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Geschichtennetzwerke und das postmoderne Wissen

by Michael Braun

Die Kunst des Erzählers Michael Köhlmeier

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Winston Churchill liebte es, beim Diktieren seiner Memoiren Zuhörer zu haben. Die Stenografin reichte dafür nicht hin. Sie hatte genug mit dem Aufschreiben zu tun. Deshalb wurden auch Familienmitglieder und Freunde herbeizitiert. Bald blieb nur noch die zehnjährige Tochter Mary übrig. Als Churchill sah, wie seine Tochter auf die Geschichte blickte, „als blätterte sie in einem Bilderbuch“, da blickte er auf die Geschichte wie sie. Michael Köhlmeier, dem am 25. Juni der Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2017 verliehen wird, gibt diese Anekdote in seinem Roman Zwei Herren am Strand (Erstauflage 2014) wieder. Zwei Herren erzählen sich und uns ihre Geschichte, Geschichten aus dem 20. Jahrhundert. Es sind Churchill und Chaplin, ein Politiker und ein Künstler, beide alt geworden und mit Nachruhm schon zu Lebzeiten gesegnet. Ein Biograph – den Köhlmeier als fiktive Figur in seinen Roman einschleust – macht sich daran, deren Leben zu erzählen. Er entdeckt Jahrhundertbiographien von unerbittlichem Ernst und von ebenso unerschütterlicher Komik. In ihnen kommt die Geschichte aus dem Museum der Moderne in das Atelier der Nachmoderne, um dort in spannende Geschichten verwandelt zu werden. „Die Weltgeschichte, so bombastisch sie auch mitunter auftritt, ist nur die Kulisse, vor der ein Mensch oder zwei Menschen oder ein halbes Dutzend einen Teil ihres Lebens leben. Man kann nur Geschichten von einzelnen Menschen erzählen, Geschichte als solche lässt sich nicht erzählen“, lässt Köhlmeier seinen Churchill sagen.

 

Verwandeln von Geschichte

Es gibt wohl kaum einen zeitgenössischen Schriftsteller, der sich des Erzählens mit einer solchen Vielfalt und Verve, mit Erfindungsgeist und Esprit angenommen hat, wie der am 15. Oktober 1949 in Hard am Bodensee geborene Michael Köhlmeier. Ein „natural born narrator“, so würdigt ihn Die Welt (18. Oktober 2014), in Anspielung auf einen Filmtitel. Auf der epischen Klaviatur beherrscht er alle Tonlagen: von Romanen und Novellen über Libretti, Hör- und Drehbücher bis zu Nachdichtungen von biblischen Geschichten, antiken Mythen, Märchen und Shakespeare-Dramen.

Erzählen ist für Michael Köhlmeier das Zurüsten von Geschichte und Lebensstoff als Stories, die im doppelten Sinne gut sind, weil sie zeigen, wie die Literatur ans Werk geht und was sie mit uns beim Lesen und beim Zuhören anstellt. Etwas vom Geheimnis seiner Erzählkunst lüften Köhlmeiers Nachdichtungen. Die klassischen Sagen des Altertums, die ihm der Vater, und die Märchen, die ihm die Großmutter erzählte, faszinierten ihn trotz oder gerade wegen ihrer Verschiedenheit so sehr, dass er sie „erzählend weiterspinnen“ wollte. Im Nibelungenlied, das Hebbel zufolge stumm und taub ist, weil es nichts über das Innenleben seiner Helden preisgibt, interessiert ihn die Psychologie der Figuren. Und für die Dramen Shakespeares, der Harold Bloom zufolge den modernen Menschen erfunden hat, nimmt ihn der innere Reichtum der Figuren ein; in ihnen sei vorgegeben, „wie der Mensch zu lachen und zu weinen habe“.

