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StanHema (Gestaltung)
by Rafael Laguna de la Vera
by Thomas Ramge

Der unternehmerische Staat als Wegbereiter für Sprunginnovationen

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Die Innovationsagentur DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten von Amerika hat einen Wettbewerbsvorteil, den vermutlich keine andere Forschungsförderinstitution der Welt auch nur annähernd in vergleichbarem Umfang bieten kann: die Einkaufsmacht des US-Militärs. Die seit Jahrzehnten eingeübte Praxis am Übergang vom Prototyp zur Serie gestaltet sich dort, etwas grobkörnig dargestellt, wie folgt: Wenn ein DARPA-gefördertes Start-up einen neuen Laser oder ein neues Material mit Tarnkappeneigenschaften bis zur Vorserienreife entwickelt hat, dann bestellen die US Army, die US Navy oder die US Air Force eine ansehnliche Menge davon. Die Bestellung erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem der Besteller noch nicht zu einhundert Prozent sicher sein kann, dass das junge Hightech-Unternehmen tatsächlich das Produkt zum vereinbarten Zeitpunkt in der definierten Qualität liefern kann. Das ist auch für den Liefernden kein Problem, denn der Kaufvertrag sieht vor, dass genau das passieren kann. Die Beschaffer des Militärs gehen mit ins Risiko, denn die DARPA-Praxis der letzten Jahrzehnte hat gezeigt: Erstens wird der Entwicklungsprozess deutlich beschleunigt, wenn der Kunde den Auftrag erteilt hat. Zweitens sind die Ausfallquoten bei Weitem nicht so hoch, wie skeptische Kaufleute vermuten würden.

 

Überleben im „Tal des Todes“

 

Der erste Volumenauftrag schafft für den Lieferanten nicht nur Planungssicherheit – er erhöht auch die Motivation in den Entwicklungsteams und ermöglicht oft, mit einem ersten militärischen Lead-Kunden die Technologie zu dem notwendigen technischen Reifegrad so zu entwickeln und zu vergünstigen, dass sie auch für eine breitere Kundschaft im zivilen Sektor interessant wird. Private Investoren lieben dieses Doppelpack: Finanzierung der vorkommerziellen, riskanten Produktentwicklung durch die DARPA und ein gefülltes Auftragsbuch sind Wasser auf die Excel-Mühlen der Investmentmanager. Und so gewinnt die Technologie genau den Schwung, den sie zum Übergang in die kommerzielle Verwertung braucht.

Wir Deutschen fremdeln mit dem Ansatz, militärische und zivile Innovation parallel zu denken. Das hat viele Gründe, darunter historische, und die Bundesagentur für Sprunginnovationen ist auch sehr bewusst ohne Anbindung an die Bundeswehr gegründet worden. In unserem kulturellen Kontext ist diese Trennung sinnvoll, denn die Akzeptanz einer Innovationsagentur würde darunter stark leiden. Natürlich lässt sich auch die komfortable Situation der DARPA mit einem Stammkunden mit nahezu unbegrenzten finanziellen Möglichkeiten und sehr geringer Preissensitivität auf Europa ohnehin lediglich bedingt übertragen. Das sollte uns aber nicht daran hindern, anzuerkennen, wie hilfreich es für Sprunginnovationen ist, wenn staatliche Institutionen radikale Innovation nicht nur als Förderaufgabe begreifen, sondern direkt als Abnehmer in hochinnovative Anwendungen investieren – und zwar nicht nur in militärische. Denn dann überleben Innovationen öfter das sogenannte „Tal des Todes“. Die etwas martialische Metapher beschreibt die Phase, in der zwar erkennbar wird, dass aus einer Idee eine Sprunginnovation werden kann, Investoren jedoch zögern, weil noch keine Kunden in Sicht sind und der Weg zum marktreifen Produkt immer länger ist als erhofft. Für sinnvolle Praktiken innovationsorientierter Beschaffung müssen wir auch nicht zwingend in die USA oder nach China schauen, wo der Staat als Abnehmer von Hochtechnologie entlang seiner Hightech-Strategien zum Geburtshelfer ganzer Industrien wird.

