Der gereifte Grieche
Erinnert man sich an die Berichterstattung der vergangenen Jahre über Griechenland, kommen einem die Finanzkrise, die Rettungsschirme und die Migrationskrise in Erinnerung. Doch das Land und seine Menschen haben sich gewandelt. In diesen Wochen des weltweiten Ausnahmezustandes, der Ausgangssperren und der persönlichen Einschränkungen sind viele Bürger selbst überrascht über das neue Griechenland: über die Disziplin, mit der den Anweisungen der Regierung Folge geleistet wird, über die Regierung selbst, die mit kühlem Kopf die Ratschläge ausgewiesener Experten politisch umsetzt sowie über die allgegenwärtigen Helden des Alltags, die das Land am Laufen, seine Bevölkerung versorgt und die Kranken umsorgt halten. Medienübergreifend wird von einer neuen und durch die vorhergegangene Krise auf harte Weise gewonnenen Reife der Menschen gesprochen. Die erfolgreiche Bekämpfung der Ausbreitung von Covid-19, die Wirkung der getroffenen Maßnahmen, die Schnelle und Transparenz der politischen Entscheidungen und deren Umsetzung haben etwas freigesetzt bzw. etwas erreicht, was die Griechen seit Jahren nicht mehr kannten: Vertrauen und Zuversicht. Die anerkannte Denkfabrik Dianeosis stellt in ihrer vor einer Woche veröffentlichten und weit beachteten Umfrage fest: Inmitten einer nie dagewesenen Gesundheitskrise verspüren 40 Prozent der Befragten jetzt Optimismus, zusätzliche 25 Prozent fühlen sich sicher. Das sind die bei weitem höchsten Werte der vergangenen Jahre. Fast neun von zehn Befragten (85,7%) finden, ihr Land bewege sich in die richtige Richtung. Viele erwarten auch langfristig positive Effekte: nicht nur die Verbesserung des staatlichen Gesundheitssystems (75,3%), sondern auch mehr Solidarität (66,8%) und Vertrauen in das politische System (57,2%).
Vertrauen als hohes politisches Gut
Letzteres, Vertrauen, ist die wichtigste Währung jeden Politikers, und es war lange Jahre abwesend in Hellas. Jetzt – und in starkem Gegensatz zu seinen Vorgängern – haben Premier Mitsotakis und seine Regierung Zustimmungswerte von über sechzig Prozent. Er hat parteiübergreifenden Rückhalt.
Dazu beigetragen hat neben dem frühzeitigen, transparenten und entschlossenen Ergreifen von diversen Vorsichtsmaßnahmen vor allem der Erfolg der neuen digitalen Verwaltung. In den sogenannten „Memorandums-Jahren“ hatten sich viele Vertreter der sogenannten Troika die Zähne daran ausgebissen, den griechischen Staat effizienter machen zu wollen. Jetzt plötzlich sehen die Bürger, dass es funktioniert. "Wir haben einen digitalen Staat in wenigen Wochen aufgebaut", so Mitsotakis kürzlich in einem Interview mit der Tageszeitung Kathimerini. "Wir haben Dinge in Tagen geschafft, für die wir uns eigentlich zwölf Monate vorgenommen haben. Und das werden wichtige Waffen für die Zukunft sein."
Die Vorziehung und Beschleunigung geplanter Reformen im digitalen Bereich haben dazu geführt, dass unverzichtbare Verwaltungsdienstleistungen jetzt über eine einheitliche Regierungswebsite abgerufen werden können, Ärzte Krankenrezepte online ausstellen und – die wohl wichtigste Errungenschaft für gestresste Eltern – der Schulunterricht sämtlicher Klassenstufen fast geräuschlos aufs Internet verlegt werden konnte.
Chancen aus der Krise
Auch wenn die Umfragewerte nur eine Bestandsaufname sind und der bisherige Verlauf der Coronakrise vielleicht nur die erste Phase in der Bekämpfung des Virus ist: Der Digitalisierugsschub hat viele Griechen darin bestärkt, nicht nur vermehrt auf Onlinedienste zurückzugreifen. Auch für Unternehmen zeigen sich jetzt neue Perspektiven auf – sogar für den Tourismus. In Zeiten des Daheimbleibens wurde nun zum Beispiel die neue Kampagne #GreecefromHome der staatlichen Tourismusagentur zum Renner. Diese digitale Plattform ermöglicht nicht nur zukünftigen Reisenden und interessierten Besuchern Griechenland online zu entdecken, sie ist gleichzeitig ein Lernportal für Beschäftige im Tourismussektor, auf dem diese ihre digitalen Fähigkeiten verbessern können.
Denn im Angesicht einer vom IWF prognostizierten Rezession von zehn Prozent für das laufende Jahr ist der mit Abstand wichtigste Wirtschaftssektor des Landes in großer Gefahr. Doch Premier Mitsotakis prophezeit ein starkes Comeback für 2021. Und für die in normalen Jahren jetzt gerade beginnende Tourismussaison hofft Athen, durch sein vorbildliches Agieren in der aktuellen Krise international besser aufgestellt zu sein als seine traditionellen Konkurrenten am Mittelmeer, wenn es zu einer Aufhebung der internationalen Reisebeschränkungen kommt.
Immerhin ist in den letzten Wochen im Land eine Entwicklung zu beobachten gewesen, die den erfahrensten Beobachter, aber auch die leidgeprüften Griechen selbst erstaunt. Heute, am 04. Mai 2020, öffnen sich die Türen wieder vorsichtig. Vielleicht ist der neu gewonnene Optimismus ja nicht unbegründet, dass auch Andere die neuen Stärken des Landes erkennen werden und sie und seine Strände (wieder-)entdecken wollen.