 

Mythen des Alltags

Mythen sind off ne Zeichensysteme, die sich in ihrer Ausdrucksweise, als Botschaft entfalten. Wie Roland Barthes, der im Nahkampf mit der Popkultur die Mythen in den Alltag abwandern sah, überträgt auch Köhlmeier die alten Geschichten in unsere Zeit: „Diese Sagen sind ein schwarzer, tiefer Spiegel, in dem wir uns immer wieder betrachten, weil er unser Bild sowohl in seiner Klarheit als auch in seiner Rätselhaftigkeit wiedergibt.“ Etwa die Geschichte der Odyssee, die Köhlmeier auf nur vierzehn Seiten so nacherzählt, dass ihre vielarmige Dramaturgie ebenso wie ihre Kernbotschaft zutage tritt: Es ist eine Heimkehr-, eine Abenteuer- und eine Liebesgeschichte. Odysseus irrt durchs Mittelmeer, Penelope wird von Freiern belagert, zwanzig Jahre hat sich das Ehepaar nicht gesehen, und doch ist nichts anderes als die gelingende Rückkehr die eigentliche Botschaft des Mythos.

Auch aus dem antiken Europa-Mythos schöpft Michael Köhlmeier in seinem Großen Sagenbuch des klassischen Altertums (1999) eine Geschichte von vielsagender Aktualität. Er konzentriert sich auf Europas Bruder Kadmos, der Sparta gründete, die Stadt der Krieger, und auf ihren Sohn Minos, den Vater der kretischen Kultur und der vorbildlichen Gesetzgebung. Die Entführung Europas hat so, folgt man Köhlmeiers Deutung, ambivalente Folgen. Der französische Schriftsteller und Übersetzer Mathias Énard kommt zu einer anderen Lesart. Bei der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur europäischen Verständigung 2017 sagte er: „Europa war eine libanesische Prinzessin, die an einem Strand bei Sidon von einem Gott des Nordens entführt wurde, der sie begehrte: Zeus. Europa, Tochter König Agenors, hat nie einen Fuß auf unsere Landstriche gesetzt. Europa hat ihr Leben im südöstlichen Mittelmeerraum zwischen Phönizien und Kreta verbracht. Europa ist eine illegale Einwanderin. Eine Ausländerin. Eine Kriegsbeute. Ihre Geschichte ist eine Mittelmeergeschichte, eine Geschichte von Begehren und Eroberung. Diese Metapher für die Geschichte Europas lehrt uns vieles: Wir tragen ihren Namen. Europa ist begehrenswert. Europa ist orientalisch.“

 

Literarischer Lebenslauf

„Ich bin“, schreibt Michael Köhlmeier, „in einer erzählsüchtigen Familie aufgewachsen und habe schon als Kind gewusst, dass ich gerne Schriftsteller werden möchte.“ Das vorliterarische Erzählen hat Köhlmeiers Entwicklung geprägt. Es umfasst Erfinden und Erinnern. Es ist gemeinschaftsbildend, verbindet die Generationen, muss aber aus der mündlichen Alltagspraxis in die individuelle Schriftform überführt werden, um Kunst zu sein. Das demonstriert der Roman Bleib über Nacht (1993), eine Nachkriegsliebesgeschichte über seine Eltern, die sich in Coburg begegnet sind.

Köhlmeier begann als Schüler im Kapuziner-Internat in Feldkirch zu schreiben, in einer Atmosphäre, die von Gruppendruck und Autoritätswettkämpfen geprägt war. Wie sehr Erzählen auch immer Staunen und Trösten ist, darüber gibt der Roman Die Musterschüler (1989) Auskunft. Der dritte frühe Schreibeinfluss – nach Elternhaus und Schule – war das Studium der Germanistik in Marburg (1970 bis 1978); daneben studierte Köhlmeier Mathematik und Physik in Gießen und Frankfurt am Main. 1975 schickte Köhlmeier einen Text zum Rauriser Literaturwettbewerb, vergaß ihn und wurde daran erinnert, als er einen Brief erhielt, in dem stand, dass er den Preis gewonnen habe. Michael Köhlmeier setzte sich in seinen VW, fuhr nach Wetzlar, ging spazieren und entschied sich, ab nun Schriftsteller zu sein.

 

Erzähler zum Hören

Sein literarisches Schaffen begann mit den Originalton-Hörspielen, die er Anfang der 1980er-Jahre über Konflikte der Arbeitswelt und soziale Randgruppen schrieb. Ein Durchbruch war die Sammlung von Neuerzählungen von Sagen des klassischen Altertums (1995 bis 1998, fünfzehn CDs). Seit 2007 läuft eine Reihe von weiteren Neuerzählungen antiker Geschichten in einer achtzigteiligen Sendereihe des Bayerischen Rundfunks, gesendet von ARD-alpha.

