Der Arbeiter sei zum Sklaven seines Fabrikherrn geworden, zur Ware, zur Sache, empörte sich der Zeitungsredakteur und Sozialrevolutionär Karl Marx in seinen Reden, wie er sie im Frühjahr 1849 im Kölner Gürzenich hielt. Man müsse endlich „alle Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes Wesen ist“. Ein paar Straßen weiter, in der Kolumbaschule, gründete in jenen Tagen ein unbekannter junger Priester einen „Gesellenverein“ für junge Handwerker – und trug eine ähnliche Einschätzung der politischen Verhältnisse vor wie der Redakteur Marx: Scharen verarmter Bürger seien vom Kapital so abhängig, „dass ihr Los noch schlimmer ist als das Los des Sklaven“. Und das alles nur, weil das Christentum in den „Betkammern“ praktiziert und nicht zur humanen Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit genutzt werde.
Karl Marx und Adolph Kolping – so hieß der junge Feuerkopf aus der Kolumbaschule – sind sich höchstwahrscheinlich nie begegnet. Aber auf christlicher Seite gab es wohl keine soziale Initiative, die dem marxistischen Entwurf so gekonnt Paroli bieten konnte wie die Idee des ins Risiko und in die Menschen verliebten „Gesellenpfarrers“. Mitten in den dramatischen Umbrüchen des industriellen Zeitalters wurde Kolping zum Pionier eines sozialen Christentums.
Wenn das Kolpingwerk am 8. Dezember den 200. Geburtstag seines Gründers (und am 4. Dezember 2015 seinen 150. Todestag) mit großem Aufwand feiert, dann kann das vor dem Hintergrund globaler sozialer Herausforderungen durchaus ein ermutigendes Signal für die ganze Kirche sein.
Hochwürden und Tagelöhner
Allen Legenden zum Trotz führte den Sohn eines Schäfers und Analphabeten keineswegs ein gerader Weg zum Priestertum und zum Engagement für die Handwerksburschen. Von früh an träumte er von geistigen Sphären, als Student und junger Kaplan widmete er sich der theologischen Wissenschaft. Zäh ist er gewesen: Der Dreizehnjährige wurde bei einem Schuster in die Lehre gegeben – und büffelte neben seiner harten Arbeit wie ein Wilder, als ihm ein Pfarrer in der Nachbarschaft Privatstunden in Latein vermittelte. Im Kölner Marzellengymnasium durfte er als 24-Jähriger endlich zusammen mit zwölfjährigen Jungen die Schulbank drücken.
Der Aufstiegsbesessene, der damals ziemlich überheblich über seine Erfahrungen mit der „Volkshefe“ sprach, hatte noch einen harten Bekehrungsprozess vor sich. Seine erste Stelle bekam er in Elberfeld, heute ein Teil von Wuppertal. Plötzlich musste sich Hochwürden Kolping mit Hungerlöhnen, unterernährten Kindern und politischen Machtfragen befassen. Er begann, sich über die frommen Phrasen vieler Prediger zu ärgern und das Fassadenchristentum der satten Bürger anzuprangern – und stieß im einst auch von ihm verachteten einfachen Volk auf eine ungeahnte Glaubenskraft und die Fähigkeit zum Teilenkönnen.
Veränderung durch Erziehung
Fachkundige Historiker bestätigen inzwischen, dass sich Kolping mit den Handwerksgesellen exakt jene soziale Schicht für sein Engagement gewählt hat, die am stärksten unter den Folgen der Industriellen Revolution litt und aus der sich das mittlere Bürgertum ebenso rekrutierte wie das rapide zunehmende Lumpenproletariat. Nicht die Fabrikarbeiter, sondern die Handwerksgesellen bildeten vor 1848 die revolutionäre Basis in Deutschland. Die Konkurrenz der billigen Industrieprodukte trieb unzählige Werkstätten in den Ruin; die noch verbliebenen lieferten sich nach dem Wegfall der alten Zunftordnungen brutale Wettkämpfe um die knapp gewordene Kundschaft.
