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Interview: Empowerment für Arbeitnehmer

Eva M. Welskop-Deffaa über Adolph Kolping und christliche Minderheiten in den Gewerkschaften

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Frau Welskop-Deffaa, am 8. Dezember 2013 jährt sich der Geburtstag Adolph Kolpings zum 200. Mal. Ist das ein Datum, das für die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften von Bedeutung ist?

Eva M. Welskop-Deffaa: Der 8. Dezember 2013 ist kein Datum, das im ver.di-Jahreskalender mit einem Ausrufungszeichen versehen ist, aber die Erinnerung an die Anfänge der Arbeiterbewegung – an Ferdinand Lassalle oder Adolph Kolping – ist sehr lebendig. Nicht nur mit Sicht darauf, welche Traditionsbestände es zu wahren gilt. Die Gründerfiguren des 19. Jahrhunderts fordern uns heraus, Veränderungen zu gestalten! Sie haben die Dramatik ihrer Zeit erkannt und sie haben darauf höchst innovativ geantwortet. Es ist ermutigend, sich das in Erinnerung zu rufen – nicht zuletzt deshalb, weil wir den Eindruck haben, dass wir in mancher Hinsicht vor ähnlichen Umbrüchen stehen: Das Zusammenwirken von Globalisierung, Digitalisierung und demografischer Dynamik markiert den Beginn eines neuen Zeitalters, ohne dass wir dafür schon eine treffende Begrifflichkeit haben.

 

Sie nennen Ferdinand Lassalle, man müsste bestimmt noch Karl Marx hinzunehmen. Aber es geht uns heute vor allem um Kolping. Also frage ich: Was ist von den christlichen Inspirationsquellen in der Arbeiterbewegung noch lebendig?

Eva M. Welskop-Deffaa: Nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Anfängen der Einheitsgewerkschaft, waren ihre christlichen Wurzeln wichtige Kraftquellen. Die Neugründung christlicher Gewerkschaften in den Wirtschaftswunderjahren verweist aber darauf, wie schnell Enttäuschungen zu Entfremdungen führten. Aktionsformen und Selbstverständnis von christlichen Gewerkschaften haben diese Entwicklung in den letzten Jahren weiter vertieft.

Das Christliche wurde im DGB- und Arbeitnehmerkontext immer stärker mit dem Konzept „gelber Gewerkschaften“[1] verbunden. Das macht es uns – also denjenigen, die als Christen in den Einheitsgewerkschaften aktiv sind – schwer, uns unzweideutig auf christliche Wurzeln zu beziehen und die christliche Soziallehre als gewerkschaftliche Inspirationsquelle aktiv zu nutzen.

 

Was heißt denn Einheitsgewerkschaft: dass sich verschiedene geistige Strömungen vereinen? Oder geht es heute nur noch darum, ökonomische Verteilungsfragen zu stellen?

Eva M. Welskop-Deffaa: Für die deutschen Gewerkschaften gilt generell, dass wir uns unserer geistigen Verortung neu vergewissern. Bei ver.di, gerade mal zehn Jahre jung, ist das in besonderem Maße der Fall, weil wir die unterschiedlichen Kulturen unserer Gründungsgewerkschaften aufnehmen mussten. Gewerkschaften sind mehr als Kampfvereine zur Durchsetzung von Tarifforderungen. Wenn der öffentliche Eindruck ein anderer ist, dann mag das daran liegen, dass ver.di beispielsweise Tarifverträge in verschiedenen Branchen parallel verhandelt und mit der Schwächung des Flächentarifvertrags die Anzahl der Haustarifverträge zugenommen hat. Aber es ist nicht so, als würde sich Gewerkschaftsarbeit im Streik erschöpfen. Die Gestaltung der Mitbestimmung ist die zweite große Aufgabe, und die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung ist die häufig vergessene dritte Säule.

Gerade in diesem dritten Zusammenhang merke ich, wie wenig man uns auf den Kampfverein reduzieren kann und wie sehr wir Mitverantwortung für die gesamte Sozialordnung übernehmen. Jenseits aller weltanschaulichen Unterschiede lebt das gewerkschaftliche Engagement in der sozialen Selbstverwaltung von der gemeinsamen Überzeugung, dass die freiheitliche, selbstverwaltete Gestalt der Sozialen Marktwirtschaft bewahrt und weiterentwickelt werden muss.

 

Und da fühlt man sich mit der christlichen Verortung nicht in einer Minderheitenposition?

Eva M. Welskop-Deffaa: Das mit der Minderheit ist ein Faktum – als Christin ebenso wie als Christliche Demokratin. In den Gewerkschaften sind deutlich weniger CDA-Mitglieder in Funktionen aktiv als Sozialdemokraten. Aber die Analysen der Bundestagswahl zeigen: Von den Gewerkschaftsmitgliedern wählen fast ebenso viele CDU wie SPD.

