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by Michael Braun

Mathias Énard erhält den Literaturpreis der Konrad-AdenauerStiftung 2018

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Europa entstammt dem Mittelmeer. Das zumindest sagt der Mythos. Mathias Énard sprach darüber, als er im März 2017 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhielt. „Europa war eine libanesische Prinzessin, die an einem Strand bei Sidon von einem Gott des Nordens entführt wurde, der sie begehrte: Zeus. Europa, Tochter König Agenors, hat nie einen Fuß auf unsere Landstriche gesetzt; Europa hat ihr Leben im südöstlichen Mittelmeerraum zwischen Phönizien und Kreta verbracht.“ Die Folgerungen sind höchst politisch: „Europa ist eine illegale Einwanderin, eine Ausländerin, eine Kriegsbeute. Ihre Geschichte ist eine Mittelmeergeschichte, eine Geschichte von Begehren und Eroberung.“

 

Énards Metapher für die Geschichte Europas ist vielsagend. Wir müssen uns der orientalischen Ursprünge der europäischen Kultur erinnern. Der kulturelle und sprachliche Raum rund um das Mittelmeer hat die europäische Identität grundlegend geprägt, bis zu den Wanderungs- und Auswanderungsbewegungen des frühen 21. Jahrhunderts. Der Mittelmeerraum, so beschließt David Abulafia (Universität Cambridge) seine Biographie des Mittelmeers (2013), ist die „Region, in der es zu den weltweit wohl intensivsten Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Gesellschaften kam“. Davon erzählt Mathias Énard in seinem Roman Kompass (2016). Das Buch zeugt von der Faszination, die der Orient auf die neuzeitliche europäische Kulturgeschichte ausstrahlt. Am 6. Mai wird Mathias Énard nun in Weimar mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2018 ausgezeichnet.

 

Mathias Énard wurde am 11. Januar 1972 im westfranzösischen Niort geboren, einem kleinen Ort zwischen Poitiers und La Rochelle. Von dort aus brach er auf in die Welt. Er studierte zunächst zeitgenössische Kunst. Anfang der 1990er-Jahre kam er ans Pariser Institut national des langues et civilisations orientales. Mit geschärftem Sinn für die politische Situation der Zeit erlernte er die arabische und die persische Sprache: „Es war die Zeit, als nach den algerischen Wahlen im Jahr 1991 ein Bürgerkrieg begann. Die einen ergriffen Partei für die Islamische Heilsfront FIS, die anderen gegen einen radikal politischen Islam, der alle Teile der Gesellschaft erfasst“ (Gespräch im Tagesspiegel, 22. März 2017).

 

Nach dem Studium lebte Énard in Teheran, Beirut, Damaskus, einem syrischen Dorf, wo er Französisch unterrichtete, und in Rom (mit einem Stipendium der Villa Medici 2005/06). Längere Aufenthalte führten ihn nach Brüssel, zuletzt auch nach Berlin: „Das heißt 25 Jahre außerhalb Frankreichs. Man lernt viel“ (Deutschlandfunk, 17. März 2017). Im Jahr 2000 zog Énard nach Barcelona, in den multikulturellen Stadtteil El Raval. Dort arbeitete er bei Kulturzeitschriften mit, war Mitglied der Redaktion der französischen Zeitschrift für Literatur und PhilosophieInculte – und führt das libanesische Restaurant „Karakala“ in der Torrent de L’Olla.

 

Énards literarische Karriere begann mit dem Roman Zone, der 2008 in Frankreich (2012 in deutscher Übersetzung) erschien und mit dem deutsch-französischen Candide-Preis sowie mit dem Prix Décembre ausgezeichnet wurde. Der Roman wurde in Deutschland ebenso wie in Frankreich als gelungenes Experiment begrüßt: ein fast sechshundertseitiger, fast ohne Punkt und Komma auskommender Bewusstseinsmonolog eines Geheimagenten und französisch-kroatischen Ex-Söldners im Jugoslawienkrieg. Die „Zone“ ist das Mittelmeer, Wiege und zugleich Wunde der abendländischen Zivilisation, von Homers Ilias bis zu Sten Nadolnys Roman Ein Gott der Frechheit (1994), ein Herrschaftsgebiet der zumeist „wütenden Götter“. Gesäumt ist es – so die geschmeidige Übersetzung aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, die sich fast aller Romane Énards angenommen haben – „von Felsen und Bergen jener Steinhaufen die auf ebenso viele Gräber Leichengruben Massengräber hinweisen auf eine neue Karte ein anderes Netz von Spuren Straßen Schienen Flüssen die nach wie vor vergessene verehrte anonyme oder in der großen Geschichtsrolle verzeichnete Leichen Überreste Bruchstücke Schreie Gebeine mit sich führen“.

