Bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren gab es intensive, sehr kontroverse Fachdiskussionen zum Gemeinsamen Unterricht, damals unter dem Begriff „Integration“, die aufgrund der ideologischen Überlagerung durchweg sehr emotional geführt wurden. Dogmatiker auf beiden Seiten, pro und contra Integration, standen sich fast feindselig gegenüber. Eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern und Praktikern, die eine „gemäßigte Integration“ befürworteten, wird bis heute zur Gruppe der „Widersacher“ gezählt (Hans Wocken 2010). Dogmatische Integrationsbefürworter sprachen der Sonderschule für Lernbehinderte (früher: Hilfsschule) sowie der Schule für Erziehungshilfe die Daseinsberechtigung ab, vorgeblich wegen unzulässiger Etikettierung und Diskriminierung der Kinder, wegen mangelnder Effizienz sowie wegen ihrer Funktion als „Abschiebealternative“ für Regelschullehrkräfte. Würden diese Sondereinrichtungen nicht existieren, so wurde argumentiert, müssten Regelschullehrkräfte ihren Bildungsauftrag (endlich) vollumfänglich wahrnehmen.
Den entscheidenden Anschub für die Weiterentwicklung des Gemeinsamen Unterrichts zu einem „Integrativen/Inklusiven Bildungssystem“ brachte die Behindertenrechtskonvention 2006.[1] Seit 2010 sind alle Landesregierungen im Rahmen ihrer Kulturhoheit unter anderem verpflichtet, ein Integratives/ Inklusives Schulsystem zu entwickeln.[2] Die Fachdiskussionen haben zwar – auch aufgrund einer gewissen Ernüchterung auf der Basis bisheriger Praxiserfahrungen – an Schärfe verloren, die Anzahl der Dogmatiker auf beiden Seiten hat sich reduziert, die Auseinandersetzung bleibt jedoch deutlich ideologisch-moralisch geprägt.
Integration und Inklusion
Die beiden, in der aktuellen Bildungssituation präsenten Begriffe lauten Integration und Inklusion, die mit unterschiedlicher Akzentuierung benutzt werden. Auch wenn der Begriff Inklusion den der Integration sowohl in Fachdiskussionen als auch in öffentlichen Debatten weitgehend abgelöst hat, sind beide, historisch gesehen, nicht unabhängig voneinander zu betrachten, zumal die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) auch in der gesetzlich verankerten deutschen Fassung in Artikel 24 von einem „integrativen Bildungssystem“ spricht. Die vor circa 45 Jahren[3] beginnende Diskussion um die Integration von Kindern mit Behinderungen im Vorschulbereich setzte sich in den 1980er-Jahren als sogenannte Integrationsbewegung in der schulpädagogischen Theorie und Praxis in Deutschland fort. Betrachtet man die Begriffe von ihrem lateinischen Ursprung her, so zeigt sich bereits ein wesentlicher Unterschied: integrare kann übersetzt werden mit zusammenschließen, wiederherstellen (einer Einheit), während inclusio Einschluss, Zugehörigkeit bedeutet.
In der Sonderpädagogik wurde unter Integration die (Wieder-)Eingliederung von bisher aufgrund von Unterschieden – etwa jenen der schulischen Leistungsfähigkeit – Getrenntem/Ausgesondertem verstanden, im Sinne von Wiederherstellung einer Einheit. Inklusion als aktueller Begriff fokussiert hingegen die Akzeptanz und Wertschätzung der Vielfalt in der Gemeinsamkeit im Sinne einer selbstverständlichen Zugehörigkeit. Damit wird die natürliche Heterogenität in der schulischen Situation zur Normalität. Inklusion in diesem Sinne ist ein bildungspolitisch wie gesellschaftlich hochgestecktes Ziel, ein ideologischer Leitbegriff, von dessen Realisierung wir noch weit entfernt sind. Nach einem langen Prozess theoretischer und praktischer „Integrationspädagogik“, insbesondere im vorschulischen Bereich, sind wir heute zwar in der Lage, Dimensionen von Vielfalt wahrzunehmen. Deren Akzeptanz und Wertschätzung sowie deren pädagogisch konstruktive Berücksichtigung im Sinne spezifischer Unterrichts-, Differenzierungs- und Förderkonzepte im Gemeinsamen Unterricht ist allerdings noch in den Anfängen.
