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Von kritischer Distanz zwischen Literatur und Politik

Günther Rüther: Literatur und Politik. Ein deutsches Verhängnis? Wallstein Verlag, Göttingen 2013, 352 Seiten, 24,90 Euro.

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Günter Grass schreibt Gedichte. Seine Karriere als Schriftsteller begann 1955 mit einem Gedicht, als er bei einem Lyrikwettbewerb den dritten Preis gewann. Und ein Gedicht war es auch, mit dem der Literaturnobelpreisträger im April 2012 weltweit große Aufmerksamkeit fand. Grass warf darin Israel vor, einen Angriff auf den Iran zu planen, was den Weltfrieden gefährden könne. Doch am Ende richtete sich die Anklage gegen den Autor selbst. Inhalt und Form des Gedichts wurden weltweit kritisiert. Politiker fast aller deutschen Parteien distanzierten sich. Israel erklärte den Schriftsteller zur Persona non grata.

Die Aufregung legte sich rasch, aber die Grass-Episode spiegelte eine alte Konfliktlinie wider: die Beziehung von Literatur und Politik. Das Verhältnis von „Geist“ und „Macht“: Wohl in keinem anderen Land Europas war es von so viel Distanz und gegenseitigem Misstrauen, mitunter jedoch auch von verhängnisvoller Nähe geprägt. Mit dieser schwierigen Beziehung befasst sich das im Wallstein Verlag erschienene Buch des Politikwissenschaftlers Günther Rüther.

Rüthers grundlegende These ist, dass es erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 zu einer „Normalisierung“ des Verhältnisses von Literatur und Politik gekommen sei. Dies deute auf einen Zusammenhang mit der nationalen Frage hin: „Ist es ein Zufall, dass wir eine Entspannung zwischen Literatur und Politik zu einem Zeitpunkt konstatieren, wo Deutschland in Grenzen lebt, die sowohl von unseren Nachbarn als auch von uns selbst als endgültig bezeichnet werden?“

 

Ein folgenschwerer Dualismus

Die Wurzeln dieser verhängnisvollen Beziehung zwischen Literatur und Politik sieht der Autor bereits in der Zeit des Absolutismus, verstärkt aber nach dem Ende des Alten Reiches gegeben. In Deutschland sei im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern eine innere Verbindung zwischen Aufklärung und Nationalstaat misslungen. Die nationale Einigung sei der Aufklärung weit hinterhergehinkt. Dadurch habe sich ein „folgenschwerer Dualismus“ zwischen der geistigen und der politischen Welt herausgebildet, der eine Überhöhung des kulturellen gegenüber dem politischen Denken begünstigte. Diese Überhöhung habe dazu geführt, dass sich das Bürgertum „in eine Welt politikferner und kulturverliebter Innerlichkeit“ zurückgezogen habe; der Staat wiederum habe die Literaten als Gegenspieler wahrgenommen und sie unerbittlich verfolgt, wenn er seine Interessen berührt sah.

Nicht wenige Schriftsteller konnten sich dem Zugriff der staatlichen Macht nur durch Flucht entziehen: Friedrich Schiller und Heinrich Heine gingen ebenso ins Exil wie später im zwanzigsten Jahrhundert Thomas und Heinrich Mann, Anna Seghers und die über einhundert Schriftsteller, die der DDR den Rücken kehrten.

Zum deutschen Verhängnis zwischen Geist und Macht zählt aber auch, dass sich Schriftsteller häufig auf die falsche Seite schlugen: „Das geschah 1914, als sie sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vorbehaltlos und öffentlich wahrnehmbar mit dem wilhelminischen Obrigkeitsstaat in den Ersten Weltkrieg stürzten.“ Nach 1933 wiederholte sich die Geschichte. Obwohl es an mahnenden Stimmen nicht gefehlt hatte, kam es nach der Machtergreifung Hitlers bei denen, die nicht ins Exil gingen, zu einem Bündnis zwischen Literaten und Repräsentanten des nationalsozialistischen Regimes: „Wo es nicht zu einem Bündnis kam, arrangierte man sich.“ Widerstand zeigten nur Einzelne. Thomas Mann war einer der wenigen, die sich dem Nationalsozialismus mit aller Kraft entgegenstellten, weil er dessen zerstörerische Kraft vorhersah.

 

Vom Herzensmonarchisten zum Vernunftrepublikaner

Mit Thomas Mann beschäftigt sich das ganze erste Kapitel des Buches. In einem gelungenen Porträt zeichnet Rüther nach, wie sich der Schriftsteller von einem überzeugten Monarchisten und gefeierten Repräsentanten des wilhelminischen Obrigkeitsstaates nach 1919 zögernd zu einem Verteidiger der Republik und ihrer Werte wandelte. Mit seiner Rede „Von deutscher Republik“ trat er 1922 zum ersten Mal als politischer Mahner und Befürworter der demokratischen Staatsform auf. Demokratie und Humanität, so Mann, seien eins, und da der Mensch dem Prinzip der Humanität folgen solle, habe er also nach einem demokratischen Zusammenleben zu streben. Seinen politischen Standortwechsel vom „Herzensmonarchisten“ zum „Vernunftrepublikaner“ (Rüther) erklärte Mann bezeichnenderweise mit literarischen Mitteln. Sein öffentliches Bekenntnis zur Weimarer Republik stützte er auf drei Schriftsteller: Gerhart Hauptmann, Novalis und Walt Whitman.

