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McOleo, CC0, via Wikimedia Commons

Schriftsteller der Einheit

by Michael Braun

Günter de Bruyn zum Gedenken

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„Als Poesie gut“: Damit soll der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. einmal begründet haben, warum er eine militärische Denkschrift über die Option eines Volksbefreiungskrieges ablehnte. Günter de Bruyn hat Episoden wie diese geliebt und gesammelt. Warum? Weil sich damit ganz wunderbar, leicht-ironisch und zugleich lehrreich vom Verhältnis von Literatur und Politik erzählen lässt, von der Blütezeit Preußens bis zum wiedervereinigten Deutschland. Am 4. Oktober 2020, einen Tag nach dem 30. Jahrestag der Deutschen Einheit, ist Günter de Bruyn im Alter von 93 Jahren gestorben.

Geboren wurde Günter de Bruyn am 1. November 1926 in Berlin-Neukölln als Sohn eines süddeutschen Versandhändlers. Der Familienkatholizismus, so bedrückend ihn de Bruyn manchmal beschrieben hat, war für eines gut: Er gab „aller Staats-Distanzierung den nötigen Rückhalt“. Als im Herbst 1940 die Luftangriffe auf Berlin begannen, ging er mit Jahrgangsgenossen für zehn Monate in ein Kinderlandverschickungsheim im Osten, nach Kattowitz, nur eine Tagesreise von Auschwitz entfernt. 1943 wurde der halbwüchsige Schüler zur Flugabwehr einberufen, 1944 als Soldat rekrutiert. Nach Kriegsende schloss sich de Bruyn den Vertriebenentrecks an und kam auf Umwegen nach Berlin zurück, fast genau zu der Stunde, als sich im Cecilienhof die Siegermächte zur Potsdamer Konferenz einfanden. Solche Koinzidenzen von persönlichen und politischen Daten treten in de Bruyns Biographie oftmals auf. Als die DDR gegründet wurde, nahm er – nach dreijährigem Dienst als Schullehrer im Westhavelland – eine Stelle im Zentralinstitut für Bibliothekswesen an. Am 17. Juni 1953 trieb es ihn „Unter den Linden“ in die protestierende Menschenmenge. Und als 1961 die Mauer gebaut wurde, quittierte er seine Bibliotheksstelle, um fortan in Ruhe schreiben zu können.

Mit den eigenen literarischen Anfängen hat sich de Bruyn kritisch auseinandergesetzt. Den ersten Roman Der Hohlweg (1963), ein antifaschistischer Tugendspiegel über die Ankunft in der sozialistischen Gesellschaft, nannte er später einen „Holzweg“. Er scheute sich nicht, den eigenen Mut zu relativieren, die „Selbstentfremdung durch Angst“ und die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit zu thematisieren. Das belegen eindringlich seine Romane. Sie sind Zerrspiegel der sozialistischen Erziehungsdiktatur und zugleich Lehrstücke des freien Denkens. Die Gelehrtensatiren Buridans Esel (1968), Preisverleihung (1972), Märkische Forschungen (1978) und der Demenz-Roman Neue Herrlichkeit (1984) erzählen davon, wie die DDR sein wollte und wie sie hingegen wirklich war: realistische Gesellschaftsromane eines Autors, den man „Fontane der DDR“ nannte. Wie Theodor Fontane leuchtet der Erzähler de Bruyn seiner Gesellschaft mit jener „lichten Selbstironie“ heim, die seinen Figuren, die ihre Sorgen mit Tabletten betäuben und ihre Hoffnungen mit honorierten Gefälligkeiten nähren, fehlt.

Der Roman Preisverleihung erzählt davon auf wahrhaft modellhafte Weise: Ein von der Realismusdoktrin der DDR und dem Bitterfelder Weg überzeugter Universitätsdozent muss einem befreundeten linientreuen Autor die Laudatio halten und scheitert auf kuriose Weise, weil er statt zur Sache nur über sich selbst redet, verquer wie die zwei verschiedenen Schuhe, die er versehentlich angezogen hat. De Bruyns Roman nimmt die Lektion des Stasi-Films Das Leben der Anderen (2006) vorweg: Gegen die „Anderen“, die einen bevormunden, observieren und manipulieren, hilft nur genaues Zuhören und listiges Vorgehen beim Aufschreiben der Wahrheit.