Gegenstand der bildungspolitisch-pädagogischen Bemühungen ist – relativ einseitig– die Gruppe der Kindermit Behinderungen und Beeinträchtigungen[4], die es bei differenzierter Betrachtung so gar nicht gibt. Aufgrund der Vielfältigkeit von Behinderungen, Beeinträchtigungen und Störungen kann man nicht einmal innerhalb einer Behinderungsform (etwa der körperlichen Behinderung) von einer homogenen Gruppe sprechen. Pädagogik im Kontext von Behinderung und Beeinträchtigung kann nur Einzelfallpädagogik sein. Jedes betroffene Kind hat seine je spezifischen Beeinträchtigungen, mehr oder weniger schwer, mehr oder weniger zu mildern oder zu kompensieren und mehr oder weniger akzeptiert und unterstützt in seinem sozialen Umfeld. Daraus ergibt sich für jedes Kind eine individuell-spezifisch erschwerte Lebens- und Lernsituation, der gerade im Zusammenhang mit Bildung und Förderung Rechnung getragen werden muss.
Hinsichtlich einer differenzierteren Betrachtung kann eine Kategorisierung der OECD (2005) hilfreich sein. Sie unterscheidet bei Kindern mit „besonderem Bildungsbedarf“ zwischen Kindern mit medizinisch definierten Behinderungen (geistige, körperliche, Sinnesbehinderung) und Kindern mit spezifischen Schwierigkeiten. Zur zweiten Gruppe gehören Kinder mit – in der Regel nicht organisch begründbaren – Lernbeeinträchtigungen, Problemen im (Sozial-)Verhalten oder mit Sprachstörungen, durch die ihre Lernsituation teilweise erheblich beeinträchtigt und erschwert wird. Einerseits laufen diese Kinder Gefahr, in einer Regelklasse nicht optimal gefördert, sozial randständig und demotiviert zu werden (vergleiche Haeberlin 1991; Bless 2000, 2007; Goetze 2008; Huber 2009; Vernooij 2013). Andererseits wird aber gerade für diese Gruppen in fast allen Bundesländern die Inklusive Beschulung stark forciert, ohne die teilweise umfänglich notwendige Unterstützung für die Kinder gewährleisten zu können. Es hat den Anschein, als würden hier mit unglaublicher Ignoranz und Selbstgerechtigkeit Kinder einer Ideologie geopfert!
Anhaltende Vorurteile
Hinsichtlich einer allgemeinen sozialen Integration von Menschen mit Behinderungen hat sich nur vordergründig ein Bewusstseinswandel vollzogen. Barrieren und Widerstände sind in Form von klischeehaften Vorstellungen, Vorurteilen und wenig differenzierten Meinungen nach wie vor in den Köpfen der Bevölkerung vorhanden. Vielfältige soziologische und sozialpsychologische Studien zeigen, dass Einstellungen und Vorurteile durch unterschiedliche Informations- oder Konfrontationsmaßnahmen nur schwer zugänglich sind, diese sogar verfestigend wirken können. Wenn sich bei Befragungen ergibt, dass eine überwältigende Mehrheit (selbstverständlich) für die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen auf allen Ebenen ist, so kann man davon ausgehen, dass aufgrund des moralisierenden Duktus der stark interessengeprägten Informationen und Aussagen im Vorfeld ein Teil der Antworten einem Bestreben nach „Political Correctness“ geschuldet ist.