 

24 Kapitel hat das Buch, ebenso viele Gesänge hat Homers Epos. Doch Énards „homerische Reise“ (so Katharina Teutsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 29. Oktober 2010) ist weder Kriegsreportage noch Agententhriller. Gleichwohl erzählt er voller Spannung vom Umgang mit den traumatischen Erinnerungen der europäischen Geschichte, von Tragik und Rache, von Versöhnungsmut und Wiedergutmachungswillen.

 

 

Vom Bosporus nach Gibraltar

 

Die folgenden Romane Énards sind Wächter an den Toren des Mittelmeeres, das seit den Römern auch im imperialistischen Sinne „mare nostrum“ genannt und um dessen Vorherrschaft seit Jahrhunderten gerungen wurde. Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten (2010/2013) spielt am Bosporus, zur Zeit Michelangelos, Straße der Diebe (2012/2013) an der Meerenge von Gibraltar, in der Gegenwart. Die Meerengen verbinden Europa mit Asien und mit Afrika, es sind historische und zeitpolitisch bedeutende Orte, Geografien von Kampf und Krieg, aber auch bedeutsame Kulturtransferräume. Bis heute gilt Gibraltar in der Geschichte des Mittelmeers mit seiner Mischbevölkerung aus Spaniern, Briten, Genuesen, Maltesern, Juden, Hindus und Muslimen als „eine der letzten Überlebenden einer einstmals weitverbreiteten Erscheinung: der mediterranen Hafenstadt“ (Abulafia).

 

Der Michelangelo-Roman, vorzüglich als Einstieg in Énards Werk geeignet, greift eine überlieferte Anekdote aus dem 16. Jahrhundert auf, deren historische Wahrheit allerdings nicht verbürgt ist: Michelangelo wird von dem Sultan von Konstantinopel beauftragt, den Bauplan für eine Brücke über den Bosporus zu entwickeln. Tatsächlich war Michelangelo 1506 in Konstantinopel, und es gab bereits einen Konkurrenzentwurf von einer Brücke am Goldenen Horn, der von Leonardo da Vinci stammte. Énard nutzt den Einfall, um jene „Geschichte von verlorenen Schlachten, vergessenen Königen, verschwundenen Tieren“ zu erzählen, die der Titel seines Romans elegant von Rudyard Kiplings Indienbuch ausborgt. Es ist eine Geschichte von der Geburt des Kosmopolitismus aus dem Geiste des künstlerischen Genies. Énards Michelangelo ist Bildhauer und Architekt, Gelehrter und Lehrer, der sein Wissen wie Galilei in leichtfüßigen Diskursen an seinen Schüler weitergibt, aber er ist auch europäischer Diplomat und Geschichtenerzähler mit großer Neugier auf den Orient. Nachdem er sich in das Nachtleben von Konstantinopel gestürzt hat, kommt ihm die Vision von einer Brücke, die Orient und Okzident verbindet: „Wie viele Kunstwerke braucht es, bis die Schönheit in die Welt kommt“, lässt Énard seine Figur denken und am Ende mit einem unvollendeten Bauwerk, „heimlich“, wie es heißt, die Stadt verlassen. Der Roman, gewürdigt mit dem Prix Goncourt des lycéens 2010, ist schmal und episodisch aufgebaut, wie ein Rondo.