 

„Jubelschreie, Trauergesänge“

 

Als die Mauer fiel, stand Günter de Bruyn auf der Seite der freundlichen Mahner. Zwischen „Jubelschreien, Trauergesängen“ (so auch der Titel seines Essaybandes von 1991) bekannte er sich zu einer Position der deutschen Kulturnation, die sich, so argumentierte er, mit guten Gründen der Freiheit und des Friedens freuen sollte, durch die die Vereinigung des lange geteilten Landes zustande gekommen sei. Einen „Schriftsteller der deutschen Einheit“, so hat Wolfgang Schäuble, damals Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 1996 den Autor bei seiner Laudatio im Weimarer Nationaltheater genannt, als de Bruyn dort mit dem zum vierten Mal verliehenen Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet wurde: für seine autobiographischen, essayistischen und erzählenden Werke, die – so die Begründung der Jury – „mit leiser Deutlichkeit, mit Menschenfreundlichkeit und Humor der Freiheit das Wort“ geben.

Günter de Bruyn hat seine kulturpolitische Haltung beglaubigt, indem er seine Autobiographie über seine Jugend in Berlin (Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin, 1992) und seine Zeit in der DDR (Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht, 1996) vorlegte. Umsichtig und klarsichtig schreibt er da über sein Leben in zwei Diktaturen, geht ins Gericht mit falschen Erinnerungen und kreidet mit Jean Paul, über den er eine mehrfach aufgelegte Biographie geschrieben hat, den „Kraftmenschen“ an, dass sie „die Kraft der Wahrheit vermissen lassen, also der Butterblume gleichen, aus welcher, da die Kühe sie nicht fressen, ‚niemals Butter wird‘“.

Die Autobiographie ist das Gelenk, das die Romane der Phase I seines schriftstellerischen Wirkens mit den Preußenbüchern der Phase II verbindet. Seit den 1990er-Jahren hat Günter de Bruyn sich als Erforscher der preußischen Geschichte hervorgetan; er erzählt, was der Historiker Christopher Clark in seinem Buch Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947 (2007) beschreibt: wie Preußen dank seiner Kultur ein europäischer Staat war, bevor er ein deutscher wurde, und wie der preußische Staat seine Geschichte „sozusagen erst beim Erzählen“ gefunden und erfunden hat.

 

Erzähler als Geschichtsforscher

 

De Bruyns Preußische Trilogie (2004) behandelt Schicksale, Bücher und Menschen aus Berlins Kunstepoche um 1800. Es geht um die Prachtallee „Unter den Linden“, um die Adelsfamilie Finckenstein, um die charismatische Preußenkönigin Luise, die dreimal den Dichter Jean Paul traf, der sie ihrer schönen Seele und politischen Güte wegen verehrte, ihr ein Festspiel, ein Romanmotto und, als sie 1810 starb, einen berührenden Nachruf widmete.

Als Fortsetzung der Trilogie ist 2010 der Band Die Zeit der schweren Not erschienen. Hier versammelt de Bruyn Schicksale aus dem Kulturleben Berlins Anfang des 19. Jahrhunderts, und das mit Augenmaß: Der Erzähler als Geschichtsforscher hält Kurs zwischen Reformgeist und preußischem Patriotismus, sympathisiert jedoch mit der äußerst lebendigen Kulturszene der Zeit. Ihn faszinieren der Philosoph Friedrich Schleiermacher, der Germanist Wilhelm Grimm, der mit Goethe befreundete Singakademieleiter Carl Friedrich Zelter, der Bildungspolitiker Wilhelm von Humboldt, der für die Freiheit von Lehre und Forschung eintrat, die Tischgesellschaften und Salons Rahel Varnhagen von Enses und Figuren wie Bettine von Arnim, die sich im Morgenrock in den Berliner Straßen herumtrieb, den älteren Kollegen Ludwig Tieck in dessen Schlafzimmer aufsuchte und mit ihren „Gedankenund Körpersprüngen“ verschreckte. Achim von Arnim kam zur Trauung mit der katholischen Bettine fast zu spät, weil ihn der Küster versetzt hatte, woraufhin der ratlose Bräutigam durch das protestantische Berlin lief und jeden, der einem Küster ähnlich sah, ansprach.