In den Nacherzählungen von biblischen, antiken und germanischen Mythen, neben den Romanen der zweite Hauptstamm seines Werks, stehen Götterschwank und Kriegskatastrophe nebeneinander, es geschehen kalkulierte Abstürze vom Erhabenen ins Vulgäre und Banale, die Figuren werden psychologisch vertieft. Wenn der Erzähler jemand ist, der „dem Hörer Rat weiß“, dann ist Michael Köhlmeier ein weiser Erzähler; in den Mythen liegt die „epische Seite der Wahrheit“ (Walter Benjamin). Das zeigt sein jüngstes Buch Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam? (2016). Orientiert an Grundfragen unserer Zeit, enthält der Band Märchen, Legenden und Geschichten über Helden aus Bibel und Antike, erzählt von Michael Köhlmeier und erklärt von dem Wiener Philosophen Konrad Paul Liessmann. Es geht um das Doppelgesicht der „Neugier“ in der biblischen Paradiesgeschichte, den fatalen Zusammenhang von „Gewalt“ und „Traurigkeit“, das „Daidalos-Prinzip“ der „Arbeit“: Unsere Arbeit ist die Lösung der (ökologischen, technischen, sozialen) Probleme, die uns die Maschinen hinterlassen, die wir zur Beschleunigung und Vereinfachung der Arbeit entwickelt haben.

 

Erzählen mit Tiefenwirkung

Michael Köhlmeiers episches Werk zeichnet sich aus durch ein Erzählen, das souverän und gelassen ist und es, bei aller Sympathie für die Figuren, an kluger Weitsicht nicht fehlen lässt. Der Autor vertritt die Auffassung, dass „unbedingte Menschenliebe“ und „unbedingter Menschenhass“ den Blick des Erzählers trüben. Deshalb lässt er seine Figuren zwischen Hoffnung und Depression schwanken, führt sie an die Siegesstätten und auf die Schlachtfelder der Geschichte, gibt ihnen eine archetypische Tiefenstruktur. Sie ist ein Grundmerkmal von Köhlmeiers Erzählen: „Wenn ich von einem Vater erzähle, und es schimmert dahinter ein Gedanke Abraham oder der Vater an sich, dann bekommt das eine ungemeine Tiefenwirkung, die jedes Erzählen rechtfertigt“, gab er am 12. März 1994 der Zeitung Die Presse zu Protokoll.

Der Roman Abendland, nominiert auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2007, erzählt eine Geschichte des 20. Jahrhunderts am Beispiel des fast hundertjährigen Mathematikers, Weltbürgers und Jazz-Fans Candoris (dem der Österreicher Leopold Vietoris Pate gestanden hat). Aufgezeichnet wird diese Lebensgeschichte von einem Schriftsteller. Beides – die Politik in der Geschichte und der persönliche Erzähler im Roman – sind wichtige Elemente von Köhlmeiers Kompositionskunst. Story und History, Faktum und Fiktion bilden eine epische Einheit. „Man kann nur Geschichten von einzelnen Menschen erzählen, Geschichte als solche lässt sich nicht erzählen“, schreibt Köhlmeier.

Das gleiche Prinzip bestimmt den Roman Zwei Herren am Strand(2016). Auch hier tritt ein Erzähler auf, der die verschlungenen Lebensgeschichten Charly Chaplins und Winston Churchills zusammenführt. Beide schließen einen Pakt: sich gegenseitig zu helfen, wenn einer von ihnen in schwere Depression verfällt. Der Roman ist, so die Kritik, ein „ausgefuchstes Fabulierspiegelspiel“ mit realen und erfundenen Quellen, eine Geschichte über eine weitgehend unbekannt gebliebene Freundschaft, die getragen wird durch den gemeinsamen, aber mit unterschiedlichen Mitteln geführten Kampf gegen Hitler. Die Frage nach Wahrheit und Täuschung, Gut und Böse grundiert auch den 2013 erschienenen Roman Die Abenteuer des Joel Spazierer, einen Schelmenroman über die Diktatoren und ihre Helfershelfer im 20. Jahrhundert.

