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Interview: Sagen, was geht und was nicht geht

by Michael Kretschmer
by Bernd Löhmann

Michael Kretschmer über Bürgernähe in der Coronakrise, die Neubegründung von Vertrauen und die Bedeutung des direkten Gesprächs

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Herr Ministerpräsident, in der Coronakrise werden die vermeintlich Unscheinbaren, die die sonst selbstverständlichen Dinge des Alltags erledigen, bisweilen schon zu Superhelden erklärt – beispielsweise Pflegerinnen und Pfleger, Kassiererinnen und Kassierer. Könnte die Krise, wenigstens die Wertschätzung von „Normalmenschen“ betreffend, am Ende auch etwas Heilsames haben?

 

Michael Kretschmer: Wenn diese Krise etwas Gutes hat, dann, dass wir eine unglaubliche Solidarität erleben. Dass wir überall spüren, dass Menschen sich nicht unterkriegen lassen und zusammenstehen. Und die für uns alle schwierige Situation hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass viele noch einmal genauer hinschauen und mitbekommen, was für eine verantwortungsvolle und wichtige Arbeit an vielen Stellen bei uns im Land geleistet wird – nicht zuletzt auch in Pflegeheimen und Supermärkten. All diese Frauen und Männer verdienen zu Recht unseren Respekt und unsere Dankbarkeit. Das darf sich aber nicht auf besondere Zeiten, auf diese besondere Situation beschränken. Wir müssen uns auch daran erinnern, wenn die Krise eines Tages vorbei ist.

 

Sie haben die CDU in Sachsen einmal als „Stimme der kleinen Leute“ bezeichnet. Was meinen Sie damit?

 

Michael Kretschmer: Wir müssen weiter diejenigen sein, die dicht dran sind an den Themen, die die Menschen bewegen. Die CDU steht für Verlässlichkeit, für eine kluge und vernünftige Politik. Für uns ist klar, dass für unseren Wohlstand und unsere Zukunft eine gute Wirtschaftspolitik die Basis ist. Und natürlich haben wir immer auch diejenigen im Blick, die unseren Wohlstand erarbeiten und die überall in unserem Land an ganz verschiedenen Stellen daran mitwirken, dass es läuft.

 

Für die Nähe zum Nächsten gilt unter Pandemiebedingungen ein Mindestabstand von eineinhalb Metern. Distanzwahrung entscheidet im Extrem­ fall über Leben und Tod. Wie ordnen Sie diese irritierende Erfahrung ein – auch als Führungsfigur einer politischen Kraft, die, wo es geht, gesellschaftliche Distanzen zu überbrücken sucht?

 

Michael Kretschmer: Tatsächlich ist Nähe im Moment erschwert bis unmöglich, jedenfalls, wenn man die Nähe mit dem Zollstock misst. Das ist durchaus gewöhnungsbedürftig. Und doch ist Nähe auch in solchen Extremzeiten wie jetzt möglich. Das haben wir inzwischen ja auch gelernt. Denken Sie an die Menschen, die für andere da waren und noch sind. An die vielen Helferinnen und Helfer, die für Ältere und Kranke Einkäufe erledigen. Oder an jene, die andere mit kleinen Konzerten im Netz oder direkt vor dem Seniorenheim erfreut haben, die losgelegt und Mundschutzmasken genäht haben. Was für eine große Kraft, was für eine Solidarität, was für ein Bürgersinn. All das macht uns reicher. Wenn wir auf Distanz gehen, dann ja tatsächlich nur räumlich. Wir haben erlebt und erleben es noch, wie sehr uns ein solches Ereignis als Gemeinschaft zusammenbringt und zusammenschweißt.

 

Soziologen sprechen von „Inselgesellschaft“ oder beklagen, dass sich die Substanz der Gesellschaft „granular“ zerbröselt habe. Birgt die Krise, in der sich jeder notgedrungen in die eigenen Räume zurückzieht, eine dystopische Vorstellung von dem, was kommen könnte?