Mann konnte die Katastrophe freilich nicht verhindern. Im amerikanischen Exil wandte er sich mit Radioansprachen an die deutschen Hörer. Nachdem das Dritte Reich endlich untergegangen war, sprach er von der Kollektivschuld der Deutschen. Im September 1945 rechnete er in einem offenen Brief mit den Schriftstellern ab, die in Deutschland geblieben waren: „[...] in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos [...] Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden.“

Ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg kam Thomas Mann auch nach dem Zweiten Weltkrieg in eine „Orientierungskrise“. Nach Deutschland wollte er nicht zurückkehren. Aber auch von den USA hatte er sich zunehmend distanziert. Erst im Goethejahr 1949 stattete er Deutschland, das inzwischen zweigeteilt war, einen Besuch ab. Die politische Entwicklung im Westen Deutschlands beurteilte er kritischer als die im Osten. In Westdeutschland, so Mann, klopfe der Nationalsozialismus erneut an die Tür, während er im Osten „den Idealismus und die Menschenfreundlichkeit der kommunistische Grundidee“ lobte.

Wie konnte ein Literat, der die Methoden der Gewalt und Unterdrückung im nationalsozialistischen Deutschland auf Schärfste verdammt hatte, die kommunistische Diktatur weit positiver beurteilen? Thomas Mann rechtfertigte sich damit, wie beeindruckt er vom guten Willen und dem Idealismus der Kommunisten in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) sei, die einen Rückfall in Krieg und Barbarei verhindern wollten.

Doch für Günther Rüther hat die „Widersprüchlichkeit“ und „Wirklichkeitsblindheit“ Manns tiefere Ursachen: „Die Trennung von Geist und Leben, von Idee und Wirklichkeit, von Kunst und Politik, diese großen Gegensätze seines Lebens, gelang es ihm nie restlos zu überwinden.“

 

Literatur in der Diktatur

Intellektuelle, so beginnt Rüther im zweiten Kapitel, hätten vor allem die Aufgabe, Distanz zur Macht zu wahren. In der Diktatur aber sei dies schwieriger zu realisieren als in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Doch gerade in der Diktatur sei es für den Intellektuellen besonders geboten, sich nicht den Verführungen der Macht auszusetzen, sondern sie in Zweifel zu ziehen: „In der totalitären Gesellschaftsordnung zählt er zu den wenigen noch verbleibenden Instanzen, die aus ihrem Selbstverständnis heraus dazu berufen sind, die zeitlosen Werte Gerechtigkeit, Wahrheit und Vernunft zu verteidigen.“

Gemessen an dieser normativen Erwartung, wird man Rüther wohl zustimmen können, wenn er sagt, dass ein erheblicher Teil der geistigen Elite in beiden deutschen Diktaturen versagt hat. Schon kurz nach der Machtergreifung Hitlers beteiligten sich einhundert Schriftsteller an Loyalitätserklärungen für den neuen Reichskanzler: „Darunter fanden sich anerkannte Namen wie Rudolf Binding, Oskar Loerke, Walter von Molo, Ernst Barlach, Bruno Frank, Rudolf Alexander Schröder, Jakob Wassermann und Gottfried Benn.“

Rüther schließt aus deren Unterschriften nicht unbedingt auf eine intensive Bindung an den Nationalsozialismus; letztendlich sei der Kreis derjenigen, die ihre literarische Arbeit aus Überzeugung in den Dienst des NS-Regimes stellten, klein gewesen. In einer totalitären Diktatur seien die Möglichkeiten des Widerstands begrenzt gewesen. Dies dürfe jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, „dass viele Schriftsteller Verrat geübt und ein unmittelbares Bündnis mit der Macht eingegangen sind“.

 

Optionen des Verhaltens in der Diktatur

Ganz der systematisch denkende Politikwissenschaftler, versucht Rüther, die Optionen, die dem Schriftsteller in der Diktatur idealtypisch offenstehen, zu typologisieren. Es folgen insgesamt acht Porträts von Schriftstellern, die deren Probleme und Haltungen in der Diktatur exemplarisch veranschaulichen sollen: Franz Fühmann, Johannes Bobrowski, Anna Seghers, Christa Wolf, Günter de Bruyn, Hans Joachim Schädlich, Herta Müller und Volker Braun. Bis auf Herta Müller lebten alle in der ehemaligen DDR.

Eindrucksvoll schildert Rüther die verschiedenen Charaktere und zeichnet nach, wie sie allmählich ihre Illusionen über die humanitären Ideale des Sozialismus verloren und – freilich in unterschiedlichem Ausmaß – auf kritische Distanz zum SED-Staat gingen.

