Asset Publisher

Konsequenzen der Europawahl aus einer Brüsseler Sicht

Asset Publisher

Die Bruchlinie in der Europäischen Union (EU) verschiebt sich. Nicht links oder rechts, sondern pro- oder anti-europäisch ist das neue Gegensatzpaar. Das wird die Integration nicht aufhalten, aber erschweren. Die Fraktionen des Europaparlaments haben sich noch nicht konstituiert, neue Partner müssen sich finden oder allein kämpfen. Auch in die bestehenden politischen Familien könnte noch etwas Bewegung kommen, wohl ohne die Kräfteverhältnisse zwischen Christlichen und Sozialdemokraten zu verändern. Dennoch lässt sich kurz nach der Wahl zum Europäischen Parlament sagen: Die Arithmetik der Macht wird neuen Rechenregeln folgen.

Ein zentraler Block der Europafreunde von den Grünen bis zu den Christlichen Demokraten wird noch dringender als bislang schon gemeinsame Projekte finden, aus- und auch durchfechten müssen. Getrieben auch von der steigenden Zahl der Europaskeptiker, wird sich die Zusammenarbeit zwischen Christ- und Sozialdemokraten für die nächsten fünf Jahre institutionalisieren. Sie können nicht ohneeinander. Miteinander aber haben sie eine Mehrheit, mit Grünen und Liberalen als fallweisen Partnern sogar eine sehr komfortable, für konstruktive Politik. Bislang geschah dies hauptsächlich aus institutionellem Selbstbehauptungstrieb des Parlaments gegenüber dem Europäischen Rat. Es ging im gelegentlich allzu giftig geführten Endwahlkampf in Deutschland womöglich unter, aber die großen Fraktionen haben aus Parlamentsperspektive in der vergangenen Wahlperiode gemeinsam einiges erreicht: Den Staats- und Regierungschefs haben sie etwa Zugeständnisse beim EU-Haushaltsrahmen abgerungen, der Bankenregulierung ihren Stempel aufgedrückt. Künftig sitzt die Opposition wahrnehmbar im Haus.

Ein Fünftel der Abgeordneten des neuen Europaparlaments gewann das Mandat mit einem europakritischen, -skeptischen, populistischen, unappetitlichen oder rechtsextremistischen Wahlkampf. So unterschiedlich sind diese Parteien, dass noch unklar ist, ob einige von ihnen zu Fraktionen zusammenfinden und damit tatsächlich Schlagkraft im Parlament bekommen oder ob sie sich auf Rhetorik und Stimmabgabe oder -verweigerung als politische Mittel beschränken müssen. Legitimation gegenüber ihrem Wähler jedenfalls werden viele der neuen Abgeordneten im Widerstand gegen jedweden Integrationsschritt erwerben wollen.

Die Opposition wird in den Reihen des Plenums lauter, wahrnehmbarer und stärker sein als bisher. Nigel Farage, mit seiner „Unabhängigkeitspartei“ UKIP britischer Wahlsieger, sagte in der Wahlnacht: „Ich will nicht nur, dass Großbritannien die Europäische Union verlässt. Ich will, dass Europa die Europäische Union verlässt.“ Er prophezeite ein Ende der Unvermeidlichkeit der weiteren europäischen Integration. Es hätte schlimmer kommen können, das zeigten schon die enormen Sprünge an den Finanzmärkten am Tag der Wahl: Die Indizes in Mailand, Madrid, Frankfurt sowieso gingen nach oben, die Kreditkosten der Krisenländer sanken – alles Belege, dass Investoren den Kritikern nicht zutrauen, eine ganze Währungsunion in die Knie zu zwingen. Die Entwicklung der Europäischen Union wird von dieser Wahl dennoch beeinflusst werden. In einem Klima der Nervosität und der damit gelegentlich verbundenen politischen Aggressivität in großen und wichtigen Mitgliedsstaaten der Union, in manchen Fällen in einem Klima der Angst ums politische Überleben aber könnte es eine Politik der vorwärtsdrängenden Vertiefung schwer haben; eine Politik, die eine Vertragsreform zur Voraussetzung hätte, umso mehr.

