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by Raimund Friderichs

Das „neue“ Waldsterben aus der Sicht forstwirtschaftlicher Praxis

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Das „neue“ Waldsterben, verursacht durch Stürme, Dürre, massiven Insektenbefall und neuartige Pilzkrankheiten, ist in aller Munde. Neue „Heilsbringer“ machen sich auf den Weg und empfehlen den Waldeigentümern und Förstern, der Wald solle sich selbst überlassen werden. Die Natur wisse am besten, wie sich die Dinge wieder von selbst regulieren. Von Büchern, die über solche romantischen Weisheiten zu berichten wissen, lässt sich natürlich wohl leben (!), ohne dass den Betroffenen geholfen ist. Bevor ich auf gängige Mythen eingehe, muss ich den Leser mit einigen Fakten konfrontieren.

In unseren Wäldern wachsen jedes Jahr rund 120 Millionen Kubikmeter Holz neu hinzu. Davon werden lediglich rund 96 Millionen Kubikmeter geerntet und genutzt; der Rest verbleibt im Wald, was dazu führt, dass unsere Wälder seit dem Zweiten Weltkrieg vorratsreicher und gleichzeitig älter werden. Hinzu kommt ein seit Jahrzehnten forcierter Waldumbau in Richtung Laubholz; aktuell beträgt der Laubholzanteil insgesamt 48 Prozent. Fakt ist jedoch, dass das von uns nachgefragte Holz überwiegend aus Nadelholz besteht. Verschiedene Holzarten können ebenso wenig beliebig verwendet werden, wie man aus Äpfeln keinen Bananenquark herstellen kann.

Forderungen nach dem Bau von Häusern aus Laubholz sind schon deshalb nicht einfach umzusetzen, weil die meisten Laubhölzer nicht die dazu notwendigen technischen Eigenschaften besitzen, die die Baugesetzgebung vorschreibt. Und wenn doch, dann sind diese nur mit extrem hohem technischem Aufwand, verbunden mit hohen Kosten und einer chemisch-thermisch-technischen Veränderung des Holzes, zu erzielen. Das aber führt wiederum dazu, dass das Endprodukt in seinen Grundzügen zwar (noch) aus Holz besteht, von den ursprünglichen Vorzügen des Holzes im Vergleich zu Stahlbeton in den CO2-Bilanzen und der Recyclingfähigkeit jedoch nichts mehr übrig bleibt. Bevor Forschung und Wissenschaft keine praktikablen Lösungen gefunden haben, darf das Nadelholz nicht in einem „vorauseilenden Gehorsam“ durch Laubholz ersetzt und stattdessen das benötigte Nadelholz aus der russischen Taiga oder dem skandinavischen Großkahlschlag importiert werden.

 

Wald ist Kultur, nicht Wildnis

 

Zweifellos spielt der Wald bei der Bekämpfung der Klimaerwärmung eine entscheidende Rolle. Wald entzieht erstens beim Wachsen der Bäume durch die Photosynthese der Atmosphäre Kohlenstoff und baut ihn in das Holz ein. Diese Speicherung wird zweitens verlängert, wenn das Holz geerntet und in Häusern verbaut oder für Möbel, Fußböden oder Fenster verwendet wird. Holzprodukte sind ein CO2-Speicher, solange sie nicht verrotten. Und drittens ist zu berücksichtigen, dass die Verwendung von Holz andere, energieintensive Materialien wie Beton, Stahl oder Plastik ersetzt, die auf der Basis fossiler Rohstoffe hergestellt werden. Da unsere Wälder nachhaltig bewirtschaftet werden, erschöpft sich dieses Waldwarenlager Holz auch nicht. Echte Ökohäuser kann man deshalb nur aus Holz bauen. Nun fordern Naturschutzverbände zunehmend, man solle den Wald nicht nur umbauen, sondern stilllegen. Sie behaupten, es sei ein wirksamer Beitrag zum Klimaschutz, Wälder wachsen zu lassen. Hierzu sollte man den Blick über den Tellerrand richten und unsere Wälder genauer unter die Lupe nehmen.

In Mitteleuropa sind Wälder nicht nur Natur, sondern auch Kultur. Seit Jahrtausenden hat der Mensch die Wälder verändert und kultiviert. Ein Wald ist zwar naturnah, dennoch ist er eine Kulturform. Kein Mensch käme auf die Idee, Altbauten stillzulegen und bis zur Unbewohnbarkeit verfallen zu lassen – trotz Wohnungsmangel. Ebenso sollten wir unsere Wälder nicht einfach nur stilllegen, sondern den bereits seit über dreißig Jahren eingeschlagenen Weg des ökologischen Waldumbaus weiter beschreiten, damit die Wohlfahrtsleistungen der Wälder für die Allgemeinheit gesichert bleiben.