In der unmittelbaren Konfrontation mit behinderten Menschen zeigt sich oft, dass die bisherigen Vorurteile und Verhaltensweisen nach wie vor tief verwurzelt sind (vergleiche Cloerkes 2007). Allerdings ist das unzulängliche oder fehlende „Inklusionsbewusstsein“ offenbar nicht nur ein deutsches, sondern ein in den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verbreitetes Phänomen (vgl. BRK Art. 8).
Unterschieden werden muss offenbar zwischen den grundlegenden Zielen der Gleichberechtigung und sozialen Integration aller Menschen in einer Gesellschaft und der Inklusion von Kindern mit Behinderungen in das Regelschulsystem. Hier scheinen die Befürchtungen und Widerstände in der Gesellschaft, insbesondere bei den Eltern, im Zusammenhang mit der Qualität der Bildung und Förderung ihrer Kinder zu stehen. Weder eine Senkung des allgemeinen Bildungsniveaus noch eine Reduzierung professioneller sonderpädagogischer Förderung im Gemeinsamen Unterricht wären pädagogisch und bildungspolitisch verantwortbar. Aufgabe der Bildungspolitik eines Staates beziehungsweise eines Bundeslandes ist es, eine begabungs- und bedürfnisgerechte Erziehung, Bildung und Förderung zu gewährleisten. Ein Schulsystem muss so gestaltet sein, dass allen Schülern, von Schwachbegabung über Durchschnittsbegabung bis zu Hoch- oder Spezialbegabung, von physischen Beeinträchtigungen unterschiedlicher Art und Ausprägung bis hin zu physischer Durchschnitts- oder Hochleistungsfähigkeit die notwendige individuelle Förderung und damit eine je spezifische Bildung ermöglicht wird. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Schule auch eine „Leistungsinstitution“ ist, deren Ziel es sein muss, bei allen Kindern und Jugendlichen den bestmöglichen Entwicklungs- und Lernerfolg zu sichern, Begabungen zu erkennen und zu fördern, vorhandene Leistungsressourcen zu aktivieren und auszuschöpfen, Erschwernissen und Beeinträchtigungen im Lernen professionell entgegenzuwirken. Ob diese Aufgaben in einer „Schule für alle“ so optimal zu bewältigen sind, dass man den Begabungen und Bedürfnissen aller Schüler gerecht werden kann, erscheint nach den bisherigen Erfahrungen und wenigen vorliegenden Studien eher unwahrscheinlich. Damit ist ein weiteres Problemfeld angesprochen.
Es geht nur um die Quote
Seit dem Jahr 1999 wird in den Statistiken der Kultusministerkonferenz (KMK) zur „Sonderpädagogischen Förderung in Schulen“ auch der Gemeinsame Unterricht in Regelschulen erfasst. Betrachtet man die „Integrationsquoten“ in mehrjährigem Abstand, so zeigt sich ein kontinuierlicher Anstieg, der sich in den letzten drei Jahren beschleunigt: 1999 – 11,8 Prozent, 2006 – 15,7 Prozent, 2010 – 22,3 Prozent, 2012 – 28,2 Prozent (KMK 2003–2013).