 

Die Nachbeben kommen noch

Die ersten Tage nach der Wahl mit ihrer zunächst selbstbezogenen institutionellen Geschäftigkeit machten deutlich, dass derlei Auswirkungen in Brüssel noch kein Thema sind. Die Erdbeben in Frankreich, im Vereinigten Königreich, in Dänemark und Griechenland, wo die Linkspartei Syriza die meisten Stimmen erhielt, sorgten dort für größere politische Erschütterungen als in der EU-Hauptstadt. Die Nachbeben werden kommen: Denn die Lesart, der Erfolg des Front National sei ein Problem des französischen Präsidenten und der von UKIP eines des britischen Premierministers, wird jenen beiden nicht gefallen.

Zwar lässt sich tatsächlich keine EU-übergreifende Anti-EU-Front ausmachen, nicht einmal in den Krisenländern mit ihrer nach wie vor hohen Arbeitslosigkeit. Zwar planierte der Sozialdemokrat Matteo Renzi in Italien die Ambitionen der Bewegung des vormaligen Komikers und heutigen Systemkritikers Beppe Grillo, gewann in Spanien der regierende christdemokratische Partido Popular. Zwar mag durchaus zutreffend sein, was Wahlforscher nahelegen, dass Protestwähler glauben, bei der Europawahl halbwegs gefahrlos ihre Regierung bestrafen zu können: Auswirkungen hat das Wählerverhalten dennoch.

David Cameron versuchte in Telefongesprächen vor dem ersten Zusammentreffen der EU-Staats- und Regierungschefs mehrere Amtskollegen bereits davon zu überzeugen, dass sie künftig die nun „an der Urne ausgedrückte Sichtweise der Bürger beachten“ und Kompetenzen eher an die Hauptstädte zurückverlagern als neue nach Brüssel geben sollten. Das dürfte sich intensivieren, je näher Camerons selbst ausgerufenes Referendum über die Zugehörigkeit des Vereinigten Königreichs zur EU rückt, je näher aber vor allem die Unterhauswahl im nächsten Jahr kommt, in dem die UKIP bislang nicht vertreten ist. Frankreichs überfälliges, da bislang nicht ausreichendes – eine Feststellung der EU-Kommission – wirtschaftliches Reformprogramm, dürfte ebenfalls Schaden nehmen. Populisten mit ihren einfachen Rezepten haben es leicht, dagegen zu sein. Die EU ist in ihrem Funktionieren auf Mitglieder angewiesen, die willens und in der Lage sind, eingegangene Verpflichtungen, etwa aus dem Wachstums- und Stabilitätspakt der Währungsunion, zu erfüllen.

 

Rückkehr zum Laissez-faire?

Sanktionsmöglichkeiten fehlen weitgehend, auch wenn die EU in der Integration so weit vorangekommen ist, dass die französische Rentenreform die öffentliche Meinung in Deutschland erregt und umgekehrt. Die Gefahr besteht, dass die nächste EU-Kommission mit Sanktionen zurückhaltend sein wird oder muss: Eine wachsende, in Teilen Europas auch neue Sensibilität gegenüber dem Einfluss der Europäischen Union auf nationale Politik könnte dafür sorgen. Der unmittelbare Effekt wäre ein Glaubwürdigkeitsverlust für die Währungsunion, mittelbar eine Rückkehr des Laisser-faire mit einer möglichen Destabilisierung von Finanzmärkten und ganzen Staaten. Für die Politik der künftigen Europäischen Kommission heißt das aber auch: Sie wird sich eingeladen fühlen, sich auf Vorhaben zu konzentrieren, die Europa tagtäglich erfahrbar machen, wie im ablaufenden Mandat die Abschaffung der Roaminggebühren. Und sie wird sich auf die großen, wichtigen Projekte stürzen müssen, als erstes: Europas Energieversorgung für die Zukunft zu sichern. Gelingen der EU solche Schritte, werden die kommenden fünf nicht ihre schlechtesten Jahre sein.


Florian Eder, geboren 1977 in Deggendorf, seit 2011 EU-Korrespondent von „Welt“ und „Welt am Sonntag“ in Brüssel.