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Gestaltung: StanHema
by Andreas Feser

Stühlerücken im Bundestag

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In allen Parlamenten wird nach jeder Wahl die Bestuhlung vor der konstituierenden Sitzung an die veränderten Mitgliederzahlen der Fraktionen und gegebenenfalls an die veränderte Zahl der vertretenen Fraktionen und Gruppen angepasst. Erstmals in der Geschichte des Bundestages folgte in der aktuellen 20. Wahlperiode auf das erste Stühlerücken vor der Konstituierung über Weihnachten und Neujahr 2021/22 ein zweites: Mit der Mehrheit der Fraktionen der SPD-geführten Koalition und mit Unterstützung der Linksfraktion wurde am 16. Dezember 2021 beschlossen, dass die Plätze der Oppositionsfraktion CDU/CSU und der Regierungsfraktion FDP getauscht werden. Der erste Impuls ist, Stühlerücken für eine Kleinlichkeit zu halten, die besser mit Schweigen übergangen wird: Wer sitzt wo – darüber wird vielleicht im Kindergarten gestritten, aber doch nicht im Deutschen Bundestag! Es kann nicht sein, dass für solche Kindereien Zeit verschwendet wird! Doch dieser Impuls verkennt die grundsätzliche Bedeutung dieser Entscheidung.

Nicht selten zeigt Großes sich im Kleinen – so auch hier. Bedeutsam ist der Weg, auf dem über die Sitzordnung im Plenum entschieden wurde. Erfolgen Änderungen einvernehmlich, regeln die Abgeordneten und ihre Fraktionen das als Gleiche unter Gleichen. Geschieht das per Abstimmung, macht die Mehrheit eine Minderheit bei der Regelung einer inneren Angelegenheit des Parlaments zum Objekt ihrer Mehrheitsmacht.

Solche Entscheidungen, in denen sich Mehrheit und Minderheit nicht auf Augenhöhe begegnen, sucht die Geschäftsordnung des Bundestages zu vermeiden. Dazu hält Paragraph 11 die demokratische Selbstverständlichkeit fest, dass die Reihenfolge der Fraktionen ihrer Stärke und damit der Entscheidung der Wählerinnen und Wähler folgt. Diese Reihenfolge ist bedeutsam für das Vorschlagsrecht für das Amt des Präsidenten, die Reihenfolge der Redner im Plenum und für das sogenannte Zugreifverfahren bei der Verteilung von Aufgaben im Bundestag wie etwa dem jeweiligen Vorsitz in seinen Ausschüssen. Das alles soll nicht mit Mehrheit entschieden werden, um die Rechte der Minderheit und den gleichen Wert der Mandate aller Abgeordneten zu wahren. Die Geschäftsordnung des Bundestages hebt in Paragraph 126 die Bedeutung dieses Grundsatzes zusätzlich dadurch hervor, dass von der Regel des Paragraphen 11 nur abgewichen werden darf, wenn eine Zwei-Drittel-Mehrheit der anwesenden Mitglieder des Bundestages zustimmt. Diese Mehrheitsregel spielte bei der Entscheidung über die Sitzordnung keine Rolle.

Mehrheitsentscheidungen sind bei der Regelung der eigenen Angelegenheiten des Parlaments mit dem Respekt vor dem grundsätzlich gleichen Mandat aller Abgeordneten nur dann zu vereinbaren, wenn die Regelung für die Erfüllung der Aufgaben des Parlaments zwingend erforderlich ist. Das aber wurde für diesen Tausch von Plenarplätzen nicht einmal behauptet: Die FDP wolle, so hieß es zur Begründung, nicht länger neben der Alternative für Deutschland (AfD) sitzen.

 

Platzierung bislang immer einvernehmlich

 

Es gibt keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass die FDP diesen Wunsch hatte. Es folgt allerdings aus diesem Wunsch kein stichhaltiges Argument: Denn es kann getrost unterstellt werden, dass keine der anderen im Bundestag vertretenen Fraktionen neben der AfD sitzen will. Dieser Wunsch aller anderen Fraktionen ließe sich nur verwirklichen, wenn die AfD nicht länger im Parlament vertreten wäre. Zu einer Politik, die dafür sorgt, dass die AfD entsprechend an Wählerzuspruch verliert, war die Platztauschaktion der um die Linke verstärkten Regierungsmehrheit kein Beitrag – eher im Gegenteil. Die AfD hat sich über die damit verbundene Beachtung erkennbar gefreut und alle anderen Fraktionen mit Hohn und Spott übergossen.

Die Sitzordnung im Deutschen Bundestag wurde über viele Wahlperioden hinweg als ungeschriebene Regel beachtet. Sie war über Jahrzehnte verlässlich und stabil. Regelungen waren immer einvernehmlich erfolgt. Darüber gab es nicht einmal im ersten Deutschen Bundestag 1949 nennenswerte Diskussionen, denn dessen Sitzordnung schloss sich an die Tradition der Weimarer Nationalversammlung, des Reichstags im Kaiserreich und der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche an: Vom Präsidium aus gesehen, saß die SPD links, die CDU und CSU als neue bürgerliche Formation mit konfessionellen Wurzeln in der Mitte und die FDP als neue liberale Partei rechts. Letztlich stammt diese Sitzordnung aus den Parlamenten Frankreichs nach der Französischen Revolution 1789.

