Im 20. Jahrhundert trat ein neuartiges diktatorisches Herrschaftssystem in die Weltgeschichte. Es behandelte die Beherrschten wie sein Eigentum und versuchte, auch ihr Inneres nach den Maßgaben ideeller Ziele total umzuformen. An die Stelle des denkenden und handelnden Individuums sollte eine kollektive Gleichschaltung im Sinne der Utopie treten. Zur Deutung und begrifflichen Einordnung der neuartigen Phänomene entwickelten die Gesellschaftswissenschaften die Totalitarismustheorie, genauer: verschiedene theoretische Ansätze zur Erklärung des Totalitarismus.
Zu den bekanntesten Ansätzen dieser theoretischen Konzepte gehören Werke wie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft von Hannah Arendt und Franz Leopold Neumanns Behemoth. Doch es gibt weitere bemerkenswerte Studien, die im deutschen Sprachraum zu Unrecht kaum bekannt oder unterwegs in das Vergessen sind. Das ist besonders bedauerlich, wenn es sich um Klassiker der Totalitarismusforschung wie das Buch des deutsch-jüdischen Emigranten Sigmund Neumann Permanente Revolution. Totalitarismus im Zeitalter des internationalen Bürgerkriegs handelt, das 71 Jahre nach seinem Erscheinen in englischer Sprache nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Seine Kernthese besteht in der Behauptung, das wichtigste Ziel des Totalitarismus bestehe darin, die Revolution zu perpetuieren und zu institutionalisieren. Denn nur durch diese Herrschaftspraxis könne der fortdauernde Machterhalt gesichert werden. Und genau darin liegt laut Neumann der eigentliche Unterschied zu den herkömmlichen Tyranneien, die aus der Geschichte überliefert sind. Zu dieser Überzeugung kommt er durch den historischen Vergleich der Diktaturen in Italien, Deutschland und der Sowjetunion. Sein komparatistischer Ansatz setzt Gleichheit nicht voraus, vielmehr ist er an der Entstehung der Phänomene interessiert und auf diese Weise in der Lage, Ähnlichkeiten und Unterschiede kenntlich zu machen. Die historischen Bedingungen für den Aufstieg totalitärer Bewegungen sieht Neumann in den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, der immense soziale, politische und mentale Verwüstungen verursacht habe. Zudem sei vor allem in der jüngeren Generation das Vertrauen in Vernunft und Fortschritt grundlegend erschüttert worden. Dies habe eine „amorphe Masse“ entstehen lassen, die sozial und wirtschaftlich entwurzelt sowie irrational und führungslos gewesen sei. Die grundlegende Ablehnung totalitärer Herrschaftsformen gründet bei Neumann auf der Überzeugung, moderne Diktaturen zielten darauf ab, die Autonomie des Menschen und sein Gefühl für Verantwortung zu zerstören. Als Beleg für diese These kann das mangelnde Schuldgefühl der ehemaligen Täter sowohl des Dritten Reiches als auch der SED-Diktatur gelten.
Experiment oder Wahrheit in der Politik
Mit Jacob Leib Talmons Trilogie Die Geschichte der totalitären Demokratie liegt nun ebenfalls erstmals vollständig in deutscher Sprache ein monumentales Werk über die Totalitarismustheorie vor, das den Vergleich mit den besten seines Fachgebietes nicht zu scheuen braucht. Die Ursprünge totalitärer Entwicklungen sucht der israelische Ideenhistoriker in der Aufklärung, genauer: in der Französischen Revolution. Damals schon wurde deutlich, dass die Demokratie, gekennzeichnet durch Gleichheitsprinzip und Volkssouveränität, eine doppelgesichtige Entwicklung in sich barg: Sie konnte die Freiheit stützenden Ideen und Institutionen verknüpfen oder eine freiheitsvernichtende Wirkung entfalten. Die Anfänge totalitären Denkens verortet Talmon bereits in den radikal-aufklärerischen Strömungen des 18. Jahrhunderts und in dem damit verbundenen politischen Messianismus. Dabei stellt er einen bemerkenswerten Unterschied zu früheren messianischen Bewegungen fest. Während die Vorläufer davon ausgingen, die Zeit der letzten Abrechnungen werde nicht auf Erden, sondern im Jenseits erfolgen, waren die radikalen Aufklärer davon überzeugt, die endgültige Erlösung von allen Übeln könne bereits im Diesseits erreicht werden. Das erkläre, so Talmon, die Unerbittlichkeit der politischen Vollstrecker dieser Ideen.
