Die ganze Welt hat die Nachricht von der Entführung der Frauen im Norden Nigerias entsetzt. Das schreckliche Geschehen gibt Anlass, über das Frauenbild in Afrika zu berichten. Es ist differenzierter, vor allem auch positiver, als viele in Europa glauben. Frauen nehmen in Westafrika traditionell einen zentralen gesellschaftlichen Platz ein, besonders im Senegal. Im religiösen Bereich bilden sie die Pfeiler der kultischen Handlungen, in der animistischen Gesellschaft sind sie die Priesterinnen. Sie stehen dem Heiligtum der Totengeister vor und bringen ihnen Opfergaben dar. Es ist die Frau, die die Verbindung zwischen den Menschen und den Göttern gewährleistet. Bei den Lébous organisieren sie die Sitzungen der Ndeup – also der Zeremonien und rituellen Tänze, die Depressionen und Geisteskrankheiten heilen sollen. Bei den Völkern der Sérère, Diola und Bassari ist die Rolle der Frau ähnlich ausgeprägt. Bei den Hal Pulaar im Senegal hingegen, wo der Islam seit dem 11. Jahrhundert verbreitet ist, fehlen greifbare Spuren vorangegangener Religionen.
Heute besuchen muslimische Frauen vor allem freitags eigens reservierte Säle in Moscheen. Sie haben Bildungsinstitutionen für Mädchen gegründet und manche glänzen durch ihre theologische Expertise – sie lassen sich nicht mehr an die zweite Stelle verweisen. Christliche Frauen nehmen an Messen und anderen religiösen Zeremonien teil und arbeiten in Pfarrkirchen und Diözesen sowohl erzieherisch als auch spirituell. In den westafrikanischen Gesellschaften dominiert ein religiöser Synkretismus, da Kernelemente des Animismus fest verankert sind. So bringen die Frauen zu besonderen Wendepunkten des Lebens wie Geburt, Heirat oder Krankheit ihren Schutzahnen Gaben und Trankopfer wie Milch und Hirsebier dar.
Für die Grundlagen der gesellschaftlichen Werte, die in Westafrika Frauen repräsentieren, stehen im Senegal nacheinander die Begriffe „jom“, „kersa“ und „mougne“. „Jom“ bedeutet Sinn und Richtung, aber auch Würde; es manifestiert sich darin das Bestreben, die Hochachtung anderer zu gewinnen und seine Integrität zu bewahren. „Kersa“ meint die Schamhaftigkeit, die Diskretion und das gute Benehmen. „Mougne“ ist Synonym für die Geduld im Glauben; es bedeutet, nicht dem Laster anheimzufallen und so gefeit zu sein gegen den Zorn Gottes und die Missachtung durch andere Menschen. Das Kind erfährt das Leben „im Lendenschurz seiner Mutter“, in dem es sie hört, sie handeln fühlt, in dem es sie bei den täglich zu verrichtenden Arbeiten begleitet. „Doom ja dey ja“, besagt eine Lebensweisheit. Wie die Mutter, so das Kind. „Doom“ bedeutet das Kind, aber auch die Frucht. Ist das Kind ein Mädchen, so führt die Mutter es in die täglichen Verrichtungen im Hause ein. Auf Feldern, auf dem Markt, am Meeresufer nehmen Kinder an der Saat, an der Pflege der Kulturen und ihrer Ernte teil. Auf dem Markt verkaufen junge Mädchen und Frauen jeden Alters die Früchte der Erde; an den Küsten schuppen, trocknen, räuchern und verkaufen sie Fisch.
Manche Organisationen helfen den Frauen, ihr Einkommen zu erhöhen, indem sie ihnen Lesen und Schreiben beibringen. Das führt dazu, dass die Frauen ihre Lage stärker reflektieren und ihre Möglichkeiten besser ausschöpfen. In vielen westafrikanischen Ländern ist die Arbeit von Frauen das wirtschaftliche Fundament ihrer Familien und der Motor der wirtschaftlichen Entwicklung. Derzeit existieren viele Frauenorganisationen in Westafrika: von kleinen Kredit- und Spargenossenschaften in den Dörfern bis hin zu Verbänden weiblicher Unternehmer und den Vereinigungen der Juristinnen, Ärztinnen oder Lehrerinnen.