Inzwischen haben fast alle Bundesländer ihre Bemühungen verstärkt, Kinder mit Sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelschulen zu unterrichten. Vielerorts geschieht dies durch flexible Schuleingangsstufen, in denen der Stoff von zwei Schuljahren in drei Jahren absolviert werden kann, oder durch Auflösung von Förderschul-/Sonderschulgrundstufen für die Bereiche Lernförderung, Erziehungshilfe und Sprachförderung.[5] Ergänzt werden beide durch mehr oder weniger effektive Formen sonderpädagogischer Hilfesysteme für die betroffenen Kinder und für die Regelschullehrkräfte, zum Beispiel Mobile Sonderpädagogische Dienste oder die stundenweise oder Vollzeitzuordnung von Sonderpädagogen zur Allgemeinen Schule. Priorität hat dabei häufig die Anhebung der „Integrationsquote“, welche die Effektivität der Bemühungen eines Bundeslandes zur Umsetzung der BRK dokumentieren soll. Fundierte und umfassende pädagogische Konzepte Inklusiver Bildung, vom Elementarüber den Primar- bis hin zum Sekundarbereich, finden sich eher nicht. Von den vielfältigen Expertenvorschlägen zur Unterrichtsgestaltung in heterogenen Lerngruppen werden häufig sogenannte offene Lernformen präferiert, obwohl Untersuchungen zeigen, dass zum Beispiel schwächere Schüler von diesen Formen kaum profitieren (vergleiche Giaconia & Hedges 1982; Hartke 2007).
Analysiert man die vorgenannte Integrations-/Inklusionsquote von 2012 nach Art des Förderbedarfs, so zeigen sich deutliche Quotenunterschiede bezogen auf die einzelnen Gruppen. Während von den Kindern mit Sinnesbehinderungen (des Sehens beziehungsweise Hörens) 28,0 Prozent beziehungsweise 23,6 Prozent Allgemeine Schulen besuchten, waren dies bei Schülern mit geistiger Behinderung nur 2,8 Prozent. Von den Kindern mit Lernbeeinträchtigungen besuchten 11,9 Prozent den Gemeinsamen Unterricht, während Schüler mit Verhaltensstörungen zu 28,7 Prozent eine Regelschule besuchten. Die Zahlen zeigen zum einen, dass die verallgemeinernde Aussage der „Inklusion von Kindern mit Sonderpädagogischem Förderbedarf“ in ihrer simplifizierenden Undifferenziertheit die aufgrund unterschiedlicher Förderbedarfe entstehenden Praxisprobleme ausblendet und damit weder den betroffenen Kindern noch den Schulen beziehungsweise Lehrkräften gerecht wird. Zum anderen legen sie nahe, dass unterschiedliche Beeinträchtigungsformen nicht nur spezifisch-professioneller Unterstützung bedürfen, sondern dass sie im Kontext von Gemeinsamem Unterricht zu sehr divergierenden Bedarfsausprägungen und Problemsituationen führen, denen die Allgemeine Schule kaum beziehungsweise nur teilweise gerecht werden kann.
Die Komplexität von Behinderungen und Beeinträchtigungen und die Unterschiedlichkeit der sich daraus ergebenden Lebens- und Lernerschwernisse machen es erforderlich, dass es in einem Inklusiven Bildungssystem unterschiedliche, flexibel handhabbare schulische Organisationsformen gibt, ein gestuftes, auf verschiedenen Förderbedarf abgestimmtes Modell Sonderpädagogischer Förderformen. Die Differenziertheit des bisherigen Sonderschulsystems entstand eben aus der Notwendigkeit heraus, für die je spezifischen Förderbedarfe unterschiedlicher Gruppen von Behinderung und Beeinträchtigung passgenaue, qualitativ hochwertige professionelle Lern- und Förderformen zu entwickeln, die es den Kindern langfristig gestatten, als Erwachsene ihr Leben annähernd selbstbestimmt und gleichberechtigt zu gestalten. Diese notwendigen Formen gehen organisatorisch und qualitativ weit über Formen der inneren Differenzierung und Individualisierung, wie sie in Allgemeinen Schulen möglich sind, hinaus. Dass die Qualität Sonderpädagogischer Förderung innerhalb eines Inklusiven Schulsystems weitestgehend erhalten bleiben muss, bezweifeln selbst ausgeprägte Inklusionsbefürworter nicht. Die in Deutschland übliche apodiktische Begriffsinterpretation, Inklusion finde nur dort statt, wo Kinder mit und Kinder ohne Behinderungen/ Beeinträchtigungen in einer Klasse lernen, erscheint allerdings sehr verengt, wenn man den internationalen Sprachgebrauch betrachtet. In unseren Nachbarländern ist Inklusion dann gegeben, wenn Kinder gemeinsam in eine Schule, im Sinne des Schulhauses, gehen. Der Weltbericht Behinderung der Weltgesundheitsorganisation WHO (2011, 206) nennt für Europäische Länder drei parallel vorhandene Formen: erstens Förder-/Sonderschulen (zum Beispiel Deutschland, Benelux, Polen, Österreich, Ungarn); zweitens Integrierte Schulen, das heißt Schulen mit integrierten Spezial-/Sonderklassen (umfänglich vorhanden in Dänemark, Schweden, Finnland, Frankreich, Griechenland, der Schweiz); drittens Inklusive Schulen/Klassen (mehr oder weniger umfänglich vorhanden in fast allen Europäischen Ländern).
