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"Nerv uns nicht, denk an den 17. Juni!"

Entschlüsselung eines deutschen und europäischen Datums

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„Vom 17. Juni will ich die nächsten Monate nichts mehr hören“, sagte ein Redakteur nach dem überstandenen fünfzigsten Jahrestag des Volksaufstands in der DDR. Kräftig, oft würdig, aber mitunter auch nur ritualisiert war seiner gedacht worden. So heftig und vielfältig, als ob wir die Jahre danach Ruhe vor diesem Datum haben wollten. Was uns dieser Tag wirklich wert ist, wird sich daher 2013 zu seinem sechzigsten Jahrestag zeigen, wenn uns die Jubiläumszahl weniger fordernd zum Gedenken mahnt.

Gedenken muss auch ohne gesetzliche Vorgaben möglich sein, wie der 17. Juni zeigt. Viel Material wurde gefunden und beschrieben. Jetzt könnte die Debatte über die nationalen und europäischen Dimensionen der Ereignisse beginnen. Das Datum markierte ja bekanntlich eine der ersten klaren Unzufriedenheitsbewegungen im realsozialistischen Nachkriegseuropa – mit konkreten Erinnerungsorten, an denen sich diese Bewegungen zum Aufstand ausweiteten. Das ist mehr, als deutsche Diktaturgeschichte in der Regel zu bieten hat.

Für die aktuelle politische Wirkung sollte allerdings bedacht sein: Trotz aller großen Koalitionen der Erinnerer quer durch die Parteien dürfen wir nicht vergessen, dass der 17. Juni zumindest die Bevölkerung der ehemaligen DDR weiterhin spaltet.

 

Der Alltag dazwischen

Die demonstrierenden Bauarbeiter kamen zwar 1953 aus der ganzen DDR. In Halle, Leuna, Magdeburg oder Jena ereigneten sich damals Aufstandsversuche, in Neubrandenburg oder Suhl hingegen geschah fast nichts. Auch deshalb sind Erinnerungen von Menschen an zentrale geschichtliche Ereignisse oft asynchron. Hinzu kommt: Die DDR-Geschichte bestand nicht allein aus dem 17. Juni und dem Ende 1989. Auch im Alltag dazwischen gab es nicht nur Alltägliches. Viele kleine Akte des Ungehorsams und des Widerstandes nach 1953 und vor 1989 sind wichtig, um zu begreifen, wie das Leben in der DDR und die repressive Machtausübung oft engstens zusammenhingen. Der 17. Juni lässt uns heute über Diktaturprävention nachdenken. Er könnte ein Datum sein, zu dem Privates und höchst dramatisch Politisches zusammenkommen. Der 17. Juni begleitete mein Leben, gerade weil er in der DDR kein Feiertag sein durfte. Er schien das Kürzel für Krise, Schock, Ausnahmezustand zu sein. Als ich im Frühjahr 1977 als Transporthilfsarbeiter beim VEB Carl Zeiss Jena einrückte, schob ich meinen Wagen für den Transport diverser abgepackter Gläser durch die Hallen des Hauptwerkes. Am zweiten oder dritten Tag stupste mich ein altgedienter Arbeiter auf die Schulter. Er hatte Wind davon bekommen, dass mehrere Freunde und ich kurz zuvor von der Universität geflogen waren – die Reaktion auf unsere Proteste gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, bei der es zu fünfzig Hausdurchsuchungen und zehn Verhaftungen gekommen war. Der Zeissianer, der wie meine Großväter sein Berufsleben lang nur in diesem einen Betrieb gearbeitet hatte, begann mit einer Standpauke: „Willkommen bei der herrschenden Arbeiterklasse. Nun ist Schluss mit lustig. Das habt ihr von eurem Protest. Ihr wart schon ziemlich mutig und erfolgreich, wenn sie so viele Stasileute aufmarschieren lassen. Und wenn ihr noch mehr Erfolg gehabt hättet, dann wären die Panzer gekommen. Wie am 17. Juni. Dann wird geschossen, und es fließt Blut. Also freu dich deines Lebens. An die Arbeit!“ Er drehte sich um und ging.

 

Mixkaffee und Gehorsam

Das Datum spielte nochmals eine Rolle – während meines halben Hilfsarbeiterjahres. Die DDR wollte gerade wieder einmal Devisen sparen und führte 1977 den Mixkaffee ein, eine inzwischen fast vergessene Errungenschaft aus Originalkaffee und geriebenen Möhren und anderen, keinesfalls gesundheitsschädlichen Zusatzstoffen. Die Arbeiter und Angestellten würdigten den herzschonenden und ökologischen Aspekt nicht. Sie mokierten sich zwei Tage lang über die ausgeschenkte Mixkaffeebrühe in der Kantine, die schwärzer wirkte und auch nicht sehr nach richtigem Kaffee schmeckte. Daraufhin arbeiteten sie zwei Tage lang mit äußerst gebremstem Eifer. „Streiks sind ja verboten“, sagte ein Kollege. „Ich halte mich an Verbote, aber wenn ich keinen richtigen Kaffee bekomme, fällt mir alles aus den Händen.“ Zum Beweis entglitt ihm der Deckel einer Glasschüssel, den er, weil er nicht kaputtgegangen war, wieder aufhob, um ihn noch kräftiger auf den Boden zu werfen, sodass er nun endlich zersprang. Danach kehrte der Kollege befriedigt und sorgfältig die Scherben zusammen. Es sollte sich ja keiner verletzen. Ich erlebte damals manche Diskussionen, bei denen der 17. Juni eine diffuse Rolle spielte. Wartend vor einem Fahrstuhl, dialogisierten zwei ältere Arbeiter über die damaligen und heute möglichen Demonstrationsrouten – konsequent im Konjunktiv, als ob sie gar nicht von sich selbst sprachen. Es war ein kabarettreifer Dialog über Durchfahrten unter Berücksichtigung aktueller Baustellen. Der oktroyierte Mixkaffee war im Grunde eine Bagatelle. Allerdings blieben die Reaktionen nicht ohne Wirkung. Am dritten Tag schenkte die Kantine zusätzlich wieder richtigen Kaffee aus.

Bedenkt man diese Wirkung, wird einem klar, wie instabil die Ruhe der DDR war. Dabei wirkte das Juni-Datum als Drohung fort – und zwar als gegenseitige. Nicht jeder hat sich das trauen können, was mir ein Arbeiter erzählte. Er habe ein Überredungsgespräch mit seinem Vorgesetzten zu irgendeiner gesellschaftlichen Aktivität mit dem Hinweis beendet: „Nerv uns nicht zu sehr, denk an den 17. Juni!“

 

Lutz Rathenow, geboren 1952 in Jena, deutscher Lyriker und Prosaautor, seit März 2011 Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi- Unterlagen.

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