Einer Anekdote zufolge wettete der Berliner Verleger Wolf Jobst Siedler einmal mit dem Historiker Joachim Fest um fünf Euro, dass sie auf dem Kurfürstendamm zur Mittagsstunde keinen Mann mit Krawatte sehen würden. Siedler gewann die Wette – und Fest hatte eine starke These: Das alte Bürgertum existiere nicht mehr. Jedenfalls nicht in Berlin.
Offenbar aber existiert es doch, zumindest in Frankfurt am Main. Der dort 1951 geborene Martin Mosebach, der sich als Autor von mittlerweile neun Romanen, von reiseliterarischen Werken, Prosa- und Essaybänden einen Namen gemacht und auch Lyrik, Opernlibretti und Hörspiele geschrieben hat, gilt seit Längerem als die berühmte Widerlegung dieser These. Die Kritik spricht von einer Renaissance des Bürgertums in seinen Werken. Der Autor selbst tritt mit dem bürgerlichen Habitus eines Kulturbewahrers auf, der das Erhaltenswerte zu erhalten sucht, Taktgefühl als eine „politische Tugend“ schätzt und bekennt, keinen Tag seines Lebens, obwohl in den 68er-Jahren herangewachsen, „mit dem Aufstand gegen Tradition und Autorität zugebracht“ zu haben.
„Gute Manieren“
Es ist wahr, dass Martin Mosebach meist Krawatte (oder Fliege) trägt. Er praktiziert den klassischen Handkuss, von dem der äthiopische Prinz Asfa-Wossen Asserate in seinem Kulturführer durch die europäischen Manieren (2003) sagt, er sei eine „kleine Tanzfigur“, die „Selbstachtung, Distanz und Respekt“ ausdrücke. Auch in diesem Sinne darf man Martin Mosebach als einen hochkultivierten Wertkonservativen bezeichnen, der seine Gegenwart an der Überlieferung misst und für jene Ästhetik der bürgerlichen Umgangsformen eintritt, die man eben „gute Manieren“ nennt. Diese Sitten und Gebräuche sind die „weithin strahlende Oberfläche eines großen Massivs aus Geschichte, Traditionen, Glaube und Moral“ Europas (Asserate).
Träger dieser Manieren ist das europäische Bürgertum, dem die Demokratisierung des Kontinents, der „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas), das moderne Bildungssystem, aber auch jene säkularisierende Entwicklung der Religion zuzuschreiben ist. An ihr nimmt Mosebach Anstoß, weil es dabei zu dem „Zerfall der hierarchischen und sakramentalen Kirche nach dem II. Vatikanischen Konzil“ gekommen sei.
Zustimmend zitiert er den portugiesischen Philosophen Nicolás Gómez Dávila: „Die Kirche stirbt, wir müssen mit Gott allein sein. Das Gebet ist die einzige intelligente Tat.“ Bei Brecht, der die Bibel schätzte, aber die Kirche mied, habe das Bürgertum sogar bei den Bürgern schlechte Karten gehabt. Diese Selbstdistanz hat der expressionistische Dichter Jakob van Hoddis vor genau einhundert Jahren in seinem berühmten Gedicht „Weltende“ ironisch kommentiert: Am Beginn der technischen Moderne beunruhigt den Bürger, dem „vom spitzen Kopf der Hut“ fliegt, sein Schnupfen, nicht aber der Weltkrieg, die Mutterkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts.
Die „Buddenbrooks“ am Main
War das der philiströse Anfang vom gar nicht so lustigen Ende des Bürgertums? Davon erzählt Mosebach aus guten Gründen. Seine Romane sind kritische Gesellschaftsstudien aus dem bürgerlichen Milieu, kulturelle Lehrstücke über die feinen Unterschiede, geschult an der Erzähltradition Thomas Manns und Heimito von Doderers. An Manns Buddenbrooks (1901), den literarischen Nekrolog auf das Bürgertum, erinnert Mosebachs dritter Roman Westend (1992) über Aufstieg und Niedergang eines Immobilienimperiums in der Nachkriegszeit. Die Bankenstadt am Main ist ein Emblem seines Werks, sie ist Handlungsort der Romane Lange Nacht (2009) und Was davor geschah (2011). Die Stadtarchitektur liest Mosebach als Signatur der Zeit. Auch in seinem Essay Arme neue Stadt (2011) plädiert Martin Mosebach für Innenhöfe und Gesimse, nicht für Hochhäuser; interkulturelle Milieus und Mundarten sind ihm lieber als Leuchtreklame und vernachlässigte Stadtparks.