Franz Fühmann etwa, der sich vom begeisterten Nationalsozialisten zum überzeugten Stalinisten gewandelt hatte, vermied zunächst in der schuldbewussten Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit jeden Zweifel an der neuen Weltanschauung. In den aufständischen Arbeitern des 17. Juni 1953 erkannte er „faschistische Provokateure“. Erst als 1968 sowjetische Panzer den Prager Frühling beendeten, distanzierte er sich und wurde zum Oppositionellen.

Vorschnelle Urteile über die Schriftsteller der DDR lehnt Rüther deshalb ab. Zwar habe es bei vielen Autoren eine „Komplizenschaft“ mit dem Regime gegeben. Aber er widerspricht zugleich denjenigen, die in der Literatur grundsätzlich keine kritische Grundhaltung glauben entdecken zu können. Diese pauschale Verurteilung werde dem Stellenwert der DDR-Literatur nicht gerecht: „Sie verkennt ihr literarisches und ästhetisches Niveau und übersieht die Anerkennung, die sie gerade auch im Westen Deutschlands in den Jahren der Teilung aus diesem Grund gefunden hat.“

Rüthers Sympathie gilt deshalb zum Beispiel Christa Wolf, die in der DDR blieb, aber mit ihrer Schreibhaltung und Poetik „literarische Botschaften des Unangepasstseins“ formulierte. Voller Bewunderung wird die Haltung der Nobelpreisträgerin Herta Müller beschrieben, die als Banater Schwäbin in Rumänien dem Terror des Ceauşescu-Regimes ausgesetzt war. Rüther würdigt ihr Werk als „Literatur der Angstüberwindung“ und hält sie für die glaubwürdigste literarische „Chronistin der Diktaturschäden unserer Zeit“.

 

Literatur im geteilten Deutschland

Im dritten Teil des Buches geht es schließlich um das schwierige, meist spannungsgeladene Verhältnis der Schriftsteller zur Politik im geteilten Deutschland bis in die jüngste Gegenwart hinein. Die Deutschen, so Rüther, hätten eine ausgeprägte Neigung, in Antinomien zu denken. Zu solchen Antinomien zählten eben auch Gegensatzpaare wie Geist und Macht oder, konkreter, Literatur und Politik. „Dort, wo man deutsch spricht“, wird Hans Magnus Enzensberger zitiert, „sind Politiker und Intellektuelle – wer wüßte das nicht – seit eh und je miteinander verfeindete Indianerstämme“.

Dies äußerte sich in den Jahren der deutschen Teilung vor allem in der „antiwestlichen Grundhaltung“ vieler Schriftsteller der Bundesrepublik. Rüther kritisiert, dass die Kanzlerschaft Adenauers vielfach – etwa von Mitgliedern der Gruppe 47 – als Restaurationspolitik dargestellt wurde. Das Jahr 1968 interpretiert er nicht nur als Jahr der Studentenbewegung, sondern auch als „Radikalisierung der Schriftsteller und Intellektuellen, die eine politische Alternative nur mehr links der SPD sahen“. Die Debatte um den NATO-Doppelbeschluss und die Nachrüstung der Bundeswehr löste Ende der 1970er-Jahre weitere Proteststürme der Schriftsteller aus.

Erst mit der Wiedervereinigung, wie Rüther mit vielen Zitaten abschließend belegt, habe sich das Verhältnis der Schriftsteller zum Staat „normalisiert“. Alte Feindbilder und die in der deutschen Geschichte wurzelnden Vorbehalte und Verhaltensmuster seien endlich überwunden worden.

 

Von alter Last zu neuen Perspektiven

Günther Rüther hat ein lesenswertes Buch geschrieben. Sachkundig und sicher im Urteil zeichnet er das von vielen wechselseitigen Missverständnissen und falschen Erwartungen bestimmte Spannungsverhältnis von Geist und Macht in Deutschland nach und stellt es in einen historischen Kontext. Vielleicht wird der Zusammenhang der nationalen Frage mit dem schwierigen Verhältnis von Literatur und Politik etwas überbetont. Aber das Buch macht ja zugleich in eindrucksvoller Weise deutlich, dass es selten eindeutige Kausalitäten gibt. Und vielleicht hätte man sich auch wünschen können, dass ein wenig mehr über den deutschen Tellerrand hinausgeblickt wird. In Lateinamerika etwa ist Literatur ohne Politik kaum vorstellbar, auch in Russland oder in der Tschechischen Republik nicht. Aber Rüther wollte sich eben bewusst auf das „deutsche Verhängnis“ beschränken.

Wie sich hierzulande das Verhältnis zwischen Politik und Literatur weiter entwickeln wird, muss der Autor am Ende offenlassen. Die deutschen Schriftsteller hätten zwar ihre alte Rolle aufgegeben, aber eine neue noch nicht für sich gefunden. Rüther bedauert indes, dass sich viele Schriftsteller zu sehr mit der Last des zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigten: „Es mangelt jedoch an einer Auseinandersetzung über die große globale Perspektive des Zusammenlebens der enger miteinander verbundenen Kontinente in den nächsten Jahrzehnten.“
 

Klaus Stüwe, geboren 1966 in Nürnberg, Professor für Politische Systemlehre und Vergleichende Politikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Vertrauensdozent der Konrad-Adenauer-Stiftung.