 

 

Abenteurerbuch und politisches Menetekel

 

Ganz anders der folgende, 2012 erschienene Roman Rue des voleurs, der 2013 ins Deutsche übersetzt wurde (Straße der Diebe). Es ist ein Abenteurerbuch und ein politisches Menetekel, angesiedelt zwischen Arabischem Frühling, den Protesten in Spanien und der politischen Bewegung ¡Democracia Real Ya! („Echte Demokratie Jetzt!“) zu Beginn der 2010er-Jahre. Der Held des Romans, ein junger Marokkaner namens Lakhdar aus der Banlieue von Tanger, kämpft auf schlechte Weise für das Gute. Er pendelt zwischen seinem Heimatland und Spanien, auf der Suche nach Arbeit und Freiheit, nach Kunst und Liebe. Seine Entscheidung, auf europäischem Boden zu bleiben und die „fruchtlosen Hin- und Rückfahrten auf der Meerenge“ zu beenden, lässt sich datieren, auf das Jahr 2011: „Ende Oktober, als die Tunesier gerade auf demokratischem Weg die Islamisten von der Ennahda-Partei an die Regierung brachten und die Spanier sich anschickten, die Katholiken vom Partido Popular zu wählen, wie auch die Marokkaner etwa zum selben Zeitpunkt den Weg zu den Urnen antraten“.

 

Énard liest seine Zeit genau, aber er liest ihr nicht die Leviten. Moralisieren und Romantisieren ist ihm ebenso fremd wie Politisieren. Er ist ein Erzähler von Übergängen und Wanderungen, ein epischer Anthropologe. Die Wege, die Europa mit Afrika und mit Asien verbinden, sind für ihn das, was die Menschen aus ihnen machen: Pilgerwege, Kreuzwege, Irr- und Suchwege. Migration und Integration, Terror und Interkulturalität spielen mit. Die Flüchtlinge, die auf ihrem Weg nach Europa im Mittelmeer sterben, werden ebenso wenig verschwiegen wie die islamistischen Attentate in Marrakesch und in Europa. Am Ende des Romans Straße der Diebe, das man denen, die ihn noch nicht gelesen haben, nicht verraten sollte, steht eine faustdicke und nicht unbedingt erfreuliche Überraschung.

 

 

Orientalische Renaissance

 

Der umfangreiche Roman Kompass (2015/2016) ist nach einhelliger Ansicht der Kritik ein „literarisches Meisterwerk“ (Ijoma Mangold). Eine „Enzyklopädie der orientalischen Kultur“, schrieb Der Spiegel, „das Traumbuch des Jahres“, lobte Die Welt, „ein Phänomen in der französischen Gegenwartsliteratur“, so die Süddeutsche Zeitung. Im März 2017 erhielt Mathias Énard für den Roman den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. In ihrer Laudatio sagte die französische Historikerin Leyla Dakhli: „Meiner Ansicht nach ist Kompass ein Weg der Erkenntnis und des Verstehens. Der Roman zeigt die Möglichkeiten eines glücklichen Wegs auf. Er verläuft über die Wissenschaft, die Liebe und die Schönheit der Bücher wie der Menschen.“

 

Der Roman holt weit aus. Der Musikwissenschaftler Franz Ritter erinnert sich in einer schlaflosen Nacht seiner Liebe zu der genialen Orientwissenschaftlerin Sarah, seiner Studienorte in der arabisch-persischen Welt und der Kulturgeschichte des Morgenlandes – und das natürlich nicht zufällig in Wien, dem Tor zum Orient. Es kommt ein vielfarbiges Orientbild zustande, das nicht auf Politik und Religion reduzierbar ist, das fern von Imperialismus und Kolonialismus agiert (in Anknüpfung an Edward Saids wegweisendes Buch Orientalismus, 1978) und das tief in die europäische Kulturgeschichte hineinragt, so tief, dass es kaum noch möglich ist, europäische und orientalische Erbteile voneinander zu scheiden. Im Gegenteil, so will es Énard erzählen, die Kulturen durchdringen und befruchten sich, und es ist der beständige Austausch zwischen Europa und dem Orient, aus dem wir lernen können. Sarah ist im Roman die Lehrmeisterin dieser Renaissance des Orients aus kosmopolitischem Geiste: „Der Orient ist eine Konstruktion aus Bildern, ein Komplex von Repräsentationen, aus dem jeder, je nach Standpunkt, nach Belieben schöpfe. Es sei naiv zu glauben, fuhr Sarah mit lauter Stimme fort, dass dieser Koffer mit orientalischen Bildern heute allein ein spezifisches Gut Europas sei. Nein. Diese Bilder, diese Schatztruhe, seien allen zugänglich und alle steuerten zu ihnen bei mit dem, was sie jeweils an Kulturgütern hervorbrachten, neue Aufkleber, neue Porträts, neue Musik.“