Neben der preußischen Geschichte geht es im Spätwerk de Bruyns immer wieder um märkische Landschaften. Der Fotound Textband Mein Brandenburg (1993) ist ein Bekenntnis des Autors zu seiner Herkunftsheimat. In der Tradition von Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862) betrachtet er die Seen und Heiden, die Rittergüter und Dörfer, notiert die Umweltschäden und erinnert an Geschichtsvergessenheiten: Märkisch sind die „Heide, der Sand und der Sumpf, die westlichen Tore Berlins und Potsdams dagegen heißen Brandenburger und nicht märkische Tore, weil durch sie hindurch mußte, wer in die Stadt Brandenburg wollte“.

Abseits, so der sprechende Titel seines Buches von 2005, vom Kulturbetrieb forschte und schrieb der Autor in einem brandenburgischen Dorf, wo er seit 1967 lebte, getreu der Maxime des von ihm geschätzten Chamisso: „in dieser rasenden Zeit zieh’ ich mich in Demut zurück.“

 

Verteidigung der künstlerischen Freiheit

 

Sicherheit, Freiheit und Frieden im Staate sind auf Literatur begründet. Dessen hat uns Günter de Bruyn in seinen Romanen und Geschichtserzählungen intensiv vergewissert. Der bleibende Wert dieser Werke liegt in ihrer Geschichtsgenauigkeit, ihrer politischen Unerschrockenheit und ihrer milden Ironie, vor allem aber in der Verteidigung der künstlerischen Freiheit. Günter de Bruyn hat im Gesellschaftsroman der DDR den deutschen Zeitroman, in der brandenburgischen Landschaft Geschichten von Heimat und Herkunft – und in der preußischen Geschichte eine europäische Erzählung entdeckt.

Mit seinem letzten Buch ist Günter de Bruyn wieder zum Roman zurückgekehrt. Der neunzigste Geburtstag (2018) spielt im August 2015, also mitten im Jahr der Willkommenskultur. Hedwig Leydenfrost feiert in der märkischen Provinz ihren 89. Geburtstag, und die Familie überlegt, was man an ihrem 90. anfangen kann. Vielleicht eine Spendenaktion für Flüchtlinge? Das würde Hedwig bestimmt gefallen: Weil sie schon früher, als Wortführerin der Außerparlamentarischen Opposition, „verlangt hatte, möglichst viele Fremde ins Land zu holen, um die deutsche Kultur zu einer globalen, also weniger deutschen werden zu lassen“, fühlt sie sich jetzt – anders als ihr Bruder – „verpflichtet, die von der Kanzlerin geforderte Freude über die ungeregelte Ankunft der vielen Kriegsund Armutsflüchtlinge mitzuempfinden, obwohl ihr dabei das eigentlich doch auf Opposition getrimmte Gewissen schlug“. Der Roman erzählt von einem langen Leben im kurzen 20. Jahrhundert und den Lektionen aus der Geschichte für die Gegenwart; es geht um Glauben und Gewissensnot, Fortschrittsangst und Mut zu Altbewährtem, die Grenzen des Genderns und die Schönheit der deutschen Sprache, alles in einem gelassenen Ton wie bei Fontane, in dem sich Idylle und Zeitkritik nicht ausschließen. Kurzum: „Als Poesie gut“.

 

Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Leiter Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung und außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln.

 

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