Die Stilllegung von (Kultur-)Wäldern und die Entwicklung von „Wildnisgebieten“ sind mitnichten ein Beitrag zum Klimaschutz. Das Gegenteil ist richtig: Die „Wildnis“, nach der sich viele Städter sehnen, ist volkswirtschaftlich, ästhetisch und ökologisch den meisten Wirtschaftswäldern deutlich unterlegen. Ein Wald, der nicht bewirtschaftet und gepflegt wird, kann kein Holz liefern und die skizzierte dreifache Klimaschutzleistung erbringen. Wer weiß schon, dass echte Urwälder sogar völlig CO2-neutral sind? Die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre entspricht in Urwäldern exakt der CO2-Freisetzung durch das zeitgleiche Verrotten absterbender Bäume. Die Bilanz ist ausgeglichen und damit gleich null! Die Klimaschutzleistung solcher Urwälder besteht ausschließlich in der Speicherung großer Mengen CO2, solange diese Wälder intakt sind. Deshalb ist jeder Eingriff in bestehende Urwälder klimaschädlich, weil damit gebundenes CO2 freigesetzt wird. Ein (neuer) Entzug von Kohlenstoff aus der Atmosphäre aber findet nicht statt, im Gegensatz zu unseren heimischen, bewirtschafteten Kulturwäldern. Es ist weitaus wirksamer, unsere Wälder weiterhin ökologisch zu bewirtschaften und das Holz vor Ort sinnvoll zu nutzen, als hiesige Wälder stillzulegen und damit den Import von Holz aus den letzten Urwäldern der Welt sogar noch zu befeuern.

 

„Verschon‘ meinen Wald, zünd‘ and’re an“

 

Deutschland ist seit 2008 Rohholzimporteur, das heißt, wir benötigen wesentlich mehr Holz, als wir den heimischen Wäldern entnehmen. Aktuell beträgt die Menge an unverarbeitetem Holz, das aus dem Ausland zur Deckung des heimischen Markts importiert werden muss, rund sechs Millionen Kubikmeter – und das überwiegend aus Ländern, in denen bei Weitem nicht unsere hiesigen ökologischen Standards gelten. Übrigens überwiegt beim Import das Nadelholz, da hochwertiges Laubholz in Deutschland kaum nachgefragt wird; es wird überwiegend nach China exportiert.

„Global denken – lokal handeln“ kann deshalb nur bedeuten, das heimische Holzangebot umfassend zu nutzen, sonst wird dieses Prinzip umgekehrt, und wir machen uns an einer „Sankt-Florian-Politik“ mitschuldig, nach dem Motto „Heiliger Sankt Florian, verschon’ meinen Wald, zünd’ and’re an“. Dabei müssen wir nicht einmal ein schlechtes Gewissen haben, denn ausgerechnet für unsere heimische Forstwirtschaft gilt der Grundsatz: Nur was langfristig ökologisch richtig ist, dient der Ökonomie.

Die in unseren Nationalparks proklamierte Philosophie „Natur Natur sein lassen“ ist daher kein zu verallgemeinerndes Vorbild. Auch Nationalparkgebiete wurden vor ihrer Stilllegung über Jahrtausende kulturell genutzt und verändert. Es müsste also korrekt heißen: „Kultur verwildern lassen“. Dass aus diesen ehemaligen Kulturwäldern durch Stilllegung einmal eine echte „Wildnis“ wird, ist ebenso unwahrscheinlich, wie aus dem Kölner Dom durch ein Renovierungsverbot wieder ein Felsen entsteht. Zum Steinhaufen wird er nach langer Zeit ganz sicher – aber echte Urwälder wird es in Mitteleuropa erst wieder nach der nächsten Eiszeit geben, wenn Bäume in einer nachfolgenden Warmzeit die entstandene Tundra zurückerobern müssen.

Wir brauchen zur Rettung des Klimas – und damit auch zur Rettung unserer heimischen Wälder – einen verantwortungsethischen Ansatz und nicht Ideologien, die mehr schaden als helfen. Die Klimawirkung der Holzverwendung mildert bereits jetzt vierzehn Prozent der gesamten CO2-Bilanz in Deutschland und könnte weiter gesteigert werden, wenn dem Produkt Holz mehr statt weniger Raum eingeräumt würde.