Michael Köhlmeiers novellistisches Erzählen steht in der goetheschen Linie: Ein Problem wird pointiert, spannend inszeniert und in einer brüchigen Idylle aufgelöst. Sunrise (1994) ist eine Doppelgängergeschichte und moderne Adaption des Ackermanns aus Böhmen von Johannes von Tepl aus dem Jahr 1400. Idylle mit ertrinkendem Hund(2005), Buch der Stadt Köln 2013, ist eine Glückstrauererzählung, in der der Autor, unverschleiert wie selten zuvor, den Unfalltod der eigenen Tochter verarbeitet. 2016 erschien Das Mädchen mit dem Fingerhut, eine Coming-of-Age-Legende und eine provozierende Parabel auf die westeuropäische Einwanderungsgesellschaft, in der es nicht leicht fällt, zwischen Flüchtlingshelfer und Flüchtlingsopfer zu unterscheiden.

 

Redakteur des modernen Wissens

Aus dem reichen Stoffvorrat der abendländischen Kulturgeschichte schöpft Michael Köhlmeier seine Geschichten, vom Volksmärchen über Legende, historische Sage, Schelmenroman, Erinnerungsfiktion und Generationenepos bis zur zeitkritischen Novelle. Es geht um die Frage nach der Herkunft des Menschen und seiner christlich-humanen Wertorientierung angesichts der Herausforderungen der Gegenwart: Migration und Gewalt. Doch der Autor versteht sich nicht als Experte, der lehrt, was er weiß, sondern vielmehr als Philosoph, der nach dem fragt, was er nicht weiß. Michael Köhlmeier ist ein neugieriger Erzähler, ein Philosoph unter den Dichtern, ein Redakteur des postmodernen Wissens. Er rettet die „grands récits“, die Meta-Erzählungen von Heldenreise, Selbstaufklärung, Hermeneutik des Sinns, vor dem Vergessen. Jean-François Lyotard sah – in seinem auf Wunsch der kanadischen Regierung erstellten Bericht über den Zustand des postmodernen Wissens (1979) – diese europäischen Narrative in einer Zeit schwinden, die keine heroischen Subjekte mehr nötig hatte. Doch Köhlmeier legitimiert dieses Narrativ auf eine neue und einleuchtende Weise. Zwischen Tragödie und Idylle finden seine Erzählungen einen originellen Weg von poetischer Freiheit in politischer Verantwortung. Oder wie er es Churchill sagen lässt: Spannend ist eine Story dann, wenn es gelingt, sich erstens „verständlich auszudrücken, zweitens, das Narrative zu betonen und sich mit den Reflexionen zurückzuhalten“.

Literaturauswahl

Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam?, mit Konrad Paul Liessmann, Hanser Verlag, München 2016, 224 Seiten, 20,00 Euro.

Das Mädchen mit dem Fingerhut, Hanser Verlag, München 2016, 144 Seiten, 18,90 Euro.

Zwei Herren am Strand, Taschenbuch, dtv Literaturverlag, München 2016, 272 Seiten, 9,90 Euro.

Die Abenteuer des Joel Spazierer, Taschenbuch, dtv Literaturverlag, München 2014, 656 Seiten, 14,90 Euro.

Bleib über Nacht / Geh mit mir. Zwei Romane (zuerst erschienen 1993 und 2000), Taschenbuch, dtv Literaturverlag, München 2010, 9,90 Euro.

Idylle mit ertrinkendem Hund, Taschenbuch, dtv Literaturverlag, München 2010, 112 Seiten, 8,90 Euro.

Sunrise. Erzählung, Taschenbuch, Haymon Verlag, Innsbruck 2010, 96 Seiten, 9,95 Euro.

Die Musterschüler, Taschenbuch, dtv Literaturverlag, München 2009, 602 Seiten, 14,90 Euro. Abendland, Taschenbuch, dtv Literaturverlag, München 2008, 784 Seiten, 11,90 Euro.

Das große Sagenbuch des klassischen Altertums, Taschenbuch, Piper Verlag, München 2002, 640 Seiten, 14,00 Euro.

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Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Leiter des Referates Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung Sankt Augustin und außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln.

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