Prägende Frauenfiguren
Der Respekt vor den Frauen fußt auf Historien und Sagen etwa der adeligen Frauen an den königlichen Höfen der Reiche der Mandinka und der Wolof und ihrem großen Einfluss auf das Leben des Volkes. Die Königinnen haben sich durch ihren Heldenmut einen Namen in ruhmreichen Zeiten gemacht: etwa die Frauen von Nder, Yacine Boubou, Aline Sitoë Diatta im Senegal, Sogolon, die „Büffelfrau“ in Mali, oder Abla Pokou, die Königin an der Elfenbeinküste. Letztere hat, so erzählt man, ihren einzigen Sohn dem Flussgeist geopfert, damit ihre Untertanen den Fluss überqueren konnten. Verblüfft durch die Größe dieser Geste rief die Menge aus: „Ba ouli!“ – „Das Kind ist gestorben.“ Daher kommt der Name des Volkes, das an der Elfenbeinküste und in Ghana siedelte.
Der Platz der Frauen hat sich von Generation zu Generation gefestigt. Westlicher Argwohn gründet teilweise auf Unverständnis: Die Erziehung in Afrika ist spartanisch, und man glaubt, der Schmerz forme den Menschen – man muss leiden, um eine gute Gattin zu sein, das heißt: Hirse zu zerstampfen, in den Wäldern Holz zu sammeln und für ganze Hausgemeinschaften zu kochen; Frauen leiden auch, um Tätowierungen zu ertragen, die sie schön machen. Was im Namen der kulturellen Identität im wahrsten Sinne des Wortes eingeritzt wird, erzeugt Schmerz und fordert Stillschweigen, um keine Schande zu bringen. Ein Mann, der vor der Beschneidung flieht, wird das Gespött des Dorfes sein, genauso wie eine Frau, die mit Geschrei gebiert; das Heil, das mentale Gleichgewicht kann dann nur noch in der Flucht liegen – sie ist das Äquivalent einer Verbannung. In jedem Alter sind gewisse Herausforderungen zu meistern, es ist dabei aber nicht angesehen, weniger zu unternehmen als der „Pair“, das ist ein Geist des gesunden Wetteifers, der die Gesellschaft durchzieht. Als mein Großvater uns Geld gab, um Schulmaterial zu kaufen, sagte er: „Keiner hat mich in der Arbeit auf dem Feld und beim Weiden der Herden übertroffen. Heute hat die französische Schule die ländlichen Arbeiten ersetzt, ich wünsche, dass Euch niemand in dieser Schule übertrifft.“
Reich wie die „Nana-Benz“
Heute sind Frauen in der Landwirtschaft selbstverständlich, auch wenn ihnen die Grundstücke, die sie kultivieren, nicht offiziell gehören. Die Produktion und die Versorgung der senegalesischen Hauptstadt Dakar mit Zitrusfrüchten wird größtenteils von Frauen der Niayes und Diender geleistet. Letztere sind oft die Oberhäupter der Familien, die auch die finanziellen Fäden in der Hand haben. Die oft polygamen Gatten erfüllt das mit Scham, denn der hier vorherrschende Islam gebietet den Männern, ihre Frauen zu ernähren, zu kleiden und unterzubringen.
Der Handel mit dem, was man „der Ernährung dienende Kulturen“ nennt – das heißt mit Maniok, Bananen, Wegerich, Ananas und Orangen –, liegt in der Elfenbeinküste in den Händen von Führungsfrauen. Es gibt spezielle Märkte, denen Frauen vorstehen, die genauso finanzkräftig sind wie die Nana-Benz, die legendären togolesischen Großhändlerinnen für Lendenschurz-Stoffe, die so reich geworden waren, dass sie sich Luxuswagen leisten konnten.
Es ist bekannt, dass der Handel mit Textilien in Westafrika Frauensache ist. In Mali bewiesen sie ihr Geschick und ihre Kreativität bei der Herstellung gefärbter Gewebe. Peking, Dubai, Hongkong, Ankara – von diesen entfernten Orten brachten afrikanische Händlerinnen Waren mit: Schmuckstücke und Kurzwaren, selbst Baumaterialien wie Fliesen und Armaturen oder auch Möbel. Frauen sind sogar bei der Einfuhr von Fahrzeugen präsent, wie etwa Oumou Sangharé, die malische Sängerin, eine eher gefürchtete Geschäftsfrau. Auch in die Sphäre der Politik sind die Frauen vorgedrungen. Dort nehmen sie mitunter sehr wichtige offizielle Funktionen ein. Ellen Johnson Sirleaf ist erste Präsidentin in Afrika, Aminata Touré die zweite Premierministerin im Senegal.
Frauenquote im Senegal
In der Elfenbeinküste gibt es eine Ministerin für nationale Erziehung, Affoussiata Bamba-Lamine, in Mali und im Senegal stehen dem Ministerium für Gesundheit und dem Ministerium der Erziehung Frauen vor: Eva Marie Coll Seck und Aminata Mbengue Ndiaye. Der Aufstieg von Frauen ist dort unaufhaltsam; abgesehen von den beiden Premierministerinnen bekleiden Frauen Direktorenposten im Energiesektor, bei der Staatspolizei und im Finanzamt.