Kein Zweifel, Mosebachs Romanfiguren sind Nachfahren der „Buddenbrooks“. Der Autor weiß um das Schicksal dieser Stadtbürger mit schlechtem Gewissen und hellem Verstand, die ihre patrizische Tradition nur noch als Charaktermaske tragen. Er erspart seinen Romanfiguren aber das elende Schicksal von Thomas Buddenbrook, der im wahrsten Sinne in der Gosse endet: Der Bürgersteig ist nicht mehr gut genug. Mosebachs Romanbürger entledigen sich der Reste des bildungsbürgerlichen Erbes, sie sind Abenteurer auf der Jagd nach Freiheit im Dickicht der Städte – und deshalb auch entlaufene Bürger, die dem Bürgertum abhandengekommen sind. Diese Hasardeure und Hochstapler nehmen ganz eigene Routen, abseits von Erziehung, Schule, Familie, Staat, stets bereit, wenn auch nicht immer fähig zum „biographischen Bruch“ mit ihrer Bestimmung (Uwe Wittstock). Dieser zögerliche Nonkonformismus bewährt sich auch in fremden Milieus.
Der Indienroman Das Beben – 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis nominiert – und der auf Mosebachs Aufenthalt im indischen Bikaner im Herbst 2006 zurückgehende, 2008 erschienene Reisebericht Stadt der wilden Hunde – ein faszinierendes Buch, mit dem man die Mosebach-Lektüre beginnen sollte – erschließen das Heilige in anderen Kulturen. Und das mit humorvollem Distanzblick auf die Fremde: In Bikaner im Nordwesten Indiens gibt es anscheinend keine Bücher und keine Leser, wohl aber einen Bibliothekstempel und einen großen Schriftsteller, dem der deutsche Dichter eine kleine Gefälligkeit erweist. Sie besteht darin, dass er dem indischen Gastgeber, der ihn ungehörig lange warten lässt und dann um seine Meinung über das „unvergleichliche Buch“ bittet, das er geschrieben hat, ein dickes Lob diktiert. Dieses Lob des „zu Gast weilenden Gelehrten Mr. Martin“ druckt am nächsten Tag die Zeitung.
„Stilleben mit wildem Tier“
Was die Kritik an Mosebachs Romanen immer wieder hervorhebt, ist das „Vertrauen in die groteske Wendung und das Auge fürs sprechende Detail“ (Felicitas von Lovenberg), ist die Satzbaukunst, die von „formvollendetem Stil“ zeuge (Andrea Köhler), sind die „federnd wohlgefügten Satzperioden“ (Ijoma Mangold). Diese Stilkunst ist freilich keine artistische Selbstfeier. Jedes Wort, welches das Gewöhnliche ins Kostbare zieht, dient der Durchleuchtung einer sprachverwahrlosten Gegenwart.
Sprachliche Nachlässigkeit ist für Mosebach eine Untugend, weil der Schriftsteller sein Wortmaterial nicht beherrschen darf. Er muss es interpretieren. Seine Aufgabe ist es, die Grenzen der Sprache „zu weiten, sich durch ihre Hindernisse hindurchzuwinden, sie in ein überraschendes Licht zu setzen, sie zu verdunkeln, sie zu verknappen, ihre Wirkung zu steigern, ihren Klang zu inszenieren“, schreibt er in dem Essay Schriftstellers Deutsch (2003). Dazu gehört auch ein fantasievoller Umgang mit den Spezialsprachen und Mundarten des Deutschen. Das „Denglisch“, George Bernard Shaw zufolge die am leichtesten schlecht zu sprechende Sprache, bekämpft er, weil es nicht die Wirklichkeit, sondern nur die Zugehörigkeit des Sprechers bezeichne. Fremdwörter toleriert er, solange sie anschaulich bleiben, und würdigt sie – im Gefolge des Frankfurter Philosophen Adorno – als Goldadern im Körper der deutschen Sprache.