Wenn im Bundestag neue Fraktionen hinzukamen – 1983 die Grünen, 1990 die spätere Linksfraktion, 2017 die AfD –, wurde eine Übereinstimmung über deren Sitzplätze hergestellt. So hätte 1983 aus Sicht der Grünen selbst wie auch der damaligen Koalition der Mitte unter Führung von CDU und CSU viel dafür gesprochen, wenn die Grünen ihren Platz im Plenum – ihren damaligen politischen Positionen folgend – links neben der SPD gefunden hätten. Die Oppositionsfraktion SPD wollte jedoch ihren traditionellen Platz links nicht aufgeben, und so verständigten sich alle Fraktionen darauf, dass die Grünen zwischen Union und SPD Platz nahmen. Nach dem vorübergehenden Ausscheiden der Grünen 1990 und dem Einzug der Listenvereinigung Bündnis 90/Grüne übernahm diese Gruppe die Platzierung der Grünen. 1994 kehrte die fusionierte Partei Bündnis 90/Die Grünen in den Bundestag und auf ihre ehemaligen Plätze zurück. Mit Blick auf die ebenfalls 1990 erstmals vertretene Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) stand auch für die SPD außer Frage, dass die richtigen Plätze für die neue Formation links von ihr liegen. Bei der erstmaligen Wahl der Af D in den Bundestag 2017 schließlich gab es in keiner Fraktion Zweifel, dass die Neulinge ganz rechts ihre Plätze finden. Die FDP kehrte nach ihrem vorübergehenden Ausscheiden 2013 nach der Wahl 2017 auf ihre alten Plätze zurück.

 

Zur Geltung ungeschriebener Regeln

 

Den Abgeordneten eine Sitzordnung nach Fraktionen vorzugeben, ist für das Funktionieren eines Parlaments sowie für die Transparenz und öffentliche Erkennbarkeit seiner Entscheidungsabläufe notwendig. Diese Sitzordnung über die einzelnen Wahlperioden hinweg stabil zu halten und nicht ins Belieben der jeweiligen Mehrheit zu stellen, hat einen wichtigen Beitrag zur Würde des Bundestags und zu seinem Rückhalt in der Öffentlichkeit geleistet. Eine Demokratie ruht nicht nur auf der geschriebenen Verfassung und den geschriebenen Gesetzen. Sie hat nur Bestand, wenn im demokratischen Wettbewerb gerade für das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit auch eine Reihe ungeschriebener Regeln gelten und auf einen demokratischen Grundkonsens Verlass ist. Zu diesen ungeschriebenen Regeln gehörte bisher, die traditionellen Platzierungen im Plenum entweder einvernehmlich zu ändern oder unverändert zu lassen.

Der Abgeordnete Johannes Vogel sprach in der Debatte am 16. Dezember 2021 in seiner Funktion als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion und verwies auf die Formulierung des früheren CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß, „dass es rechts von der CDU/CSU keine demokratisch legitimierte Partei geben darf“. Als Strauß dies in den 1980erJahren hervorhob, betonte er, diese Formulierung eng mit Bundeskanzler Helmut Kohl abgesprochen zu haben. Gemeinsam machten die beiden Vorsitzenden von CDU und CSU damit ihre Einschätzung der „Republikaner“ deutlich und markierten eine klare Abgrenzung von dieser damals neuen, aber inzwischen bedeutungslos gewordenen politischen Formation.

 

Glaubwürdigkeitsproblem der SPD

 

Die FDP sah seinerzeit keinen Anlass, diesen Satz auf sich zu beziehen und die Sitzordnung im Plenarsaal des Bundestages infrage zu stellen. Als der Satz fiel, lagen zudem die dreizehn Jahre der Mitarbeit der FDP in einer SPD-geführten Bundesregierung noch nicht lange zurück. Die FDP sah sich in den 1970er-Jahren sicher als Kraft der Mitte und die Union als Formation rechts von ihr. Dennoch haben Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher und Wolfgang Mischnick nie einen Versuch unternommen, die Sitzordnung im Plenum des Bundestages durch Mehrheitsbeschluss zu ändern.

Die größten Vorteile bringt die neue Sitzordnung im Deutschen Bundestag auf den ersten Blick für die SPD: Die Abgeordneten der den Kanzler tragenden Fraktionen sitzen nun in einem geschlossenen Block; das ergibt eindrucksvolle Bilder der Gemeinsamkeit und Führungskraft, wenn Bilder aus den Debatten übertragen werden. Ohne dass die Abgeordneten der SPD selbst den Platz wechseln mussten, wirkt die SPD-geführte Mehrheit deutlich nach links gerückt. Da die SPD weiß, dass das größte Risiko für die Stabilität der Ampel die Enttäuschung bei den Grünen und in ihrem Umfeld über wichtige Aspekte des Koalitionsvertrags ist, begrüßt sie es, dass die Grünen nun auf beiden Seiten von Koalitionspartnern eingerahmt werden. Auf den zweiten Blick zeigt sich die Sitzplatzentscheidung allerdings durchaus als Problem für die Glaubwürdigkeit der SPD und des Kanzlers: Das Schlagwort des Wahlkampfs von Olaf Scholz war „Respekt“. Wie sollen Bürgerinnen und Bürger, vor allem, wenn sie der Politik fernstehen, Vertrauen fassen, dass dies ernst gemeint war, wenn im Parlament selbst das Kalkül der Mehrheit und nicht der Respekt vor dem freien und gleichen Mandat aller Abgeordneten das Vorgehen bestimmt?

 

Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Autors wieder.

Andreas Feser, geboren 1960 in Braunschweig, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Leiter des Arbeitsbereichs Untersuchungsausschüsse der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag.

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