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Wie Sachsen vorgeht

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In Deutschland ist seit der Unterzeichnung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein Prozess in Bewegung geraten, dessen Dynamik und Ausprägung so vielfältig ist wie die Bundesländer selbst. Bemerkenswert ist dabei, dass sich die öffentliche Diskussion um die Konvention im Wesentlichen auf Bildung und Schule konzentriert. Wie so oft beim Thema Bildung folgten die anfangs eingeschlagenen Wege nicht selten ideologischen Wunschvorstellungen und weniger sachlichen Überlegungen. Mit der Inklusion müsse ein Systemwechsel einhergehen, eine Auflösung der Sonder- oder Förderschulen sei unumgänglich, forderten nicht wenige. Ob mit oder ohne Handicap, alle Kinder und Jugendlichen müssten in Regelschulen gemeinsam unterrichtet werden. So wurden Schulgesetze in aller Eile novelliert und Förderschulen abgeschafft. Nach dem Voranpreschen kehrt nun zunehmend Ernüchterung ein. Die Verunsicherung ist groß, Probleme häufen sich. Lehrer an Regelschulen sehen sich angesichts der wachsenden Zahl von Integrationsschülern überfordert. Eltern fürchten um die Lernfortschritte ihrer Kinder. Kommunen lehnen es ab, die Folgekosten für inklusive Unterrichtung zu tragen. Es scheint, als habe die anfängliche Eile in der Umsetzung dem Grundanliegen der Inklusion, gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, mehr geschadet als genutzt. In dieser Situation ist jeder gut beraten, den Blick auf diejenigen zu richten, um die es eigentlich geht: die Menschen mit Behinderung.

Kinder und Jugendliche mit Handicap wissen, wie schwer es ist, anders zu sein als andere. Sie spüren und erfahren fast täglich, dass nicht immer alles reibungslos läuft. Menschen mit Behinderung wollen mehr Normalität erleben und wünschen sich, dass in der breiten Öffentlichkeit ein Bewusstsein für ihre Lebenssituation und ihre vielfältigen Fähigkeiten entwickelt wird. Aus gutem Grund besteht ein zentrales Anliegen der UN-Behindertenrechtskonvention darin, einen Bildungsanspruch für Kinder mit Handicap zu garantieren. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um das Menschenrecht auf gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Deshalb sind die Erwartungen groß, dass mit der Umsetzung der UN-Konvention Barrieren abgebaut werden. Die Behindertenrechtskonvention setzt auf das gemeinsame Leben von Menschen mit und ohne Behinderung. Damit wird die Umsetzung zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, muss der Gedanke der Inklusion die Köpfe und vor allem die Herzen auch der Menschen ohne Behinderung erreichen. Ebenso wenig, wie man Akzeptanz verordnen kann, ist es möglich, das Bildungsideal Inklusion anzuweisen. Inklusion muss wachsen.

 

Vielfalt der Förderorte

Für die Schule heißt das, dass alle beteiligten Schüler, Lehrer, Eltern, Verbände, Vereine sowie Schulträger, verantwortliche Behörden und Institutionen einbezogen und mitgenommen werden müssen. Denn Inklusion beginnt im frühkindlichen Bereich und geht weit über die schulische Bildung hinaus. Das Ziel einer inklusiven Schule ist richtig, doch als Weg kann Inklusion auch falsch sein. Sie ist dann falsch, wenn sie um jeden Preis in den Regelschulen durchgesetzt werden soll und bestimmten Kindern gar schadet. Der Verzicht auf die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs, namentlich in den Förderschwerpunkten Lernen, emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache, wird von einigen Ländern als Lösung angesehen, um diese Gruppe von Schülern in die Grundschule einzuschulen. Die Frage ist aber: Kann auch tatsächlich an jeder Grundschule die sonderpädagogische Kompetenz angesiedelt werden, um dem spezifischen Förderbedarf dieser Kinder gerecht zu werden? Oder besteht nicht mit der Forderung nach einer strukturellen Vereinheitlichung die Gefahr, dass die sonderpädagogische Kompetenz auf der Strecke bleibt und letztlich zum Einsparpotenzial wird?

Gewiss kann eine inklusive Unterrichtung von Anfang an sehr gut sein, wenn sie dem Kind nützt. Der Maßstab, mit dem der sonderpädagogische Förderbedarf eines Kindes gemessen wird und nach dem zu entscheiden ist, ob es an einer Regel- oder Förderschule unterrichtet wird, muss immer das Kindeswohl sein. Das kann nur im Einzelfall beurteilt werden. Auch wenn das oft behauptet wird: Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert nicht die Abschaffung der Förderschulen, und das ist gut so. So unterschiedlich die Art der Behinderung ausfallen kann, so vielfältig müssen die schulischen Förderorte sein. Eine solche Vielfalt schafft Wahlmöglichkeiten für Eltern und Schüler, je nach Förderbedarf den geeigneten Lernort zu suchen. „Gerade dadurch, dass niemand mehr zu einer Totalinklusion gezwungen wird, steigen die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen“, schreibt Bernd Ahrbeck in seinem Buch Der Umgang mit Behinderung. Deshalb darf es keinen Automatismus geben – weder bei der Zuordnung in eine Förderschule noch bei der Überweisung in eine Regelschule. Die Unterrichtung eines Kindes mit einer geistigen Beeinträchtigung in einer spezialisierten Förderschule bietet die Chance, das Kind in einem geschützten Raum gezielt und intensiv zu fördern. Und gerade hier steht die Entwicklung von Kompetenzen zur praktischen Lebensbewältigung in einer ganz anderen Weise im Fokus als etwa am Gymnasium. Demgegenüber führt in anderen Fällen erst der Besuch einer Regelschule zu der Normalität und gesellschaftlichen Teilhabe, die Kinder und Jugendliche mit Handicap wünschen und brauchen.