 

Michael Kretschmer: Wir haben uns zurückgezogen, direkte Kontakte sind eingeschränkt. Notgedrungen ist das so. Das wird uns immer wieder aufs Neue bewusst. Und damit müssen wir leben und umgehen. Vielleicht ist das aber auch eine Chance. Vielleicht hilft das dabei, neu zu entdecken und zu erkennen, was wichtig ist im Leben. Was das Leben reicher macht. In Zeiten wie diesen zeigt sich auch, wer Charakter hat. Es gibt einige wenige, die sich unsolidarisch verhalten. Leute, die in der Not vor allem an sich denken. Dann sind da aber eben auch die vielen Menschen, die sich solidarisch zeigen. Die was auf die Beine stellen, um anderen beizustehen und zu helfen. Diese besondere Erfahrung, dass aus einer Krise auch etwas Gutes erwachsen kann, dass Nähe und Zusammenhalt möglich ist trotz notwendiger Auflagen und Einschränkungen in unserem Alltag, die wird bleiben. Diese Erinnerung wird prägend sein und uns als Gesellschaft stärker machen. Diese positive Erfahrung und Erinnerung wird in unserem kollektiven Gedächtnis verankert bleiben.

 

Die digitale Kommunikation erlebt aktuell einen weiteren Boom. Sie haben nicht allein im sächsischen Wahlkampf auf eine bodenständige Form der Ansprache gesetzt – nämlich auf die persönliche Begegnung in unzähligen Bürgergesprächen. Können Sie uns erklären, warum Sie diesen „Bürgernahkampf“ auf sich genommen haben?

 

Michael Kretschmer: Die persönliche Begegnung, der Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern, ist für mich, ist für mein Handeln sehr wichtig. Für mich war von Anfang an klar, dass es nur so gelingen kann, Vertrauen neu zu begründen. Am Anfang habe ich mitunter große Skepsis erlebt. Inzwischen stelle ich fest, dass Vertrauen gewachsen ist. Es ist ja nicht so, dass nach den Bürgerdialogveranstaltungen alle meiner Meinung sind, darum geht es auch nicht. Aber ich habe schon viel erreicht, wenn die Leute merken, da ist jemand, der nimmt mich wirklich ernst.

Und die Menschen honorieren, dass wir als Regierung kontinuierlich in ganz Sachsen unterwegs  und im Gespräch sind – ob in der Großstadt oder im Dorfkrug. Dass wir auf das eingehen, was die Bürgerinnen und Bürger bewegt. Dass wir Veränderungen in Angriff genommen haben. Vieles von dem, was in den Bürgergesprächen zur Sprache gekommen ist, hat Niederschlag in unserem Regierungshandeln gefunden.

Direkte Bürgerdialoge mit ein paar Dutzend oder sogar einigen Hundert Teilnehmern sind derzeit nicht möglich. Deshalb machen wir das Beste daraus, indem wir verstärkt auf andere Formate setzen, auf Hörerforen im Radio etwa oder den Austausch via Facebook-Livestream. Das ist in Ordnung und funktioniert. Aber ersetzen kann es das direkte Gespräch im Dorfgasthof oder im Kulturhaus natürlich nicht. Aber auch das wird bald wieder möglich sein.

 

Sie gewinnen dadurch, wie Sie sagen, „ein klares Meinungsbild von dem, was die Leute denken“. Warum reichen demoskopische Studien nicht?

 

Michael Kretschmer: Demoskopische Studien sind durchaus hilfreich, um zu wissen, wo man ungefähr steht. Aber man wäre nicht gut beraten, sich in der Politik nur darauf zu stützen. Für ein umfassendes Meinungsbild ist der Kontakt zu den Menschen entscheidend. Was den Leuten auf den Nägeln brennt, erfährt man nur, wenn man direkt mit ihnen spricht. Was in einer bestimmten Region ein Riesenthema ist und die Leute umtreibt, kann in einem anderen Ort, in einer anderen Gegend ganz anders sein. Ich kann noch so viele Umfragen und Analysen studieren: Wenn ich wissen will, warum die Leute in einem Ort sauer sind und mit bestimmten politischen Entscheidungen hadern, ist es am besten, dorthin zu fahren und es herauszufinden.

 

Sie haben gesagt, Sie hätten „Millionen von Einwohnern neu kennengelernt“. Was war das Neue, was Sie zuvor nicht kannten?