 

Tiefe Gräben zwischen Land und Stadt

 

Auch die zunehmende Technikfeindlichkeit bei der Bewirtschaftung der Wälder hilft nicht weiter. Es wird auch bei der technischen Waldbewirtschaftung Weiterentwicklungen geben, die zu besseren Lösungen führen. Die Angst vor Holzerntemaschinen hängt vermutlich eher mit dem Gefühl zusammen, für das uns andere Nationen belächeln: „German Angst“. Die Wissenschaft ist uns jedenfalls eine größere Hilfe, als es manche selbst ernannte „Experten“ sind, die sich lautstark einbringen und die öffentliche Meinung stark beeinflussen. Leider spricht die Politik zunehmend auf sie an, was dazu führt, dass aufgrund von Fehleinschätzungen viele schädliche Forderungen – auch im Bereich Klimaschutz – an die Förster und Waldeigentümer gestellt werden.

Die romantische Sehnsucht nach der Natur – vermutlich aus mangelnder Kenntnis über die Zusammenhänge in der Urproduktion von Holz erwachsen – schlägt bisweilen in Wut gegenüber denjenigen um, die in den ländlichen Regionen von der Landnutzung leben. Und so werden die Gräben zwischen den ländlichen Regionen und den Städten tiefer.

Menschen, die sich der Urproduktion in der Land- und Forstwirtschaft verschrieben haben, sind Idealisten und müssen es auch sein. Aktuell sehen sie sich aber zunehmend von Ideologen und ihren unkritischen Anhängern diskreditiert. Welcher Städter würde seinen gutbezahlten Job in einem klimatisierten Büro freiwillig und dauerhaft mit einem Waldarbeiter tauschen, der täglich acht Stunden bei jedem Wetter unterwegs ist und dann auch noch den „Frevel“ begeht, alten Bäumen das Leben zu nehmen? Dass Stühle und Schreibtisch im Büro der Stadt trotzdem im besten Falle als Vollholzmöbel hergestellt sind – geschenkt! Hauptsache, auf den Möbeln glänzt ein Siegel zum Nachweis ökologischer Waldwirtschaft, auch wenn das Zertifikat letztlich die Herkunft des Holzes aus Plantagen belegt, die sich auf ehemaligen tropischen Urwaldstandorten befinden.

 

Waldumbau dauert, Klimawandel ist schneller

 

Die mittlerweile große Dringlichkeit von Klimaschutzfragen lässt hoffen, dass auch den heimischen Wäldern wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Wälder in Mitteleuropa siechen derzeit zunehmend dahin. Die Forstwirtschaft ist damit die erste Branche, die unter den aktuellen Wetterereignissen nachhaltigen Schaden erleidet. Ob die Gesellschaft, die diesen Schaden durch ihr Verhalten mitverursacht hat, nur für Sonntagsreden steht und mit oft falschen Forderungen die Lage noch verschlimmert, bleibt abzuwarten. Wirklich helfen würde es, wenn jeder, der mit dem Finger auf andere zeigt, auf die drei Finger derselben Hand achtet, die auf ihn zurückweisen: „Man sollte“ meint, dass „man“ sein eigenes Verhalten ändern muss – und nicht das der anderen. Und erst recht nicht das der Förster, die bereits seit über dreißig Jahren unermüdlich die Wälder in Richtung Klimastabilität umbauen und dabei vermutlich doch auf verlorenem Posten stehen, weil ihnen die Zeit davonläuft. Waldumbau dauert Jahrzehnte. Klimawandel geht offensichtlich schneller.

Im Trend liegen Bücher, die den Wald als Wildnis erneut romantisieren und die inzwischen selbst in seriösen Medien wie im Zweiten Deutschen Fernsehen und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ihre Podien finden. Dabei zählen deutsche Forstwissenschaftler zum Besten, was die Forstwirtschaft weltweit zu bieten hat. Sie bekommen jedoch kaum eine Bühne, weil ihre Botschaften nicht emotional genug sind.

Der Film des „bekanntesten Försters aus Deutschland“, der seit Januar 2020 nach dem gleichnamigen Bestseller in den Kinos läuft, lässt uns Förster Schlimmes befürchten. Der Autor ist ein „Guru“, dem seine Jünger blind folgen. Meine Einstellung ihm gegenüber – wir haben gemeinsam studiert – ist gelassen, selbst wenn ich seine Angriffe gegen die Kollegenschaft zunehmend als ehrverletzend empfinde.

Wenn jeder bei sich selbst mit dem Klimaschutz beginnen würde, hätten wir vielleicht eine Chance, die Klimaerwärmung abzumildern. Unseren Wäldern wird das übrigens egal sein. Für uns Menschen ist das allerdings eine Überlebensfrage.

 

Raimund Friderichs, geboren 1962 in Ediger (Mosel), seit 2007 Leiter des Forstbetriebs der Unternehmensgruppe Fürst von Hohenzollern, seit 2011 Prokurist der Hohenzollern Forstdienste GmbH.

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