Nach Talmons Analyse entstanden im 18. Jahrhundert also zwei Modelle der Demokratie: ein empirischer und liberaler Typus einerseits und ein totalitärer, messianischer Typus andererseits. Beide Richtungen unterschieden sich nicht etwa darin, dass die eine „den Wert der Freiheit“ befürworte, die andere diesen dagegen verneine; vielmehr resultiere der Gegensatz aus dem grundsätzlich entgegengesetzten Verständnis von Politik. Während das liberale Demokratiemuster Politik als eine „Sache des Experimentierens“ ansehe, die von Freiwilligkeit und Pragmatismus gekennzeichnet sei, beruhe die „Lehre der totalitären Demokratie auf der Annahme einer alleinigen und ausschließlichen Wahrheit in der Politik“. Genau das erklärt auch ihren Zwangscharakter, der sich in der politischen Praxis totalitärer Systeme beobachten lässt. Eine politische Führung, die im Besitz der Wahrheit ist, muss nicht mit den Bürgern diskutieren, sondern sie erwartet von ihnen die Befolgung ihrer Befehle. Ebenso wie Talmons Werk ist schon 2009 der Band Faschismus – Bolschewismus – Totalitarismus von Richard Löwenthal (herausgegeben von Mike Schmeitzner, Göttingen) in der Reihe „Wege der Totalitarismusforschung“ des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts erschienen. Die Herausgabe dieser Schriften verfolgt das Ziel einer Gesamtschau der Diktaturanalysen von Löwenthal, der vor seiner Gelehrtenlaufbahn viele Jahre als Journalist tätig war.
Wie nur wenige politische Analytiker seiner Zeit hat Löwenthal zukünftige Entwicklungen vorausgesehen. Hier sind insbesondere seine Untersuchungen über den Niedergang des „erschöpften“ sowjetischen Kommunismus und den „islamistischen Fundamentalismus als Ersatzreligion“ zu nennen. In seiner späten Schaffensperiode hat Löwenthal ein Totalitarismusmodell entworfen, das durch vier Institutionen gekennzeichnet ist: ein Parteimonopol mit Initiativmonopol an der Spitze bei gleichzeitigem Verbot von Fraktionsbildungen, ein Organisationsmonopol, das der Partei die Kontrolle aller anderen Organisationen ermöglicht, ein Informationsmonopol zur Kontrolle der Meinungsbildung sowie die Abwesenheit rechtlicher Beschränkungen der Staatsgewalt, die die Möglichkeit staatlichen Terrors einschloss.
Mahlsteine der Diktatur
Was es heißt, mit und unter Weltanschauungsdiktaturen zu leben, zeigen zwei weitere Bücher, die sich der existenziellen Erfahrung in der totalitär ausgerichteten Welt widmen.
Zu erwähnen ist hier ein Mann, der, im Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg geboren, Jungkommunist in der Weimarer Republik war, Wehrmachtssoldat, Workuta-Häftling und zuletzt Bundesbürger. Sein Name: Erwin Jöris. Der Hundertjährige lebt heute als einer der letzten Zeitzeugen der politischen Extreme des 20. Jahrhunderts in Köln. Der Berliner Historiker Andreas Petersen hat sein Leben aufgeschrieben. Dabei stützte Petersen sich nicht nur auf zahlreiche Gespräche. Vielmehr überprüfte Petersen die Kernaussagen anhand der Fachliteratur, forschte in deutschen und russischen Archiven und ordnete die Fakten in den geschichtlichen Horizont ein. Zu lesen ist nun die mitreißend erzählte Geschichte eines einfachen Mannes, der eine gerechtere Gesellschaft wollte, Kommunist wurde und zwischen den Mahlsteinen der beiden großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts fast zerrieben wurde.
Erwin Jöris kommt 1912 in Berlin-Lichtenberg als Sohn eines Maschinenschlossers zur Welt. Sein Vater, ein Spartakist, kämpft für eine Räterepublik. Der Sechsjährige sieht aus dem Fenster der elterlichen Wohnung den langen Trauerzug für die ermordeten Kommunisten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Damals werden sie seine Vorbilder.