 

Und wie bewertet eine bekennende Katholikin das Verhältnis von Gewerkschaften und Kirchen? War das nicht schon mal besser oder enger?

Eva M. Welskop-Deffaa: Das Verhältnis von Kirchen und Gewerkschaften zueinander konstituiert sich durch das jeweilige gesellschaftliche Umfeld. Für die Gewerkschaften glaube ich sagen zu können, dass ihre Stellung heute deutlich gefestigter ist als vor zehn, fünfzehn Jahren. Da galten sie als Dinosaurier unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Dagegen blies den Kirchen der Gegenwind damals noch nicht so sehr ins Gesicht. Das hat sich heute umgekehrt, insbesondere die katholische Kirche steht in der Kritik: Die Limburger Bischofsbauten, die Fälle sexuellen Missbrauchs – weitreichendes Fehlverhalten tritt zutage.

Die katholische Kirche befindet sich in einer Position der Defensive. Und das macht ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften nicht einfacher. Wenn ver.di hergeht und sagt: „Wir wollen das Streikrecht auch in kirchlichen Krankenhäusern durchsetzen“, dann wird das von der katholischen Kirche in die Welle der Angriffe eingereiht, denen sie sich insgesamt ausgesetzt sieht. Und es bleibt ihr wenig Kraft, Verständnis dafür zu entwickeln, dass eine Gewerkschaft nicht anders kann, als den Streik – das wertvollste Instrument zur Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen – zu verteidigen. Gewerkschaftskritik richtet sich ja auch gegen das Streikverbot für Beamtinnen und Beamte. Ängstlichkeit und Verletzlichkeit aufseiten der Kirche sind es, die ein fruchtbares Miteinander von Kirche und Gewerkschaft momentan unnötig erschweren.

 

Apropos Dinosaurier! Gibt es nicht weiterhin Anzeichen dafür, dass der Gewerkschaftsbewegung die Puste ausgeht? Die Diskussion um den Mindestlohn ist ein Beispiel, denn jetzt setzt man auf den Staat, wo sich früher die Tarifparteien stark genug gefühlt hätten, das unter sich zu regeln.

Eva M. Welskop-Deffaa: Spätestens seit Gründung der Bundesrepublik kennen wir bei uns ein kompliziertes Zusammenwirken aus tarifvertraglichen und gesetzlichen Regelungen, um die Lage von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu verbessern. Bei der Durchsetzung gewerkschaftlicher Positionen funktionieren Tarifverträge und politische Lobbyarbeit, vereinfacht gesagt, wie kommunizierende Röhren. Arbeits- und Existenzbedingungen können mal tarifvertraglich, mal auf Initiative der Gewerkschaften gesetzlich verbessert werden.

Wenn wir uns heute für einen gesetzlichen Mindestlohn einsetzen, dann heißt das nicht, dass wir uns „nicht stark genug fühlen für Tarifverhandlungen“. Aber wir haben über Jahre die Erfahrung gemacht, dass – wenn immer weniger Tarifverträge für allgemein verbindlich erklärt wurden und immer mehr Arbeitgeber aus der Tarifbindung ausgeschieden sind – die Lohnverhandlungen zu viel Kraft binden, weil man quasi immer wieder bei Null anfangen musste. In dieser Situation ist es ein kluges Ansinnen, den Gesetzgeber für eine allgemeine Lohnuntergrenze in die Pflicht zu nehmen. Umgekehrt verhandeln wir gegenwärtig sozialpolitische Themen tariflich aus: Demografie-Tarifverträge, Tarifverträge zur Altersvorsorge sind Beispiele für Regelungsinhalte, die „klassisch“ eher gesetzgeberisch geregelt wurden.

Doch hat diese Strategie Grenzen: Gerade weil wir uns als Tarifpartner stark genug fühlen, sozialpolitisch ausgelegte Tarifverträge zu verhandeln, bleiben in der Sozialpolitik gesetzliche Regelungen wesentlich, um nicht diejenigen zu vergessen, die in Branchen arbeiten, in denen eine erfolgreiche tarifliche Durchsetzung dieser Forderungen nicht möglich ist.

 

Sie haben kritisiert, dass die Arbeitgeber sich nicht mehr ausreichend zusammenschließen. Gibt es nicht eine ähnliche Entsolidarisierung auf der Arbeitnehmerseite? Fühlt sich der Chirurg noch verantwortlich für die Oberschwester und der Flugkapitän für das Bordpersonal? Das ist also die Frage nach den Spartengewerkschaften. Was ist die Haltung zu Cockpit, GDL und Transnet?