 

Unterstützung der Lehrer

Inklusion ist ein Anspruch, dem sich auch Lehrer stellen. Doch dem Kindeswohl können sie nur dann gerecht werden, wenn sie dabei nicht überfordert werden. Lehrer haben bereits ohne Inklusion in Klassenzimmern eine überaus anspruchsvolle Aufgabe zu bewältigen. Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Schüler werden heterogener, Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern immer häufiger.

Lehrkräfte bedürfen der Unterstützung und Fortbildung auf dem Weg zur inklusiven Schule – einem Weg, der noch dazu viel Geld kostet. Der Bildungsökonom Klaus Klemm hat in einer Studie festgestellt, dass die Umsetzung der Inklusion in den Schulen in Deutschland einen Mehraufwand von rund 660 Millionen Euro im Jahr bedeutet. Auch wenn Klemm dabei von einem totalinklusiven Ansatz ausgeht, ist unbestreitbar, dass die Inklusion hohe Kosten verursacht. Es werden mehr Sonderpädagogen benötigt, die an Regelschulen unterrichten und von den Bundesländern bezahlt werden müssen. Die Lehrer aller Schularten müssen in Bezug auf den Erwerb von sonderpädagogischem Grundwissen qualifiziert werden. Hinzu kommt ein Mehraufwand für Um- und Neubauten, Schülerbeförderung, Lehrmittel und für unterstützende Maßnahmen wie etwa Integrationshilfen. Ein Konsens darüber, wer für die enormen Summen aufkommt, ist in weiter Ferne.

Die Komplexität der Probleme macht deutlich, wie steinig und schwer der Weg ist. Umso wichtiger ist es, die UN-Behindertenrechtskonvention schrittweise und mit Augenmaß umzusetzen. Sachsen hat dafür einen Aktions- und Maßnahmenplan erarbeitet.

 

Enormer Aufholprozess

Der Freistaat mit seinen knapp vier Millionen Einwohnern hat fast 380.000 Schüler an knapp 1.400 allgemeinbildenden Schulen in öffentlicher Trägerschaft. Der Integrationsanteil liegt bei gut 28 Prozent nach lediglich rund sechs Prozent vor etwas mehr als zehn Jahren. Während 18.500 Schüler mit Handicaps an den 158 Förderschulen des Landes unterrichtet werden, besuchen mittlerweile rund 7.300 Integrationsschüler die allgemeinbildenden Regelschulen. Da sie übers ganze Land verteilt sind, leisten circa 85 Prozent aller Schulen Integrationsarbeit. Hinter den nackten Zahlen verbirgt sich ein enormer Aufholprozess, um den Zielen der UN-Konvention Rechnung zu tragen.

Gemeinsamer Unterricht lässt sich zudem nicht an jeder Schule in der gleichen Art und Weise einrichten. Dabei muss den spezifischen Anforderungen der unterschiedlichen Schularten und auch regionalen Besonderheiten Rechnung getragen werden. Sachsen hat deshalb vier Modellregionen eingerichtet, in denen seit dem Schuljahr 2012/13 Inklusion von der Kita bis zur Berufsbildung in einem Schulversuch mit wissenschaftlicher Begleitung erprobt wird. 22 Schulen und 123 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind daran beteiligt. In den Regionen werden Maßnahmen zur optimalen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung entwickelt. Hier wird die lernzieldifferente Integration in der Sekundarstufe I erprobt und werden regionale Kooperationsstrukturen von Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen aufgebaut. Die Erfahrungen, die dabei gemacht werden, sollen helfen, die Inklusion in den nächsten Jahren schrittweise in ganz Sachsen Wirklichkeit werden zu lassen.

Ohne Zweifel ist das Ziel, mehr Kinder mit und ohne Handicap gemeinsam zu unterrichten, erstrebenswert. Doch der Weg dorthin wird ein sehr langwieriger sein und allen Beteiligten viel Geduld abverlangen. Für die einen wird der Prozess zu langsam verlaufen, andere werden sich von der Entwicklung überrollt sehen. Die erfolgreiche Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention steht und fällt mit dem Maß an Akzeptanz für das Projekt und an Verständnis füreinander. Ein ideologisch geprägter und realitätsferner Blick verstellt die Sicht auf das Machbare. Im Mittelpunkt aller Richtungsentscheidungen sollte immer die Frage stehen: Was ist das Beste für das Kind? Nur dann kann Inklusion gelingen.

 

Brunhild Kurth, geboren 1954 in Burgstädt, Sächsische Staatsministerin für Kultus.

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