 

Michael Kretschmer: Zunächst einmal habe ich viele neue Regionen und Orte entdeckt und kennengelernt, die ich vorher nicht kannte. Und ich habe mitbekommen, dass die Dinge, die die Leute beschäftigen, tatsächlich von Ort zu Ort ganz unterschiedlich sein können und es auch sind. Es ist erstaunlicherweise oft gerade nicht die große Politik, wie das Thema Asyl. Stattdessen geht es in dem einen Ort um eine Abwasserleitung und die Busverbindung, im nächsten um die Kita oder fehlende Fachkräfte für das Pflegeheim. Mich hat beeindruckt bei meinen vielen Gesprächen, wie verbunden die Menschen mit ihrer Heimat sind. Wie sie sich dafür einsetzen, dass sich Dinge im Sinne ihrer Gemeinschaft weiter verbessern.

Ich habe außerdem die Erfahrung gemacht, dass das direkte Gespräche häufig der einzige Weg ist, um gegen krude Dinge, die im Netz kursieren, gegen manche Vorurteile, Halbwahrheiten und Fake News anzukommen.

 

Wie stellt man es an, dass diese Begegnungen nicht wie Gunsterweise von oben erscheinen?

 

Michael Kretschmer: Die Leute haben ein ganz gutes Gespür dafür, ob da jemand ist, der sich wirklich für das interessiert, was sie sagen. Ob man wirklich auf Augenhöhe mit den Menschen spricht. Umgekehrt bin ich froh, dass da regelmäßig so viele interessierte und selbstbewusste Leute kommen. Bürgerinnen und Bürger, die sich für ihr Gemeinwesen interessieren. Das ist eine wirklich Mut machende und sehr gute Entwicklung. Wenn an einem Freitagabend in einem kleineren Ort der Saal rappelvoll ist, dann bin ich froh und sehr dankbar. Die hätten ja auch zu Hause gemütlich auf dem Sofa bleiben können nach einer anstrengenden Arbeitswoche.

 

Teils sind Sie beharkt worden, als sei ein Politiker das personifizierte Böse. Wie und warum redet man mit Leuten, die einen anschreien?

 

Michael Kretschmer: Miteinander zu reden, sich auszutauschen, ist wichtig für eine lebendige Demokratie. Das ist mein Verständnis von Politik. Ich habe viele anregende Gespräche und lebhafte Debatten erlebt. Nicht selten hart in der Sache, aber bis auf wenige Ausnahmen immer freundlich im Ton. Das funktioniert.

Allerdings sage ich sehr klar „Bis hierher und nicht weiter!“, wenn jemand gegen andere Menschen hetzt, wenn jemand Gewalt gegen Andersdenkende, Andersgläubige oder auch Repräsentanten demokratischer Institutionen rechtfertigt.

 

Sie stehen für eine glasklare Abgrenzung von der AfD; aber ihre Wähler wollen Sie nicht aufgeben. Die meisten halten Sie für erreichbar. Was macht Sie da so sicher?

 

Michael Kretschmer: Wir erleben, wie abschätzig Abgeordnete und führende Funktionäre der AfD in den Landtagen und im Bundestag über Demokratie und Freiheit reden, wie sie über Grundwerte und Vertreter anderer Parteien herziehen. Die AfD ist europafeindlich, sie verdreht die deutsche Geschichte, sie ist in Teilen rechtsextremistisch. Funktionäre mit Macht und Einfluss spalten die Gesellschaft, sie grenzen aus, schüren Ängste. Immer mehr Menschen sehen, dass diese Partei unserem Land schadet. Es muss darum gehen, zusammenzuführen und einen Ausgleich zu suchen. Das ist der richtige Weg. Das ist auch der Weg, für den ich und für den die CDU steht.

 

Die dichteste Nähe zum Volk versprechen Populisten, betrachten sich sogar als Verkörperung des Volkswillens. Wie setzt sich Ihre Art der Bürgernähe davon ab? Wie viel Nähe suchen Sie, wie viel Distanz wahren Sie?

 

Michael Kretschmer: Es ist absurd, wenn ausgerechnet Leute, die andere ausgrenzen und Ressentiments schüren und die deutlich machen, wie sehr sie die Demokratie verachten, dann auch noch behaupten, sie sprächen im Namen des Volkes. Das dürfen wir nicht stehen lassen. Wir sollten klar und wach sein und dagegenhalten, wenn Grenzen überschritten werden und zu Hass und Gewalt aufgerufen wird.