Die Gesellen, die früher im Haushalt des Meisters mitgelebt und praktisch zur Familie gehört hatten, waren zu bloßen Lohnarbeitern geworden, vagabundierten oft als heimatlose Streuner herum. Ihnen wollte Adolph Kolping statt der Einsamkeit in den Mietskasernen und zwielichtiger Verbrüderung in den Spelunken eine echte Heimat schaffen. Die „Gesellenhäuser“ sollten Treffpunkte für die ortsansässigen jungen Handwerker sein, Zentren für Unterhaltung, berufliche Weiterbildung, weltanschauliche und lebenspraktische Information.
Man sieht: Der gewaltsamen Revolutionen so abholde Priester Kolping hatte durchaus die Veränderung der Gesellschaft im Sinn – allerdings auf sanfte, am einzelnen Menschen orientierte Weise. Er hielt wenig vom Auswechseln der Machteliten und vom Ummodeln der Strukturen, umso mehr aber von der geduldigen Erziehung des Einzelnen zu einem neuen Bewusstsein und Verhalten.
Kirchliche Obrigkeit
Man möchte meinen, das ganze katholische Deutschland hätte diesen Mann und seine zukunftsträchtige Idee wie ein Geschenk des Himmels begrüßen müssen. Doch während sich Kolping nach Köln versetzen ließ und überall im Rheinland Gesellenvereine zu gründen begann, reagierten das behäbige Bürgertum und die kirchliche Obrigkeit keineswegs immer begeistert auf die neuartigen Gedanken.
Kolping hatte für jeden Gesellenverein einen geistlichen Leiter vorgesehen, den Präses, sozusagen als Seriositätsgarantie, doch gerade das nahm man ihm übel. Schickte es sich denn für einen Hochwürdigen Herrn, dauernd mit Handwerksburschen zusammenzusitzen? Gehörte so ein fleischgewordenes Tugendvorbild nicht auf die Kanzel und in die Studierstube? Entsetzt waren manche Glaubensbrüder auch darüber, dass der katholische Gesellenverein protestantische Mitglieder aufnahm!
Das Wachstum des Verbandes war freilich nicht mehr aufzuhalten. Auf den Katholischen Generalversammlungen, den Vorläufern der deutschen Katholikentage, gehörte Kolping zu den gefragten Rednern. Ableger der Gesellenvereine entstanden in Bayern, Sachsen, Österreich, Böhmen und Ungarn, ja sogar im amerikanischen St. Louis. Als Adolph Kolping am 4. Dezember 1865 im Alter von nicht einmal 52 Jahren an Herzasthma starb, zählte der Verband, der mit sieben Gesellen begonnen hatte, bereits fast 25.000 Mitglieder. Heute sind es mehr als 500.000 in 61 Ländern der Erde. 1991 hat Papst Johannes Paul II. den „Gesellenvater“ seliggesprochen.
Kolpings Erfolgsgeheimnis
Kolpings „Erfolgsgeheimnis“ lag nach außen hin in seiner geschickten Verbindung von Vereinsautarkie und Anbindung an die Großorganisation Kirche. Blickt man tiefer, so wird man Kolpings eigentliches Geheimnis in seiner überzeugenden Verbindung von Evangelisation und Weltdienst entdecken.
Der „Gesellenpfarrer“ war einer der Ersten, die die bis dahin übliche saubere Scheidung von irdischen Problemen und himmlischem Heil durchbrachen. „Es gibt überhaupt keine absolute Trennung zwischen dem religiösen und dem irdischen sozialen Leben, zwischen Himmel und Erde“, so Adolph Kolping. Dem wirklich religiösen Menschen sei alles religiös, was Gott eingerichtet habe, auch die scheinbar rein „weltlichen“ Dinge. Deshalb sei die Trennung der Religion von den sogenannten irdischen Fragen „die große allgemeine Versündigung an der Gesellschaft, und diese Versündigung hat uns das große soziale Elend bereitet“.
Christian Feldmann, geboren 1950 in Regensburg, Journalist, Rundfunk- und Buchautor, mehr als fünfzig Buchveröffentlichungen, in sechzehn Sprachen übersetzt.