Asset Publisher

Solidarität und Wettbewerb schließen sich nicht aus

Asset Publisher

Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland hat sich in seiner nunmehr 65-jährigen Geschichte bewährt. Es hat maßgeblich dazu beigetragen, dass sich nach den schlechten Erfahrungen der Weimarer Republik erstmals auf deutschem Boden dauerhaft ein demokratisch-parlamentarisches System etablieren konnte. Es hat sich als tauglich erwiesen, im Jahre 1957 zunächst das Saarland und im Jahre 1990 die neuen Bundesländer im Osten zu integrieren und es hat es geschafft, stets bundesstaatliche und landesspezifische Interessen in einer vernünftigen und für alle fruchtbaren Weise auszugleichen.

Gleichwohl wurde spätestens in den 1990er-Jahren eine zu enge Verflechtung zwischen bundesstaatlichen und Länderkompetenzen offenkundig, sodass eine Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung im Sinne klarerer Kompetenzzuordnungen in der sogenannten Föderalismusreform I unausweichlich wurde. Dieser ersten, im Jahre 2006 in Kraft getretenen Reform folgte die Föderalismusreform II, deren wichtigstes Ergebnis die Einführung einer Schuldenbremse für Bund und Länder war.

 

Eigen- und Mitverantwortung

Im Wesentlichen unberührt von beiden Föderalismusreformen blieb das System des horizontalen Finanzausgleichs. Es gründet auf dem Auftrag des Grundgesetzes an den bundesdeutschen Föderalismus zur „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ (Artikel 72) beziehungsweise sogar zur Wahrung der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ (Artikel 106). Ein allzu starkes Auseinanderdriften in Armuts- und Reichtumszonen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland widerspricht mithin dem bündischen Prinzip. Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht in einschlägigen Urteilen immer wieder klargestellt, dass dies nicht eine finanzielle Gleichstellung der Länder bedeuten kann, sondern vielmehr eine hinreichende Annährung ihrer Finanzkraft zur Wahrnehmung der ihnen verfassungsrechtlich zukommenden Aufgaben. Eigenverantwortung und bündische Mitverantwortung müssen von daher immer in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, sodass man durchaus von einem dynamischen Antagonismus zwischen Solidarund Wettbewerbsföderalismus sprechen kann.

Kritiker dieses Ausgleichsystems führen immer wieder an, die gegenwärtige Ausgestaltung des Solidarprinzips führe zu weitreichenden Ungerechtigkeiten. Leistungsstarke Bundesländer würden bestraft, indem ihnen ein Teil ihres wohlverdienten Ertrags weggenommen und an andere verteilt würde. Nutznießer seien diejenigen, die weder hinreichende Eigenanstrengungen zur Haushaltskonsolidierung unternähmen noch sich in ausreichendem Maße um die Stärkung ihrer Wirtschaftskraft bemühten.

 

Schieflagen bei der Steuerverteilung

Dass dies schon im Ansatz falsch ist, zeigt ein Blick in die Systematik des Bund-Länder-Finanzausgleichs. Dieser gründet nämlich nicht, wie gerne geglaubt, in erster Linie auf dem Solidarprinzip. Er ist vielmehr auch ein Instrument, um diejenigen finanzpolitischen Verwerfungen zu korrigieren, die aufgrund unseres Systems der Steuererhebungen entstehen. Dabei ist bezeichnend, dass der Terminus technicus auch nicht „Geber- und Nehmerländer“, sondern vielmehr „ausgleichsverpflichtete und ausgleichsberechtigte“ Bundesländer lautet.

Was es damit auf sich hat, kann man am Beispiel des Saarlandes, das als „Nehmerland“ gilt, sehr plastisch erläutern: Mit einer Wirtschaftskraft von 31.364 Euro pro Einwohner lag das Saarland 2012 im Bundesländerranking auf dem siebten Platz, also klar im oberen Mittelfeld. Das benachbarte Rheinland-Pfalz lag mit 29.431 Euro ebenso hinter dem Saarland wie die Länder Berlin, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und die ostdeutschen Bundesländer. Allerdings schlägt sich die vergleichsweise hohe Wirtschaftskraft nicht in einer entsprechenden Finanzkraft nieder. Dies liegt an unserem System der Steuerverteilung. Zunächst ist das Saarland aufgrund des Wohnortprinzips bei der Lohnsteuererhebung strukturell benachteiligt. Aus Rheinland-Pfalz pendeln tagtäglich 10.000 Arbeitnehmer mehr ins Saarland als umgekehrt. Deren Lohnsteuer, die im Saarland erwirtschaftet wird, fließt allerdings Rheinland-Pfalz zu. So erklärt sich zu einem Teil, dass Rheinland-Pfalz trotz einer geringeren Wirtschaftskraft mit 1.546 Euro pro Person über eine bessere Finanzkraft verfügt als das Saarland mit nur 1.240 Euro. Aufgrund dieses Effektes der Steuerzurechnung sind auch Länder wie Niedersachsen und Schleswig-Holstein finanzkräftiger als das Saarland. Rechnet man hinzu noch die etwa 17.000 Einpendler aus Lothringen, die gleichfalls ihre Lohnsteuer nicht im Saarland entrichten, so verschärft sich diese Schieflage zusätzlich. Sie wird auch nicht ausgeglichen von den circa 7.600 luxemburgischen Arbeitnehmern, die im Saarland ihren Wohnsitz haben. Denn deren Lohnsteuer wird aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens mit dem Großherzogtum Luxemburg dort abgeführt. Schließlich gilt das Wohnsitzprinzip auch nicht bei der Zuweisung der Kapitalertragssteuer. Diese bleibt nämlich zu einem Teil in den Sitzländern der Kapitalgesellschaften und wird nicht den Wohnsitzländern der Anleger zugeteilt.