Ein Bildungssystem, welches diese Organisationsformen Sonderpädagogischer Erziehung und Bildung parallel vorhält, gewährleistet eine begabungs- und bedürfnisgerechte Bildung auch für Kinder mit Behinderungen und Beeinträchtigungen, ohne deren soziale Integration zu vernachlässigen. Es wäre an der Zeit, auch in Deutschland das Modell der „Integrierten Schule“ als dritte Organisationsform zu entwickeln, einer Schule, in der äußere Differenzierung bei voller Durchlässigkeit zeitweilig oder über längere Zeit möglich ist. Sie könnte das fehlende Glied zwischen den bisherigen Alternativen Förderschule oder Inklusionsklasse bilden.
Vorrangiges Kinderwohl
In Artikel 7 wird der Leitsatz der BRK im Zusammenhang mit Kindern explizit dargelegt: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“ (Absatz 2). Auf die Gewährleistung der notwendigen (sonderpädagogischen) Unterstützung für eine erfolgreiche Bildung der Kinder verweist Artikel 24 Absatz 2 d.
Das sind Vorgaben, die das Wohl eines Kindes mit Behinderungen sicherstellen sollen. Umso mehr verwundert es, mit welcher nonchalanten Ignoranz Kinder (und Eltern) zu einem Gemeinsamen Unterricht gezwungen werden, der sich lediglich durch die gelegentliche Anwesenheit eines Sonderpädagogen von herkömmlichem Unterricht unterscheidet. Vielfach besteht die Integrationssituation in einem interaktiven Nebeneinander mit zusätzlicher Einzelbetreuung eines Kindes mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen. Zudem kann man fragen: Dient es dem Wohl eines Kindes, wenn es tagtäglich erleben muss, dass nichtbehinderte Mitschüler schneller, mehr und ohne zusätzliche Hilfen lernen können; dass es trotz erheblicher Anstrengungen nie das Lernniveau der nichtbehinderten Kinder erreichen wird (zum Beispiel bei geistiger oder bei Lernbehinderung)? Dient es dem Lernen und der Motivation eines Kindes, in einer Lerngruppe zu sein, in der es nie ein Erfolgserlebnis für sich verzeichnen kann, in der es bei gemeinsamen Aktivitäten möglicherweise am Rande steht und nicht einbezogen wird? Dies sind für dogmatische Inklusionsakteure, die eine ideale Vorstellung von Anti-Diskriminierung durchsetzen wollen, politisch völlig unkorrekte Fragen. Stellt man aber das Wohl des Kindes, nicht eine Ideologie, in den Mittelpunkt, müssen diese Fragen nicht nur gestellt, sondern konstruktiv und konzeptionell beantwortet werden!
Zwang zu karitativen Sozialverhalten?
