht nun in der Kritik, nachdem sie anfangs die Anschuldigungen gegen Lignadis heruntergespielt und sein Ernennungsverfahren verteidigt hatte. Die Opposition verlangt den Rücktritt Mendonis, doch der Premier hat sich hinter seine Ministerin, nur eine von sehr wenigen Frauen in der Regierung, gestellt.
Gleichberechtigung – in der Praxis noch lange nicht erreicht
Denn in der griechischen Gesellschaft besetzen Frauen äußerst selten herausgehobene Positionen. Die Ernennung Katerina Sakellaropoulous zur neuen Staatspräsidentin Anfang 2020 war deshalb ein wichtiges Signal. Es war außerdem die Reaktion von Regierungschef Mitsotakis auf inländische und internationale Kritik, zu wenig Frauen bei der Besetzung wichtiger Posten (z.B. auch bei der Ernennung des griechischen Kandidaten für die EU-Kommission) berücksichtigt zu haben. Klar ist: Griechenland ist bisher traditionell patriarchalisch geprägt. Das spiegelt sich sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft wider: Nur zehn von 56 Regierungsmitgliedern sind Frauen, 22 Prozent der Abgeordneten im Parlament sind weiblich (in Deutschland: 31 Prozent), nur zwölf Prozent der Unternehmensvorstände sind von Frauen besetzt; in der Bundesrepublik sind es immerhin 36 Prozent. Obwohl 41 Prozent aller Hochschulabsolventen weiblich sind, kümmert sich meist die Frau um Haushalt und Kinder. Einen entsprechenden Niederschlag hat das auch in den Zahlen der griechischen Statistikbehörde: 2020 lag die Arbeitslosenquote bei Frauen bei 20 Prozent, bei Männern „nur“ bei 13 Prozent; in Deutschland sind 5,5 Prozent der Frauen und 6,3 Prozent der Männer arbeitslos. Der „Gender Pay Gap“ liegt bei über 20 Prozent zulasten der weiblichen Erwerbstätigen. Kaum verwunderlich also, dass Hellas im Gender Equality Index mit 52.2 von 100 Punkten im europäischen Vergleich (EU: 67,9) den letzten Platz belegt.
Missbrauch – keine Seltenheit
Aktuellen Daten der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) zufolge wird jede zweite griechische Frau mindestens einmal im Leben sexuell belästigt. Doch vor Sofia Bekatorou trauten sich die wenigsten, von Missbrauch zu erzählen. Warum? Der Fall der Olympionikin macht es deutlich: Ihr Vorwurf bei der Staatsanwaltschaft vergangenen November wurde wochenlang ignoriert. Erst ihr Interview bei „Marie Claire“ und ihr Auftritt bei einer Online-Konferenz des Sportministeriums, die die öffentliche Aufmerksamkeit erreichten, zwangen die Behörden zum Reagieren. Bisher konnten Opfer sexueller Übergriffe nicht auf die strafrechtliche Ahndung bauen. Das griechische Justizsystem arbeitet notorisch langsam. Hinzu kommt in vielen Missbrauchsfällen eine Verjährungsfrist nach fünfzehn Jahren.
„Eine Krise mit dem Gesicht einer Frau“
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, benutzte diese Beschreibung, um auf die großen Ungleichheiten mit Blick auf die Geschlechtergerechtigkeit aufmerksam zu machen, die die Coronakrise weltweit hervorgerufen hat. So ist es auch in Griechenland bezeichnend, dass mehr Frauen als Männer an der vordersten Front bei der Bekämpfung von Corona stehen: 178.000 Frauen arbeiten in Gesundheits- und Pflegediensten; bei den Männern sind es rund 100.000. Gleichzeitig zeigen neueste Statistiken, dass das ohnehin schon große Lohngefälle zwischen den Geschlechtern sich zuletzt weiter vergrößert hat. Die Frauen sind zudem mehrheitlich diejenigen, die aufgrund von Lockdown und Homeschooling beruflich kürzertreten müssen.
Doch das Gesicht der Olympiasiegerin von Sydney im Jahr 2000 ist jetzt, über zwanzig Jahre später, jedem Griechen bekannt. Es steht für die Überwindung überkommener Strukturen. Die Reaktionen der Politik zollen dem Rechnung. Jetzt ist es an den Meinungsführern in der öffentlichen Debatte, aber auch an jedem Einzelnen, die richtigen Lehren aus Bekatorous Erfahrungen und denen zahlreicher anderer Frauen zu ziehen. Die Zeichen stehen gut, dass das neu gewonnene Bewusstsein für Missbrauch und andere Ungerechtigkeiten in Griechenland einhergeht mit der systematischen Förderung von Frauen hin zu einer modernen, geschlechtergerechten Gesellschaft.