All das zeigt: Der Finanzausgleich ist kein Akt der Solidarität von reichen gegenüber armen Bundesländern – er ist vielmehr eine Korrektur bestehender Schieflagen im Steuerverteilungssystem. Würden die Steuern von Anfang an dahin zugeteilt, wo sie erwirtschaftet werden, würde die Schieflage erheblich entschärft werden.

 

Solidarität bei unverschuldeten Notlagen

Das heißt jedoch nicht, dass das Solidarprinzip im bundesdeutschen Föderalismus keine Rolle spielt. Im Gegenteil: So ist etwa die bündische Hilfe für die neuen Bundesländer beim Abbau der teilungsbedingten Sonderlasten im Rahmen von Solidarpakt I und II, die nunmehr seit über zwanzig Jahren geleistet wird, ein Ergebnis des Solidarprinzips. Gleiches gilt für die Sanierungshilfen, die dem Saarland aus der bündischen Gemeinschaft zugute kommen. Beiden Fällen lag jedoch die Tatsache zugrunde, dass eine die Solidarität begründende unverschuldete Notlage vorhanden war. Für die neuen Bundesländer ist das offenkundig. Für das Saarland wurde die unverschuldete Haushaltsnotlage im Jahre 1993 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt. Die verspätete Eingliederung in die Bundesrepublik Deutschland, die Kohlekrise der 1960er-Jahre und schließlich die Stahlkrise der 1970erund 1980er-Jahre machten immer wieder milliardenhohe Investitionen notwendig, um einerseits extreme soziale Verwerfungen abzufedern und andererseits den Strukturwandel energisch voranzutreiben.

Wenn heute das Saarland diesen Strukturwandel erfolgreich bewältigt und sich zu einer wirtschaftsstarken, modernen Industrieregion entwickelt hat, so wäre dies gewiss nicht ohne die Solidarität der bündischen Gemeinschaft möglich gewesen. Es wäre aber auch nicht möglich gewesen ohne den Ehrgeiz und den festen Willen, sich im Länderwettbewerb zu behaupten und sich in den maßgeblichen Kennziffern wie dem Bruttoinlandsprodukt, der Arbeitslosigkeit, der Erwerbstätigkeit et cetera vom ewigen letzten Platz ins obere Mittelfeld hochzuarbeiten. Insofern steht das Saarland exemplarisch für den Erfolg des vom Wettbewerbsgedanken ebenso wie vom Solidarprinzip geprägten bundesdeutschen Föderalismus.

 

Von der horizontalen zur vertikalen Steuerverteilung

Dennoch stellt sich die Frage, ob der Bund-Länder-Finanzausgleich in seiner jetzigen Form für die Zukunft noch tragfähig ist oder ob man die anstehenden Verhandlungen für die Zeit nach 2019 nicht zu einer grundlegenden Reform nutzen sollte. Denn Tatsache ist zum einen, dass die neuen Bundesländer bei allen Aufbauleistungen an die Wirtschaftskraft der westlichen Bundesländer längst noch nicht heranreichen können. Was man sich zu Beginn der 1990er-Jahre noch erhoffen konnte, hat sich fast ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung als Illusion erwiesen. Auch in den kommenden Jahren werden angesichts der divergierenden Finanz- und Wirtschaftskraft horizontale Transfers stattfinden müssen. Dies führt zum andern dazu, dass der Dauerstreit zwischen den Ländern um den Bund-Länder-Finanzausgleich auch für die Zukunft vorprogrammiert ist. Ständige Debatten und Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht binden aber nicht nur Ressourcen, die an anderer Stelle besser investiert wären. Sie untergraben überdies die Akzeptanz und die Wertschätzung unserer föderalen Verfassung.

Aus diesem Grund wäre es eine Überlegung wert, ob nicht die Vertikalisierung der Steuerverteilung eine gangbare Alternative zum heutigen System darstellt. Dabei würden die bundesstaatlichen Steuereinnahmen zunächst auf Bundesebene gesammelt und dann nach genau festgelegten Maßstäben zielgerecht verteilt. Diese Maßstäbe könnten auf der einen Seite die regionale Wirtschaftskraft pro Einwohner, auf der anderen Seite der unabweisbare Finanzbedarf des Bundeslandes zur Erfüllung der gesetzlich vorgegebenen Aufgaben sein. Wirtschaftsstarke Regionen würden so für ihre Leistungsfähigkeit stärker als bisher belohnt. Gleichzeitig wäre eine aufgabenadäquate Finanzausstattung eines jeden Bundeslandes gewährleistet. Wettbewerb und Solidarität kämen also gleichermaßen zur Geltung, ohne dass jedoch das Verhältnis der Bundesländer untereinander belastet würde.

Diese Idee ist im Übrigen nicht neu. Sie wurde bereits 1969 vom damaligen Bundesfinanzminister Franz-Josef Strauß propagiert. Sie scheiterte im Bundesrat am Widerstand der damals finanzstarken Bundesländer.

 

Annegret Kramp-Karrenbauer, geboren 1962 in Völklingen, Landesvorsitzende der CDU Saar, seit August 2011 Ministerpräsidentin des Saarlandes.

comment-portlet