Ein prägnantes Beispiel für Mosebachs Sprach- und Sozialkritik ist Stilleben mit wildem Tier, eine der frühen Erzählungen aus dem gleichnamigen Band (2001). Es handelt sich um eine der Miniaturen, in denen Mosebach seine Kunst der Kombination von psychologischer Wahrheit und komischer Plot-Konstruktion unter Beweis stellt; Michael Maar würdigt diese Miniaturen in der Zeitschrift Sinn und Form als „kleine hängende Gärten über dem epischen Strom der Erzählung“. Was geschieht? Die neapolitanische Familie Esposito hat in ihrem Wohnzimmer eine stattliche Weihnachtskrippe mit über dreihundert handgroßen Figuren aufgebaut. Während-draußen das Stadtleben treibt, regt sich in der Krippenlandschaft eine Maus, verfolgt von einer Katze, die zum Sprung ansetzt und damit ein Desaster im bürgerlichen Wohnzimmer der Espositos anrichtet.
„Die Stille ist nicht gestört worden, und doch gleicht das Tal zu Füßen der Heiligen Familie einem Schlachtfeld.“ Dieses groteske Ende der Geschichte kommentiert den Einbruch der Welt-Gewalt in eine zum „Stilleben“ erstarrte Kunst. In klassisch ausgeruhtem Tonfall wird dem religiösen Kunsthandwerk der Garaus gemacht. Auch diese Skepsis gegenüber einer voreiligen Heiligung der Welt gehört zu Martin Mosebachs bürgerlicher Religion.
Wie hält er’s mit dem Christentum?
Seit dem Doderer-Preis (1999) und dem Kleist-Preis (2002) hat sich Martin Mosebach zusehends mit Essays zur kulturellen und geistig-religiösen Lage der Zeit geäußert. In der Tageszeitung Die Welt plädierte er im Juni 2004 für einen Gottesbezug in der europäischen Verfassung: „Mit Gott in der Verfassung bekennt der entstehende Riesenstaat, daß er nicht perfekt ist und nicht perfekt sein kann.“ Nicht selten polarisiert der Autor mit kontroversen Thesen. So zieht Mosebachs Büchner-Preis-Rede 2007 „Ultima ratio regis“ eine Vergleichslinie zwischen der Französischen Revolution und dem Totalitarismus des zwanzigsten Jahrhunderts, zwischen Paris und Posen, St. Just und Himmler. Gefragt wird nach dem Preis einer Freiheit ohne humane Verantwortung: „Woher kommt bei Büchners Protagonisten, die sich im Besitz des siegreichen Gesetzes der Geschichte glauben, das schlechte Gewissen?“
In seinem Buch Die Häresie der Formlosigkeit (2002, Neuauflage 2007) tritt er für die vorkonziliare Liturgie ein und kritisiert die Reformen des Zweiten Vatikanums als „Akt der Tyrannis“, ausgeübt von „Modernisierern und Fortschrittsgläubigen“. Seine Kritik als gläubiger Katholik und als „Feind des Kitsches“ richtet sich gegen eine Kirche, in der man die „Altäre gedeckt sieht wie Couchtische“, wie Felicitas von Lovenberg schreibt, und in der sich das Christentum immer weiter vom europäischen Westen entferne. Den Grund für diese Entfremdung sieht Martin Mosebach – in seiner Würdigung des Papstrücktritts (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Februar 2013) – in „der geistlichen Unfruchtbarkeit der nachkonziliaren Epoche“.
Martin Mosebachs Plädoyer für ein „Blasphemieverbot“ in der Frankfurter Rundschau vom 18. Juni 2012 ließ Kritiker vom „Gotteskrieger im Tweedjackett“ (Der Spiegel) und „Deutschlands Religionspolizei“ (Cicero) sprechen. Mosebach fand aber auch Zustimmung, wie der Autor im Dezember 2012 bei einer Veranstaltung im Belgischen Haus in Köln sagte: etwa bei dem Philosophen Robert Spaemann. Wir sollten dem guten Rat von Mosebachs Büchner-Preis-Laudator Navid Kermani folgen und seine Texte genau lesen. Denn Mosebach, so Kermani, kritisiere beileibe nicht die Kunstfreiheit. Ihn störe die Blasphemie, wenn sie als „lässige Attitüde oder als kalkulierte Spielerei“, als „Schnörkel, Laune oder Ungezogenheit“ auftrete.