 

Die Nostalgie aus Tausendundeine Nacht wird damit in eine epische Kulturgeschichte verwandelt, in der mühelos Verbindungen zwischen Cervantes’ Don Quijote und den arabischen Ursprüngen dieses ersten europäischen Romans, zwischen Goethe und dem persischen Dichter Hafis, Balzac und seinem Übersetzer ins Arabische, Joseph von Hammer-Purgstall, zwischen Heine und Stendhal, dem konservativen Wahhabismus und den Disneyfilmen hergestellt werden können. Damit entwickelt Énard einen in diesem Format ganz und gar neuartigen literarischen Mediterranismus. Kunstvoll verknüpft er historische Anekdoten, Reisebeschreibungen, politische Reportagen, Fotodokumente, Quellen aus der Literatur- und Musikgeschichte zu einem Erzählteppich, in dem orientalische und abendländische Quellen beständig ineinanderfließen.

 

 

Beethovens Kompass

 

Énards Thema ist die Selbstverständigung Europas über seine Herkunft aus der arabischen Welt. Seine Romane bahnen Wege zur orientalischen Kultur und zur Geschichte der mediterranen Nachbarn. Sein Werk ist somit Vorbild eines literarischen Mediterranismus, für den Europas Verantwortung am Mittelmeer liegt. Orient und Okzident sind für Énard, ganz im Sinne Goethes, nicht mehr zu trennen. Mit seinem Plädoyer für eine wechselseitige Inspiration der Kulturen ist Énard eine Gegenfigur zu den identitären Bewegungen, ein Anti-Houellebecq, dem es auf historische Durchleuchtung der Gegenwart ankommt, nicht auf düstere Zukunftsbilder von einer islamistischen Beherrschung Europas. Énard schreibt an einem kosmopolitischen Werk. Es ist ein Werk des Austauschs der Kulturen und ein Werk des Friedens. Das ist, auch im Gedenken an das Ende des „Grande Guerre“ vor hundert Jahren, von europäischer, ja globaler Bedeutung.

 

Und von da aus wird auch die Geschichte von Beethovens Kompass erhellt, die Énards jüngstem Roman den Titel gibt. Beethoven besaß tatsächlich einen Kompass, ein kleines, rundes Metallgerät mit farbigem Rahmen und Windrose. Es kam in den Besitz von Stefan Zweig, den man wegen seines Sammlereifers gelegentlich „Erwerbs-Zweig“ nannte, und wanderte dann über den Schweizer Mäzen Hans Conrad Bodmer ins Bonner Beethoven-Haus. Dort sieht man, dass Beethovens Gerät nach Norden weist und nicht, so Énards Erfindung, nach Osten. Aber die Fiktion hat eine Pointe. Mit der Nadel weist auch der historische Beziehungssinn nach Osten. Beethoven kannte den Orientalisten Hammer-Purgstall. Der hatte dem Komponisten vorgeschlagen, orientalische Texte zu vertonen. Daraus ist nichts geworden, außer dem Türkischen Marsch in Beethovens Festspiel Die Ruinen von Athen (1811). Was bleibt, ist die Orientierung der Klassiker und der Modernen, sei es in der Literatur oder in der Musik, am Osten. So stattet Énard seine Romanfigur mit einem „der wenigen Kompasse aus, die in den Orient zeigen, dem Kompass der Erleuchtung. Das Wesentliche ist, den Osten nicht zu verlieren.“

 

 

 

Die zitierten Werke von Mathias Énard sind beim Hanser Verlag, Berlin, erschienen und aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller.

 

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Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Leiter des Referates Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung, außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln.

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