Die bloße Anwesenheit eines Kindes mit Behinderung oder Beeinträchtigung in einer Regelklasse schafft weder Integration noch Inklusion. Auch die Erschwernisse eines Kindes verschwinden in integrativen Settings nicht auf magische Weise. Eher verkümmern mögliche Ressourcen der Kinder aufgrund mangelnder professioneller Unterstützung einerseits, aufgrund von Demotivation und Resignation des Kindes andererseits. Studien zeigen, dass Kinder mit Lernbeeinträchtigungen und/oder mit Verhaltensstörungen in integrativen Klassen einen sehr niedrigen Sozialstatus haben, dass ihr Selbstwertgefühl weniger ausgeprägt ist als bei vergleichbaren Gruppen in Sonderschulen und dass sie hinsichtlich ihrer eigenen schulischen Leistungsfähigkeit weniger Selbstvertrauen besitzen (vergleiche Bless 2007; Huber 2009). Hinzu kommt, dass sie von ihren Mitschülern häufig stigmatisiert und diskriminiert beziehungsweise gemobbt werden. Berichte und Studien zeigen allerdings auch, dass es für Kinder mit manifesten Behinderungen durchaus positiv sein kann, mit nichtbehinderten Kindern zu lernen – vorausgesetzt, sie verfügen über eine mindestens durchschnittliche intellektuelle Leistungsfähigkeit. Das Kindeswohl scheint also besonders bei leistungsschwachen und bei Schülern mit Problemen im Sozialverhalten gefährdet zu sein, sowohl bezogen auf deren kognitives Lernen als auch auf emotionale und soziale Erfahrungen. Dabei ist die mögliche Ablehnung durch Mitschüler jeweils unterschiedlich emotional getönt: Schüler mit Lernbeeinträchtigungen werden eher verachtet, Schüler mit Verhaltensstörungen hingegen eher gefürchtet.
Inklusion betrifft allerdings nicht nur Kinder mit Behinderungen und Beeinträchtigungen, obwohl es in der Fachliteratur und auch bei Diskussionen so scheint. Die Selbstverständlichkeit, mit der vorausgesetzt wird, dass nichtbehinderte Kinder eine Integrationssituation akzeptieren und ihr emotional und intellektuell gewachsen sind, wirft die wiederum politisch unkorrekte Frage auf, ob die zwangsweise Verordnung von Inklusion und damit die Verordnung zu caritativ-sozialem Verhalten dem Wohlbefinden und dem Lernen nichtbehinderter Kinder förderlich ist. Im WHO-Weltbericht Behinderung (2011, 207) wird lapidar vermerkt, dass Inklusion nicht als Negativfaktor für die nichtbehinderten Schüler gelten könne. Haben nichtbehinderte Kinder im Zusammenhang mit Inklusion also keine Rechte? Es verwundert nicht, dass es zur Situation von Regelschülern in Integrativen Klassen keine Studien gibt. Die Ergebnisse könnten das idealisierte Bild einer Inklusiven Schule möglicherweise empfindlich stören. Es hat den Anschein, als werde die Sorge um das Kindeswohl bei behinderten oder beeinträchtigten Kindern auf Überlegungen zu technischen und förderpädagogischen Hilfen reduziert. Das Wohl von nichtbehinderten Kindern wird mit humanistisch-moralischer Begründung schlicht vorausgesetzt und damit ignoriert.
Mehr ideologiefreie Forschungen
Es ist in der Regel durchaus positiv, wenn langjährige, teilweise verkrustete Systeme durch aktuelle Entwicklungen zu einer intensiven Auseinandersetzung mit ihren Strukturen und Standards gezwungen werden. Dies gilt auch für ein Sonderschulsystem, das mehrere Jahrzehnte nahezu unverändert geblieben ist, sieht man von einer Erweiterung in den 1960er-Jahren bezogen auf Schulen für geistig Behinderte sowie Schulen für Erziehungshilfe ab. Zweifelsohne kann auch die Frage nach der positiven Wirkung einer gemeinsamen Unterrichtung in Allgemeinen Schulen für einen Teil der behinderten Kinder bejaht werden. Es wird jedoch auch immer Kinder mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen geben, die aufgrund ihrer erschwerten Lebens- und Lernsituation zeitlich befristet oder dauerhaft eine intimere, für sie psychisch und sozial adäquatere Lernumgebung sowie umfassende und spezifische Maßnahmen zur Lernförderung brauchen.