Der französische Staat bestellt in großem Stil bei französischen Anbietern Cloud-Dienstleistungen, die noch in der Entwicklungsphase sind, und zwar sowohl bei digitalen Start-ups wie New Vector als auch bei Industriekonsortien wie Dassault Systèmes und OVHcloud mit einer Government-Cloud. Der finnische Staat erteilte 2020 dem deutsch-finnischen Quanten-Start-up IQM einen Auftrag im Wert von zwanzig Millionen Euro für ein Produkt, das es überhaupt noch nicht gab: einen Quantencomputer, der mit Unterstützung des Bundesforschungsministeriums nun auch in die Höchstleistungsrechner-Infrastruktur am Leibniz-Rechenzentrum integriert wird. Beim deutschen, von Künstlicher Intelligenz (KI) gestützten Übersetzungsdienst DeepL war es die schweizerische Bundesverwaltung, die sehr früh einen Großauftrag erteilte und sich auch gern als Referenzkunde nennen ließ, was DeepL beim Marketing nutzte. Auffällig ist in Deutschland, dass ähnlich wie in der staatlichen Forschungsförderung auch bei der staatlichen Beschaffung eher Kontrolle, Vorsicht und Absicherung die Entscheidungsprozesse dominieren, Vertrauensvorschuss mit dem Ziel der Innovationsermöglichung und -beschleunigung jedoch nur selten eine harte Währung ist.

Ob bei Cybersecurity für die Bundeswehr, Prognoseanwendungen des Maschinellen Lernens für die Bundes- und Finanzverwaltung oder Quantentechnologien für verschlüsselte Kommunikation – der Staat kann in diesen Bereichen als Erstkunde zugleich investieren und als Anwender profitieren. Interessanterweise haben die Europäische Union und das deutsche Wirtschaftsministerium dafür bereits eine Beschaffungsart entwickelt: die „präkommerzielle Auftragsvergabe“ oder das „Pre-Commercial Procurement“. Obwohl es dieses Verfahren seit mehr als zehn Jahren gibt, wird es leider nicht oft genutzt. Die Botschaft ist auch durchaus bei Hightech-interessierten Politikerinnen und Politikern angekommen. Die Jahresgutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) nehmen das Thema immer wieder auf. Unsere Wahrnehmung ist: Das ist schön, allerdings sollte man sprunginnovationsorientierte Beschaffung noch deutlich größer und über digitale Hochtechnologie hinaus denken.

 

Aufträge statt Fördermittelchen

 

Vor der Corona-Pandemie flossen rund 35 Prozent der deutschen Staatsausgaben, jährlich rund 500 Milliarden Euro, in öffentliche Aufträge. Dieser Betrag wird in den kommenden Jahren nochmals steigen. Das ist sehr viel Geld, zum Teil sicher gut in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur angelegt. Aber warum traut sich der Staat nicht einmal, 250.000 Wohnungen zum Preis von 1.800 Euro pro Quadratmeter bei angemessenen Umwelt- und Brandschutzstandards zu bestellen, um diese dann sozialverträglich zu vermieten? In anderen Hochlohnländern lässt sich zu diesem Preis auch Wohnraum schaffen – warum nicht bei uns?

Vielleicht muss man diese Herausforderung Bauinnovatorinnen überlassen, und nicht Baulöwen oder kommunalen Wohnungsbaugesellschaften. Die Grundstücke könnte der innovative Auftragnehmer von Kommunen, Land und Bund günstig erhalten. Oder warum kauft der Bund nicht 100.000 Stromtankstellen? Oder 5.000 Kilometer Autobahn mit kälte- und rissfestem Straßenbelag ohne Mikroplastik, der nicht alle paar Jahre erneuert werden muss, als ob in ihn eine Sollbruchstelle eingebaut sei? Vielleicht mag die öffentliche Hand auch ein paar Hochhäuser oder Brücken ohne Stahlbeton oder ein paar riesige CO2-Fänger bestellen?

„Damit deutsche Start-ups Konzerne werden, brauchen sie keine Fördermittelchen, sondern Aufträge. Wenn Staat und Industrie Vertrauensbeweise erteilen, statt Warnsignale zu setzen, dann wird auch das Finanzierungskapital folgen“, kommentiert die Tech-Expertin des Handelsblatts, Larissa Holzki. Dem können wir uneingeschränkt zustimmen und möchten, bezogen auf innovationsorientierte Beschaffung, ergänzen: Erinnern wir uns an den Sommer 2020. Großbritannien, die USA und Israel erteilten den Unternehmen AstraZeneca, BioNTech/Pfizer und Moderna zügig und unbürokratisch Milliardenaufträge für Impfdosen. Sie bauten keine Absicherungsklauseln für sich ein, sondern entbanden die Hersteller zum großen Teil von der Haftung für eventuelle Nebenwirkungen. Die britischen, amerikanischen und israelischen Beschaffer wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, wie wirksam und sicher die Impfstoffe waren und ob sie jemals zugelassen würden. Die europäische Beschaffungsbürokratie dagegen ging den Beschaffungsprozess mit gewohnter Absicherungsmentalität an. Das Ergebnis dieser innovationsfeindlichen und kurzsichtigen Risikominimierungsstrategie der Europäischen Kommission hat Europa, wie wir alle heute wissen, sehr teuer bezahlt.