Dementsprechend verteidigt Mosebach das Privileg des Autors, sich in die „,Verbrecher aus verlorener Ehre‘ und die Kohlhaase einzufühlen“. Die Demarkationslinie der künstlerischen Freiheit aber verläuft für ihn entlang der „guten Sitten“, die das zivilisierte Leben der menschlichen Gesellschaft regeln. Deshalb mahnt er in einer Nachbemerkung zu seinem umstrittenen Artikel: „Wer sich Verachtung gestattet, wird Wut ernten und beschädigt das Zusammenleben aller.“
Staunender Realismus
Martin Mosebachs Poetik ist einem „staunenden Realismus“ verpflichtet, den er als Fellow des Internationalen Kollegs Morphomata in Köln mit der liebevollen Geste erklärte, mit der der Schriftsteller die Träume aus der Tageswelt zu rekonstruieren verstehe und von innen heraus die Dinge auf ihre Qualität hin prüfe. Dem entgegen stehe der „depressive Realismus“ jener Autoren, die das Recht einklagten, in Arkadien geboren zu sein, aber in Wanne-Eickel lebten und dort an ihren Klagen stürben. Auf diese Weise neigt Mosebach mehr zu einem philosophischen als zu einem politischen Schreiben.
Staunen ist der Anfang des Denkens, und Martin Mosebachs Werke sind eine elegante Schule des Selbst-Denkens. Fortschritt und Zeitgeist haben darin durchaus ihren Platz, sofern sie nicht historisch bewährte Grundwerte – wie die Verantwortung für die Freiheit des Wortes – gefährden.
Anmut und Kühnheit
Auf diese Weise gemahnt Mosebach daran, dass der Mensch nicht nur eine politische und ästhetische Existenz hat, sondern in ihr auch stark von Geschichte und Tradition abhängt. Ohne die Besinnung auf ihren Auftrag, diese Tradition kontinuierlich zu entfalten, verflacht die Literatur.
Davon zeugen Mosebachs Romane des modernen Bürgertums und seine interkulturellen Reiseessays. In diesen Werken erweise sich der Autor – so begründete die Jury ihr Votum für den Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung 2013 – „als eigenständiger Denker und als Stilist von außerordentlicher Sprachkraft, der durch Eleganz und geistreiche Ironie, durch Anmut und Kühnheit gleichermaßen überzeugt“.
Man muss also keine Krawatte tragen, um ein passabler Bürger zu sein. Aber man sollte wissen, dass jede bürgerliche Freiheit an Wert verliert und verflacht, wenn sie sich nicht an den Werten orientiert, aus denen sie in oft schwierigen Prozessen erwachsen ist. Nicht also Rückkehr zur Vergangenheit ist die Devise des bürgerlichen Schriftstellers Martin Mosebach, sondern die Bewahrung des Bewahrenswerten im Heute: „Hände weg vom Status quo!“ Und mag das auch eine intellektuelle Herausforderung sein, so ist es auf jeden Fall eine willkommene Einladung zur Diskussion um bürgerliche Werte.
Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Leiter des Referates Literatur der Konrad-Adenauer- Stiftung und außerplanmäßiger Professor für Neuere deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln.
Auswahlbibliografie Martin Mosebach
Stilleben mit wildem Tier. Erzählungen, Berlin Verlag, Berlin 1995, 176 Seiten, 8,99 Euro. Die Türkin. Roman, Berlin Verlag, Berlin 1999. Neuauflage als Taschenbuch 2002; dtv, München 2008 (3. Aufl. 2011), 288 Seiten, 8,90 Euro.
Das Beben. Roman, Carl Hanser Verlag, München 2005, 416 Seiten, 24,90 Euro.
Schöne Literatur. Essays, Carl Hanser Verlag, München 2006, 240 Seiten, 19,90 Euro; dtv, München 2009, 240 Seiten, 9,90 Euro.
Ultima ratio regis. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises. Mit der Laudatio von Navid Kermani, Carl Hanser Verlag, München 2007, 64 Seiten, 5,00 Euro.
Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind. Erweiterte Neuausgabe, Carl Hanser Verlag, München 2007, 256 Seiten, 21,50 Euro.
Der Mond und das Mädchen. Roman, Carl Hanser Verlag, München 2007, 192 Seiten, 17,90 Euro.
Stadt der wilden Hunde. Nachrichten aus dem alltäglichen Indien, Carl Hanser Verlag, München 2008, 176 Seiten, 16,90 Euro.
Was davor geschah. Roman, Carl Hanser Verlag, München 2010, 336 Seiten, 21,90 Euro.
Als das Reisen noch geholfen hat: Von Büchern und Orten, Carl Hanser Verlag, München 2011, 496 Seiten, 21,90 Euro.