Die Entwicklung von Inklusiven Schulsystemen in den einzelnen Bundesländern verläuft bisher sehr uneinheitlich, nicht nur bezogen auf Rahmenbedingungen und Tempo, sondern auch bezogen auf Intensität und pädagogisch-fachliche Seriosität. Häufig sind die Entwicklungen gekennzeichnet durch eine umfassende Verleugnung der Diskrepanz zwischen totalisiertem Ideal und nicht bezwingbarer Wirklichkeit, zwischen Radikalforderungen und praktikablen Realstrukturen. Zwar hat sich international und national die Einstellung zu und der Umgang mit behinderten Menschen in den letzten Jahrzehnten in Richtung Akzeptanz, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung verändert. Für den Bereich der Erziehung und Bildung gilt das allerdings nur bedingt. Zum einen, weil in einer Leistungsgesellschaft soziale schulische Teilhabe keine Priorität hat, zum anderen, weil es bisher kein überzeugendes Modell einer Inklusiven Schule gibt, in dem die Divergenz von Ideal und Wirklichkeit auflöst und den Begabungen sowie den individuell-persönlichen Bedürfnissen aller Kinder, mit und ohne Behinderungen, umfänglich Rechnung getragen wird. Um ein solches Modell pädagogisch konzeptionell und schulorganisatorisch entwickeln zu können, bedarf es ideologiefreier, wissenschaftlich fundierter, empirischer Forschungen, die nicht nur die Situation der zu inkludierenden Kinder in den Blick nimmt.
Die bisherigen, qualitativ sehr unterschiedlichen empirischen Studien erbringen keine eindeutigen und verlässlichen Ergebnisse. Auch bedarf es einer realistischen Verwendung des Begriffs Inklusion, die unterschiedliche Organisationsformen für unterschiedliche Bedürfnisse im Rahmen eines Inklusiven Systems zulässt. Die UN-BRK verlangt nicht die Abschaffung der Sonderschulen, sondern die Sicherstellung des Rechts von Menschen mit Behinderungen, nicht vom öffentlichen Schulsystem ausgeschlossen zu werden (Artikel 24 Absatz 2 a), wie es in zahlreichen Mitgliedsstaaten bis heute der Fall ist. Auch Sonderschulen sind Institutionen des „öffentlichen Schulsystems“.
Monika A. Vernooij, war von 1997 bis 2010 Inhaberin des Lehrstuhls Sonderpädagogik I, Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
[1] United Nations: Convention on the Rights of Persons with Disabilities. New York 2006.
[2] Vergleiche Artikel 24 Absatz 1, Bundesgesetzblatt, Jahrgang 2008, Teil II, Nr. 35; Deutscher Bundestag 2009.
[3] Ausgangspunkt war 1968 die „Aktion Sonnenschein“, ein integratives Vorschulprojekt in München, initiiert von Theodor Hellbrügge.
[4] Mit den KMK-Empfehlungen (1994) wurde der Begriff „Behinderung“ aus dem sonderpädagogischen Vokabular entfernt und durch „Sonderpädagogischen Förderbedarf“ ersetzt. Die unterschiedlichen Arten von Behinderung beziehungsweise Beeinträchtigung wurden als umschriebene Förderschwerpunkte bezeichnet, zum Beispiel Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Es entstanden damit schulische – nicht wissenschaftliche – Kategorien, deren Bezeichnung die tatsächliche Behinderung eher euphemisiert.
[5] Gemeint sind hier Kinder mit Sprach-/Sprechstörungen, nicht Kinder mit anderen Muttersprachen.