Ein unternehmerischer Staat kann Wegbereiter für radikale Innovationen sein. Aus drei Gründen kann er diese Rolle besser einnehmen als der Markt:

Erstens hat der Staat weitaus geringere Kapitalkosten als private Investoren. Der Unterschied wird umso größer, je risikoreicher die Investition in Innovation ist. In mittlerer Zeitperspektive von bis zu zehn Jahren kann der deutsche Staat heute realistischerweise Kapital zu einer Zinslast von zwei bis drei Prozent investieren. Risikokapitalanleger fordern mindestens zehn Prozent und zusätzliche „Hebel“, wenn sie denn überhaupt bereit sind, ausreichend langfristig ihr Kapital einzusetzen. Zweitens benötigen echte Sprunginnovationen meist eine Entwicklungszeit, die sich nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten misst. Nur der Staat hat hier das Durchhaltevermögen, und nur er kann helfen, dass Unternehmen es entwickeln.

 

Rückflussmodell als Annährungsformel

 

Der mit Abstand wichtigste Unterschied bei der Investition in Sprunginnovation zwischen Staat und Kapitalmarkt ist aber drittens das Rückflussmodell. Der Kapitalmarkt kennt hierfür nur eine Größe, nämlich Gewinn, die Vermehrung des investierten Geldes, in möglichst kurzer Zeit. Wenn der unternehmerische Staat zielgerichtet und missionsorientiert in Innovation investiert, kann das auch monetär ein gutes Geschäft sein. Im Juni 2020 beteiligte sich die Bundesrepublik mit 300 Millionen Euro an CureVac. Die Anteile sind heute ein Vielfaches wert, vor allem aufgrund vielversprechender Ansätze für die Krebstherapie. Und klar: Innovative Unternehmen zahlen Steuern, die staatlich umverteilt oder reinvestiert werden können.

Doch die staatlich-gesellschaftlichen Rückflüsse sind eben noch deutlich vielfältiger als jene von Risikokapitalisten. Aus gesellschaftlicher Perspektive bringen sie zusätzlich bessere Bildung und gute Arbeitsplätze. Sie können uns helfen, Umwelt- und Klimaziele zu erreichen und ein insgesamt höheres Wohlstandsniveau zu erzeugen. Und nicht zuletzt kann Innovation zu mehr Teilhabe für alle gesellschaftlichen Gruppen führen und gesellschaftliches Glück mehren.

Dies ist leider nur eine Annäherungsformel. Unseres Wissens gibt es bisher kein umfassendes gesellschaftliches Rückflussmodell, das eine sozioökonomische, quantifizierende Gesamtbetrachtung eines „Return on Investments“ von staatlich finanzierten und induzierten Innovationen ermöglicht. Ein solches Modell zu erstellen, scheint uns ein zwar schwieriges, jedoch durchaus lohnenswertes Unterfangen für die Innovationsforschung der nächsten Jahre zu sein. Inspiration bei Zielen und Methodik könnten sich die Forschenden bei den sozioökonomischen Bilanzen der Investition in Bildung holen. Wir wissen, und dies ist empirisch sauber belegt, dass die Investition in frühkindliche Bildung volkswirtschaftlich eine hohe Rendite einfährt. Politik und Gesellschaft bekämen mit einem solchen Modell eine bessere Vorstellung und eine bessere Begründung, warum sich die Investition in Innovation lohnt.

 

Rafael Laguna de la Vera, geboren 1964 in Leipzig, Softwareunternehmer, 2019 von der Bundesregierung zum Gründungsdirektor der Bundesagentur für Sprunginnovation („SprinD“) berufen.

Thomas Ramge, geboren 1971 in Gießen, Sachbuchautor und Wirtschaftsjournalist, Technologiekorrespondent bei „brand eins“, schreibt unter anderem für „The Economist“, „Harvard Business Review“ sowie „Foreign Affairs“, ausgezeichnet mit zahlreichen Journalistenpreisen.

 

Zuletzt erschien von den Autoren die Publikation Sprunginnovation. Wie wir mit Wissenschaft und Technik die Welt wieder in Balance bekommen, Econ Verlag, Berlin 2021.

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