Noch während seiner Tischlerlehre tritt er dem Kommunistischen Jugendverband bei und wird Straßenkämpfer. Nach der Machtübernahme der Nazis muss er um sein Leben bangen, er wird verhaftet und kommt ins KZ Sonnenburg bei Küstrin (heute Polen), wo er Carl von Ossietzky und Erich Mühsam begegnet. Kaum aus der Haft entlassen, stellt er entsetzt fest, dass die Mehrheit seiner ehemaligen Kampfgenossen nun hinter der Hakenkreuzfahne hermarschiert. Von der KPD wird Jöris in die Sowjetunion beordert. Dort staunt er über die ärmlichen Lebensbedingungen russischer Arbeiter und erlebt die Zeit der großen stalinistischen Säuberungen. Wegen angeblicher trotzkistischer Ansichten und Spionage für die Gestapo wird Jöris verhaftet, kommt in das berüchtigte NKWD-Gefängnis Lubjanka nach Moskau und wird überraschend in das Deutsche Reich abgeschoben, wo er sogleich im Gefängnis landet. Den Nazis gilt er als vom Kommunismus geheilt und wird wenig später entlassen. Kurze Zeit später muss Jöris als Sanitätssoldat in einen Krieg ziehen, den er immer verhindern wollte. Schwer verwundet schleppt er sich in ein sowjetisches Gefangenenlager. 1946 kehrt er nach Berlin-Lichtenberg zurück. Er wird KPD-Mitglied und als solches zwar später SED-Genosse, doch er will sich den Apparatschiks wie Walter Ulbricht nicht fügen und kritisiert die rasche Integration alter Nazis in die Sozialistische Einheitspartei. Zudem spricht er offen von den stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion. Das bringt ihn 1950 in das berüchtigte sowjetische Straflager Workuta. Das Urteil lautet: 25 Jahre Zwangsarbeit. Nach Stalins Tod und Adenauers Verhandlungen ist er 1955 wieder zu Hause in Ost-Berlin. Aus Angst, noch einmal verhaftet zu werden, setzt sich Jöris zusammen mit seiner Frau in den Westen ab und lebt dort ein bescheidenes Arbeiterleben.
„Grelle Blitze in das Gedächtnis“
Wie schwierig es sein konnte, ein freies und künstlerisch selbstbestimmtes Leben in der DDR zu führen, zeigt das Beispiel der Schriftsteller-Existenz von Günter Ullmann aus Greiz in Thüringen, jener alten Residenzstadt, aus der bereits 1977 der heute bei Passau lebende Schriftsteller Reiner Kunze und seine Familie durch unerträgliche Schikanen vertrieben wurden. Ullmann erlitt ein verwandtes Schicksal. Im SED-Staat aufgrund staatlich organisierter Repression zum Schweigen verurteilt, konnte er erst nach dem Ende der DDR mit seiner Kunst öffentlich in Erscheinung treten. Mehr als zwei Dutzend Bücher erschienen. Darunter sind Gedichte, Epigramme, Prosaminiaturen und Geschichten für Kinder. Nun hat der Thüringer Autor Udo Scheer das Leben dieses Widerständigen in einer einfühlsamen und spannenden Biografie beschrieben. 1946 in die Sowjetische Besatzungszone hineingeboren, gerät Ullmann aufgrund seines Gerechtigkeitssinnes und seines kritischen Verstandes schon früh in Konflikt mit der staatstragenden Macht der SED-Diktatur und ihren Vertretern. Bereits als Jugendlicher beginnt er zu schreiben, wird Schlagzeuger, Komponist und Sänger in einer Beatgruppe, die prompt wegen „sozialismusfremden, englischen Gesangs“ verboten wird. Nachdem er sich aus Protest gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR tschechische Fähnchen ans Revers geheftet hat, wird er 1968 zusammen mit Freunden verhaftet. Seine Unterstützung der „Staatsfeinde“ Reiner Kunze, Wolf Biermann und Jürgen Fuchs bringt ihm Verhöre durch die Staatssicherheit ein. Ullmann wird „operativ bearbeitet“. Dabei verwirren ihn die Vernehmer, indem sie ihn mit seinen intimsten Gedanken konfrontieren – und treiben ihn damit zur Verzweiflung. Ullmann wird seelisch krank. Nicht im Traum wäre er darauf gekommen, dass ihn sein Freund Manfred Otto Ibrahim Böhme alias IM „Paul Bonkraz“ verraten hat, wie sich nach Sichtung der MfS-Akten herausstellt. Eher noch verdächtigte er seine unschuldige Ehefrau. In dieser ausweglosen Situation bleiben Ullmann nur Resignation und Ohnmacht. Doch im inneren Kampf entwickelt sich auch seine poetische Kreativität. Durch die Auseinandersetzung mit dem Überwachungsstaat entsteht sein ungewöhnlicher Stil, der sich dadurch auszeichnet, dass er Bilder und Aussagen auf das Elementarste reduziert. Neben kurzer Prosa verfasst er vor allem Gedichte und Epigramme, „die sich wie grelle Blitze in das Gedächtnis brennen“, schreibt Scheer, der mit dieser Lebens- und Zeitbeschreibung der deutschen Literaturgeschichte ein bemerkenswertes Kapitel hinzugefügt hat.
Veröffentlichen darf Ullmann in der DDR nichts. Bis zum Mauerfall verfasst er vierzehn Manuskripte für die Schublade. Zugleich versehrt und befreit, entfaltet er nach dem Ende der DDR eine ungeheure Produktivität. Überraschend stirbt er im Jahr 2009 an Krebs. Im Rückblick auf sein Leben sagte Ullmann: „Ich konnte nur so sein, wie ich bin. Dichtung kennt keinen Kompromiss.“