Im Senegal ist mittlerweile die Zeit für die Forderung nach einer Frauenquote angebrochen: Der Begriff ist hier nicht aus Europa entlehnt, sondern stammt von Jeanne-Martin Cissé, einer Frau aus Guinea, die ihn seit der Unabhängigkeitsperiode benutzt hat. Ousmane William Mbaye hat das Wort in seinen schönen Film „Mère-Bi“ einfließen lassen. 2011 wurde in Wahlgremien für die Frauenquote votiert, und aktuell sind von den 150 Abgeordneten der senegalesischen Nationalversammlung 64 Frauen. Der Senegal ist das zehnte Land der Welt, das die Frauenquote eingeführt hat. Andere Länder der Region sind davon noch weit entfernt, dennoch nehmen mehr und mehr Frauen wichtige Positionen in Staat und Gesellschaft ein.
Seit mehr als einem Jahrzehnt sind Frauen Parteichefinnen in Burkina Faso. Im Senegal ist Mariam Wane Ly die erste. Kein ostafrikanischer politischer Führer konnte ohne die Stimme von Frauen gewählt werden. Sie sind auf Meetings anzutreffen, vermitteln Nachrichten aus der Politik und leiten sie weiter, sie stützen ihre Anführer bis zum Sieg und bemühen sich um die Bürgermeisterämter bei örtlichen Wahlen – im politischen Umfeld sind sie unverzichtbar geworden.
Natürlich nehmen Frauen in der Modebranche eine herausragende Stellung ein, sie sind berühmte Mannequins, wie die senegalesisch-guineische Katoucha Niane, Modeschöpferinnen, wie die talentierte Yayi Mbaye Ndir aus dem Senegal, Michèle Yakice aus der Elfenbeinküste oder Bamanan aus Mali. Frauen sind in allen Sphären, sogar beim Autorennen, auf dem Weg nach oben; sie organisieren Boxkämpfe wie etwa Ndèye Ndiaye Tyson. In der Musik ist die Stellung der Frauen ohnehin unbestritten, wie die Beispiele Aïcha Koné von der Elfenbeinküste, Aminata Fall, die Königin des Gospels aus dem Senegal, oder Amy Koïta aus Mali zeigen.
Der Status von Frauen wird in Afrika von Tag zu Tag besser. Ihnen kommen mehr und mehr Erleichterungen zugute, die ihnen helfen, ihre vielfältigen Rollen als Mutter, Gattin, Bürgerin und Arbeiterin auszufüllen. Die Alphabetisierung, die Weiterbildung, die Verbesserung der sanitären Ausrüstung und der Infrastruktur, die Vergrößerung des Parteienspektrums und die Impulse der wirtschaftlichen Entwicklung – all das sind Motoren der Entfaltung von Frauen. In Westafrika kommt es niemandem mehr in den Sinn, Frauen als das schwache Geschlecht zu bezeichnen.
Natürlich sind Frauen auch hier noch immer Opfer von Vergewaltigung, Inzest, Gewalt in der Ehe, Beschneidungen und ungerechten Verhaftungen. Doch andererseits sind sie auch Täterinnen beim Handel mit leichten und schweren Drogen, bei Kindesmorden oder Misshandlungen von Nebenehemännern oder Kindern. Der Spirale der Gewalt kann man nur entgehen, indem materielle Abhängigkeit vermieden wird und jede Frau auf ihre Weise für ihr Recht auf ein Familien- und ein Berufsleben kämpft, um den „Fallen“ des einfachen Lebens ausweichen zu können.
Die Kenntnis der Frauenrechte wird besser und die Möglichkeiten, gegen Gewalt und Ungerechtigkeit zu kämpfen, werden größer; Frauen werden von Vereinen und Nichtregierungsorganisationen unterstützt, ja sogar von staatlichen Stellen.
Frauen sind aufgerufen, das bereits Erworbene bewusst und kritisch zu bewahren, anstatt eine übertriebene Modernisierung anzustreben. Sie sollten in ihren Werten verwurzelt bleiben, die ein starkes Fundament sind für eine positive und offene Entwicklung in der einen Welt, zu der unsere globalisierte Welt geworden ist.
Mariama Ndoye Mbengue, geboren 1953 in Rufisque (Senegal), senegalesische Schriftstellerin, verbrachte große Zeitspannen ihres Lebens in Côte d’Ivoire und Tunesien.
Übersetzung der Beiträge von Mariama Ndoye Mbengue und Marlyatou Diallo aus dem Französischen: Michael Böhm, freier Autor und Publizist.