Für mich ist ein respektvoller gegenseitiger Umgang die Grundlage. Ich will überzeugen. Aber ich will niemanden vereinnahmen oder bekehren. Mir ist dabei auch immer wichtig, deutlich zu sagen, was geht und was aus bestimmten Gründen nicht umsetzbar ist. Weil es dafür beispielsweise keine politischen Mehrheiten gibt oder weil dafür schlicht das Geld fehlt. Auf der anderen Seite lerne ich auch unglaublich viel und nehme eine Menge mit aus den Bürgergesprächen. Mir geht es um den Zusammenhalt in unserem Land. Mir geht es darum, dass wir uns gut für die Zukunft aufstellen.

 

Sie haben Sachsen bis „in den hintersten Winkel“ bereist – auch dahin, wo Wahlkampfstrategen vielleicht wenig „Relevanz“ vermutet hätten. Warum halten Sie die „Fläche“ für so wichtig?

 

Michael Kretschmer: Mir geht es darum, die Vorteile der Metropolen und die Vorteile der Regionen in Sachsen miteinander zu verbinden. Der ländliche Raum ist ein großes Kraftreservoir und kann mit einer hervorragenden Lebensqualität punkten. Etwa die Hälfte der Sachsen lebt hier, und ein Großteil der Unternehmen und Arbeitsplätze ist hier angesiedelt. Wir unterstützen den ländlichen Raum ganz gezielt, weil sich gerade hier ganz neue Zukunftschancen eröffnen. Die Schwarzmalerei gegen den ländlichen Raum hat mit dem Lebensgefühl der Menschen vor Ort wenig gemein.

 

Sieht man von Berlin aus immer auch die „Fläche“? Oder gibt es dort bisweilen eine selbstzentrierte Wahrnehmung?

 

Michael Kretschmer: Wir sehen gerade, wie eng Bund, Länder und Kommunen in der Krise zusammenarbeiten und zusammenhalten. Und wie schnell viele Dinge auf die Beine gestellt worden sind, damit Deutschland möglichst gut durch diese Krise kommt. Das ist großartig. Ich wünsche mir, dass wir von diesem Geist etwas in die Nach-Corona-Zeit mit hinübernehmen können. Ich wünsche mir die Bereitschaft, außerhalb bestehender Kategorien zu denken. Wir brauchen gerade bei der Gestaltung des Wandels in den Braunkohleregionen wie der Lausitz oder dem mitteldeutschen Revier eine Planungsbeschleunigung und eine gute Infrastruktur. Wir müssen es schaffen, schneller zu werden, um die Zukunft nicht zu verspielen.

 

Nach der hoffentlich bald weniger akuten Coronakrise: Was sind für Sie die entscheidenden Punkte, wenn sich die CDU Deutschlands für die Zukunft neu aufstellt?

 

Michael Kretschmer: Meine Haltung war schon immer: Wir sollten im Dezember auf dem regulären Parteitag die Entscheidung über einen neuen Parteivorsitzenden treffen. Es ist wichtig, dass die gesamte Partei nach der Wahl geschlossen hinter dem neuen Vorsitzenden steht. Anschließend reden wir mit der CSU über einen Kanzlerkandidaten und gehen als Mannschaft in den Bundestagswahlkampf 2021. Und unabhängig von Personalfragen müssen wir klare Impulse setzen, damit Deutschland nach dem Ende der Krise wirtschaftlich durchstarten kann. Wir brauchen ein Investitionsprogramm für Forschung und Entwicklung, die Infrastruktur und Zukunftstechnologien. Und wir brauchen ein Innovationsprogramm, damit sich die deutsche Industrie und ihre Schlüsselbranchen schnell von der Krise erholen. Wenn wir die Weichen richtig stellen, kann Deutschland der Motor für die wirtschaftliche Erholung in ganz Europa sein.

 

Michael Kretschmer, geboren 1975 in Görlitz, seit 2017 Vorsitzender des CDU-Landesverbandes Sachsen, seit 2017 Ministerpräsident des Freistaates Sachsen.

 

Die Fragen stellte Bernd Löhmann am 7. April 2020.

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