Eva M. Welskop-Deffaa: Die Gewerkschaften haben die Aufgabe, in Branchen-Tarifverträgen gute Regelungen für Beschäftigte verschiedener Berufe zu verhandeln und dabei das Verhältnis der verschiedenen Tätigkeiten zueinander mit Bedacht zu bestimmen. Das aktuelle Beispiel in diesem Zusammenhang sind nicht Ärzte oder Flugkapitäne, neue Herausforderungen stellen sich besonders im Einzelhandel. Da hat der Arbeitgeberverband den Manteltarifvertrag gekündigt, sodass es letztlich um die Frage geht, wie neue Entgeltgruppen gebildet werden können. Ist das Kassieren an einer modernen Kasse im Verhältnis zum Regaleinräumen heute anders zu bewerten als vor fünfzig Jahren? Da müssen wir als Gewerkschaft die Interessen aller unserer Mitglieder im Blick haben. Entsolidarisierung erlebe ich nicht. Jede Berufsgruppe – die Kassiererin, die Fachverkäuferin, die Regaleinräumerin – hat zu Recht die Erwartung, dass wir ihre Interessen vertreten. In einer Zeit, in der sich die Arbeitswirklichkeit und Berufsbilder teils dramatisch verändern, braucht es ein sorgsames Abwägen und umfassende Mitgliederorientierung, um für alle zufriedenstellende Lösungen zu finden.

 

Das wäre ja fast eine Rechtfertigung für das Verhalten der Krankenhausärzte und Flugkapitäne, die ihre Interessenvertretung lieber in die eigenen Hände nehmen.

Eva M. Welskop-Deffaa: Die Gewerkschaftsgeschichte ist geprägt von institutionellen Innovationen. Die Einheitsgewerkschaft ist eine solche Innovation, die die zerstörerische Zersplitterung in Richtungsgewerkschaften überwunden hat. Das Erstarken der Berufsgewerkschaften Marburger Bund und Lokführergewerkschaft im letzten Jahrzehnt interpretiere ich auch als Teil dieser Modernisierungsgeschichte. Arbeitnehmer müssen immer wieder neu „Waffengleichheit“ herstellen. Die Reaktion der Arbeitgeberverbände auf das Erstarken der Spartengewerkschaften und ihr Ruf nach gesetzlich verpflichtender „Tarifeinheit“ zeigen, dass die Davids mit ihren Steinschleudern schmerzlich getroffen haben. Davon profitiert am Ende die gesamte Gewerkschaftsbewegung, wenn sie die Erfahrung der etablierten Branchengewerkschaften und die Impulse der Berufsgewerkschaften verbindet. Gewerkschaftliche Solidarität unter Ungleichen und Tragfähigkeit der Sozialpartnerschaft dabei zu erhalten, ist Aufgabe sozialen Dialogs, der nicht durch gesetzgeberischen Zwang ersetzt werden kann.

 

Mir ging es in unserem Gespräch stark um gemeinsame Fundamente der Arbeiterbewegung. Liegt nicht ein aktueller Anknüpfungspunkt an Adolph Kolping darin, dass er vor allem ein groß angelegtes Bildungsprogramm initiiert hat?

Eva M. Welskop-Deffaa: Ein einprägsamer Satz Kolpings lautet: „Die alte Zeit liegt zu fern von uns ab, als dass wir alte Bräuche unmittelbar übernehmen könnten.“ Der Modernisierungsimpetus darin fasziniert mich. Wenn wir nach Kolpings Vorbild die Katholische Soziallehre auf die neuen Herausforderungen hin durchgehen, sehe ich mehr noch als ein Bildungsprogramm. Kolping hat eine Unterstützungsinfrastruktur geschaffen, um Verbesserungen für die damals prekär Beschäftigten und ihre Familien durchzusetzen. Und er hat das verbunden mit der Erklärung dessen, was er tat. Er hat Gesellenhäuser eingerichtet und war unermüdlich journalistisch tätig. So ist Kolping breit verstanden worden. Er hat die „Zeichen der Zeit“ erklärt und den Menschen Mut gemacht, sich auf die Veränderungen einzulassen. Empowerment-Strategie kann man das nennen oder soziale Lebenslaufpolitik. Nachahmenswert ist es auf jeden Fall.


Eva M. Welskop-Deffaa, geboren 1959 in Duisburg, Mitglied der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Mitglied im ver.di-Bundesvorstand.

Das Gespräch führte Bernd Löhmann.


[1] Gelbe Gewerkschaften sind ordoliberal orientierte Vereinigungen von wirtschaftsfreundlichen Arbeitnehmern, die sich vermutlich erstmals 1899 in Le Creusot (Frankreich) formierten.

 

 

 

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